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Aufsichtspflicht über Bewohner eines Altenheims

LANDGERICHT PADERBORN

Az.: 3 O 38/01

Verkündet am 21.06.2001


In dem Rechtsstreit die Evangelische Kirchengemeinde hat die 3. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2001 für Recht erkannt:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin macht wegen eines Unfalls der bei ihr sozialversicherten Frau X Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte geltend.

Die im Jahre, 1916 geborene Versicherte ist Bewohnerin des Altenzentrums dessen Trägerin die Beklagte ist. Seit 1998 ist die Versicherte gehbehindert. Sie leidet weiterhin unter plötzlichen Schwindelanfällen, Beeinträchtigungen des Seh- und Hörvermögens sowie einer fortgeschrittenen Demenz.

Am 27.08.1999 verließ die Versicherte in Begleitung einer Besucherin das Altenzentrum. Nach wenigen Metern kam die Versicherte infolge eines Schwindelanfalls zu Fall und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch. Durch die Heilbehandlung entstanden der Klägerin Aufwendungen in Höhe der Klageforderung. Mit Schreiben vom 14.04.2000 unter Fristsetzung bis zum 15.05.20.00 forderte sie die Haftpflichtversicherung der Beklagten erfolglos zur Regulierung des Schadens auf.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Beklagte habe die ihr aus dem Heimbetreuungsvertrag obliegenden Aufsichts- und Betreuungspflichten verletzt. Die Beklagte habe die Versicherte nicht ohne Begleitung einer Pflegekraft spazieren gehen lassen dürfen bzw. die Versicherte am Verlassen des Pflegeheimes hindern müssen. Insoweit habe die Pflicht bestanden, in ausreichendem Maße Pflegepersonal bereitzustellen und die- pflegebedürftige Heimbewohnerin aufmerksam zu beobachten: Die Beklagte habe es unterlassen, durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, daß alte und pflegebedürftige Heimbewohner nicht unbeobachtet das Gelände des Altenzentrums verließen.

Sie beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 11.731,01 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 15.05.2000 zu zahlen.

Festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin jeden weiteren materiellen Schäden zu ersetzen, der aufgrund des Unfalls, der Frau X am 27.08.1999 entstanden ist und noch entstehen wird.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie trägt vor, die Versicherte habe die Pflegekräfte nicht davon in Kenntnis gesetzt, daß sie das Pflegeheim verlassen wolle. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte wegen fehlender personeller Ressourcen keine Begleitperson abgestellt werden können. Eine ständige und lückenlose Beaufsichtigung sei nicht möglich. Sie, die Beklagte, sei hierzu auch nicht verpflichtet. Vielmehr habe sie der Versicherten die Führung eines selbstbestimmten Lebens ermöglichen müssen. Insbesondere habe mangels richterlicher Anordnung keine Berechtigung bestanden, die Versicherte festzuhalten. Im übrigen wäre der Unfall auch in Gegenwart einer Begleitperson geschehen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz, weder aus § 823 Abs. 1 BGB noch aus einer positiven Vertragsverletzung des Heimbetreuungsvertrages, jeweils in Verbindung mit § 116 Abs. 1 SGB X. Bereits nach dem Vortrag der Klägerin ist eine Pflichtverletzung durch die Beklagte nicht zu erkennen. Es kann im Ergebnis offen bleiben, ob die Versicherte das Heimgelände in Kenntnis der Pflegebediensteten der Beklagten oder unbeobachtet verließ. In keinem der beiden Fälle wäre der Beklagten ein Verstoß gegen die ihr obliegenden Pflichten vorzuwerfen. Aus dem Heimbetreuungsvertrag ergab sich für die Beklagte weder das Recht noch die Pflicht., die Heimbewohner ständig und lückenlos zu überwachen und sie im Falle einer möglichen Eigengefährdung am Verlassen des Heims zu hindern. Selbst wenn man mit der Klägerin davon ausginge, die Pflegebediensteten der Beklagten seien darüber informiert gewesen, daß die Versicherte das Heimgelände verließ, ergäbe sich hieraus keine Pflichtverletzung, die einen Schadensersatzanspruch der Versicherten begründen könnte. Auch in diesem Fall hätte für die Pflegebediensteten keine rechtliche Möglichkeit und dementsprechend auch keine Verpflichtung bestanden, die Versicherte an ihrem Vorhaben zu hindern.

Zwar erwächst der Beklagten aus dem Heimbetreuungsvertrag die Nebenpflicht, die pflegebedürftigen Heimbewohner sachgerecht zu beaufsichtigen, zu betreuen und einer Gefährdung der Bewohner entgegenzuwirken. Diese Schutzpflichten bestehen jedoch nur im Rahmen des Erforderlichen und Zumutbaren. Wegen der Zumutbarkeit sind in gleicher Weise Belange des Heimträgers wie auch solche des Heimbewohners zu berücksichtigen. Hiernach sind Schutzpflichten zum einen auf solche Maßnahmen zu begrenzen, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Zum anderen findet die Betreuungspflicht ihre Grenze im grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht des jeweils Betroffenen, das nicht erst durch freiheitsentziehende Maßnahmen, sondern bereits durch eine weitgehende Überwachung und Einflußnahme auf die Bewegungsfreiheit verletzt sein kann.

Im Rahmen einer hier vorzunehmenden Abwägung zwischen der Fürsorgepflicht des Heimträgers einerseits und der gebotenen Beachtung grundrechtlich geschützter Belange der Heimbewohner, namentlich des Freiheitsrechts, des Persönlichkeitsrechts und des Rechts auf Selbstbestimmung der Heimbewohner war zunächst zu berücksichtigen, daß derjenige, der stationäre Pflegeleistungen in Anspruch nimmt, sich hierdurch nicht seines Selbstbestimmungsrechts begibt. Vielmehr vermag er grundsätzlich unverändert autonom darüber zu entscheiden, in welchen Fällen und in welchem Umfang er das Pflegeangebot des Heimträgers in Anspruch nimmt. Der Heimträger seinerseits ist aus dem Heimbetreuungsvertrag zunächst nur verpflichtet, je nach Bedürftigkeit und dem ausdrücklich geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen Hilfeleistungen zu erbringen. Um den individuellen Bedürfnissen und Wünschen gerecht werden zu können, hat der Heimträger genügend Personal und geeignete Einrichtungen zur Verfügung zu stellen und insbesondere auch die Pflicht, die Bewohner aufmerksam zu beobachten und notfalls auch auf ihr Verhalten Einfluß zu nehmen. Diese Pflicht reicht aber nicht so weit, daß sie lückenlose Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungen erfordert oder auch nur rechtfertigen könnte. Denn eine solche Überwachung wird in aller Regel mit dem geäußerten oder mutmaßlichen Willen der Heimbewohner nicht in Einklang zu bringen sein. Die Heimträger sind dementsprechend auch nach § 2 SGB XI gehalten, die Pflege so zu gestalten, daß die Betroffenen trotz ihres Pflegebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben führen können, das der Würde des Menschen entspricht.

Nach diesen Grundsätzen war es nicht zu beanstanden, daß die Beklagte davon abgesehen hat, die Heimbewohner im allgemeinen und die Versicherte der Klägerin im besonderen ständig überwachen zu lassen. Es kann zwar aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles, insbesondere bei erhöhter Pflegebedürftigkeit und eindeutigen Hinweise auf eine drohende Fremd- oder insbesondere Selbstgefährdung für den Heimträger angezeigt sein, der gebotenen Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht in besonderen Einzelfällen gegenüber der Achtung des Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechts des Betroffenen Vorrang einzuräumen. Eine lückenlose Überwachung in einem Altenpflegeheim durch personelle und technische Vorkehrungen stellt nach Auffassung der Kammer jedoch einen derart gravierenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde dar, daß eine Berechtigung hierzu und dementsprechend auch eine Verpflichtung nicht angenommen werden kann.

Auch wenn die Pflegebediensteten der Beklagten davon Kenntnis erlangt hätten, daß die Versicherte das Heimgelände verließ und dies nicht verhindert hätten, hätte nach den obigen Ausführungen keine Pflichtverletzung vorgelegen. Denn auch nach dem Vortrag der Klägerin hat die Versicherte weder ausdrücklich um eine pflegerische Begleitung gebeten noch sonst in irgendeiner Form diesen Wunsch zu verstehen gegeben. Hiernach hatte das Gericht davon auszugehen, daß der selbständige Spaziergang in Begleitung einer Besucherin ohne pflegerische Betreuung auf einem autonomen Willensentschluß der Versicherten in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts beruhte. Unter diesen Voraussetzungen bestand eine Begleitungspflicht jedoch nicht. Vielmehr hätten die Pflegebediensteten die Entscheidung der Versicherten, auf ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu vertrauen und das Betreuungsangebot des Heimträgers nicht in Anspruch zu nehmen, respektieren müssen.

Eine weitergehende Verpflichtung der Beklagten, unter Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Versicherten und gegen deren Willen Maßnahmen zu ihrer Sicherheit, gegebenenfalls verbunden mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, zu treffen, hat nach den Umständen ebenfalls nicht bestanden. Vielmehr war die Beklagte zu solchen Maßnahmen nicht berechtigt, da mit Freiheitsentziehung verbundene Maßnahmen nur nach richterlicher Genehmigung zulässig sind. Eine solche lag zum Zeitpunkt des Unfalls unstreitig nicht vor. Aus dem Heimbetreuungsvertrag oblag der Beklagten auch keine Verpflichtung, auf eine solche Genehmigung hinzuwirken. Denn zum Zeitpunkt des Unfalls lagen die Voraussetzungen einer Unterbringung, etwa nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB nicht vor. Hiernach sind freiheitsentziehende Maßnahmen nur zulässig, wenn aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betroffenen die, Gefahr besteht, daß er sich selbst erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.

Anhaltspunkte hierfür haben sich nicht ergeben. Es war ohne Bedeutung, daß wegen der Gehbehinderung, der plötzlichen Schwindelanfälle und der zunehmenden Seh- und Hörbeschwerden die Möglichkeit eines Sturzes und entsprechender Verletzungsfolgen bestand Allein altersbedingte Gebrechlichkeit rechtfertigt nicht zu einer Unterbringung i.S.d. § 1906 BGB bzw. zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Voraussetzung ist vielmehr, daß die erhebliche Selbstgefährdung auf einer geistigen Behinderung oder Krankheit beruht. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, die Versicherte sei in fortgeschrittenem Maße dement, dem Vortrag ist jedoch nicht zu entnehmen, inwieweit die Selbstgefährdung auf der Demenz beruht. Der Sturz jedenfalls beruhte unstreitig auf einem plötzlichen Schwindel- oder Schwächeanfall infolge körperlicher Erschöpfung und nicht auf einer etwaigen geistigen Verwirrung.

Im Ergebnis sind daher bei Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der Versicherten- Verstöße der Beklagten gegen Schutzpflichten aus dem Heimbetreuungsvertrag zu verneinen.

Soweit die Klägerin ihre Rechtsauffassung auf von ihr zitierte Entscheidungen (LG Essen, VersR 2000, S. 893; OLG Dresden, NJW-RR 2000, S. 761) stützen will, ist dem entgegenzuhalten, daß jeweils andere Sachverhalte zugrundelagen. Soweit das OLG Dresden in seiner Entscheidung dem Heimträger die Beweislast dafür auferlegt, daß der Sturz eines Patienten nicht auf dem Fehlverhalten des Pflege- und Betreuungspersonals beruht, war zu berücksichtigen, daß in diesem Fall die Ursache des Sturzes unstreitig allein im vom Heimträger beherrschten Gefahrenbereich lag. Im hier zu entscheidenden Fall hat sich der Sturz jedoch außerhalb des Heimgeländes ereignet. Nach den obigen Ausführungen lag es gerade nicht im Verantwortungsbereich der Beklagten, das Verlassen des Heimgeländes durch selbstbestimmte Heimbewohner zu unterbinden: Im übrigen beruhte eine erhöhte Schutzpflicht der Heimträger in den zitierten Entscheidungen auf hier nicht vorgetragenen Umständen in der Person der Betroffenen. Die Schutzpflichten eines Heimträgers gegenüber einem völlig desorientierten oder einem stark suizidgefährdeten Heimbewohner sind naturgemäß weiterreichend als gegenüber der Versicherten der Klägerin. Nach alledem konnte die Klage keinen Erfolg haben.

V.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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