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Behinderung – Benachteiligung um eine Stelle im öffentlichen Dienst

BUNDESARBEITSGERICHT

Az.: 9 AZR 823/06

Urteil vom 03.04.2007


Leitsätze:

In gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX war schon vor Inkrafttreten des AGG einem öffentlichen Arbeitgeber verwehrt, eine Bewerberin um eine Stelle im öffentlichen Dienst wegen ihrer Behinderung (GdB 40) zu benachteiligen.


Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 9. März 2006 - 5 Sa 1794/05 - aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Entschädigung wegen der Benachteiligung auf Grund einer Behinderung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses.

Die Klägerin leidet an Neurodermitis. Mit Bescheid vom 31. Januar 1994 hatte das Versorgungsamt bei ihr einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 festgestellt. Einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen hat sie nicht gestellt. Von 1995 bis Ende 2003 war die Klägerin in einem Arbeitsverhältnis mit überwiegend stehender Tätigkeit beschäftigt. Während der Dauer dieses Arbeitsverhältnisses war sie wegen ihrer Neurodermitis nicht arbeitsunfähig erkrankt.

Die Klägerin bewarb sich im Oktober 2003 bei der Polizei des beklagten Landes als Angestellte für den Bereich der Parkraumbewirtschaftung. An einem schriftlichen Auswahlverfahren und an einer schriftlichen Prüfung nahm sie mit Erfolg teil. Zur weiteren Bearbeitung ihrer Bewerbung wurde die Klägerin auf Veranlassung des Landespolizeiverwaltungsamtes ärztlich untersucht. Anlässlich dieser Untersuchung legte sie den Bescheid des Versorgungsamtes über den Grad ihrer Behinderung vor. Mit Schreiben vom 1. April 2004 teilte der Polizeipräsident in Berlin der Klägerin mit, dass der Befund ihrer Neurodermitis zur gesundheitlichen Nichteignung für die Tätigkeit in der Parkraumüberwachung geführt habe. Daraufhin lehnte die Einstellungsbehörde des beklagten Landes mit Schreiben vom 6. April 2004 die Einstellung der Klägerin ab, weil sie nach polizeiärztlicher Untersuchung für die Tätigkeit in der Parkraumüberwachung nicht geeignet sei.

Am 22. April 2004 machte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegenüber dem Polizeipräsidenten - Landesverwaltungsamt - schriftlich eine angemessene Entschädigung in Geld wegen einer ungerechtfertigten Benachteiligung auf Grund ihrer Behinderung geltend. Das beklagte Land zahlte eine solche Entschädigung nicht.

Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zahlung einer angemessenen Entschädigung. Obwohl sie auf Grund ihrer Behinderung mit einem GdB von 40 kein schwerbehinderter Mensch iSd. SGB IX sei, sei sie ein behinderter Mensch im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (im Folgenden: Richtlinie). Die Richtlinie sei durch die Bundesrepublik Deutschland nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt worden. Sie könne sich daher zur Anspruchsbegründung auf diese Richtlinie stützen. Der nationale Gesetzgeber hätte den Schutz behinderter Menschen im SGB IX nicht davon abhängig machen dürfen, dass sie entweder schwerbehindert oder auf Antrag schwerbehinderten Menschen gleichgestellt worden seien.

Die bloße Behauptung des ärztlichen Dienstes des beklagten Landes, die Klägerin sei auf Grund ihrer Neurodermitis für die Tätigkeit in der Parkraumüberwachung nicht geeignet, genüge nicht den Anforderungen an die dem beklagten Land obliegende Darlegungs- und Beweislast zur Rechtfertigung der Benachteiligung.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

das beklagte Land zu verurteilen, an sie 12.000,00 Euro nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. Oktober 2004 zu zahlen,

hilfsweise

das beklagte Land zu verurteilen, an sie eine in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädigung nebst Zinsen iHv. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Das beklagte Land hat Klageabweisung beantragt.

Es vertritt die Auffassung, ein Anspruch auf Entschädigung stehe der Klägerin auf Grund des SGB IX nicht zu, weil sie weder ein schwerbehinderter Mensch noch ein diesem gleichgestellter behinderter Mensch sei. Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie scheitere bereits daran, dass der Begriff der Behinderung in dieser nicht definiert sei. Der nationale Gesetzgeber sei berechtigt gewesen, den Schutz der behinderten Menschen im SGB IX auf behinderte Menschen mit einem GdB von wenigstens 50 bzw. auf diesen gleichgestellte behinderte Menschen zu beschränken.

Im Übrigen sei auf Grund der ärztlichen Untersuchung davon auszugehen, dass sich die Einschränkung der körperlichen Beweglichkeit durch die Tätigkeit in der Parkraumüberwachung weiter verschlimmere, so dass die Klägerin ihre Aufgabe künftig nicht mehr wahrnehmen könne. Dies gelte nicht nur deswegen, weil sie verstärkten Umwelt- und Witterungseinflüssen im Straßenverkehr ausgesetzt werde, sondern auch weil sie mit erheblicher Widerstands- und Widerspruchsbereitschaft betroffener Verkehrsteilnehmer zurecht kommen müsse.

Das Arbeitsgericht hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung iHv. 12.000,00 Euro nebst Zinsen verurteilt. Auf die Berufung des beklagten Landes hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter, während das beklagte Land die Zurückweisung der Revision beantragt.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Für eine abschließende Entscheidung des Senats fehlt es an tatsächlichen Feststellungen.

I.

Das Landesarbeitsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Bundesrepublik Deutschland habe die Richtlinie durch die Bestimmung des § 81 Abs. 2 SGB IX bezüglich der Diskriminierung wegen Behinderung umgesetzt. Die Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch nach § 81 Abs. 2 SGB IX in den bis 17. August 2006 geltenden Fassungen lägen nicht vor, da die Klägerin weder schwerbehinderter Mensch iSd. § 81 Abs. 2 SGB IX aF iVm. § 2 Abs. 2 SGB IX sei noch gem. § 2 Abs. 3 iVm. § 68 Abs. 2 SGB IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt worden sei.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

II.

Ein Anspruch der Klägerin auf Entschädigung kann sich auf Grund einer europarechtskonformen Anwendung des § 81 Abs. 2 SGB IX aF ergeben.

1.

Zutreffend geht das Landesarbeitsgericht davon aus, dass die Klägerin die normierten Anspruchsvoraussetzungen in § 81 Abs. 2 SGB IX aF nicht erfüllt. Die Klägerin, bei der ein GdB von 40 festgestellt wurde, ist kein schwerbehinderter Mensch iSd. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF, weil als ein solcher nur eine Person gilt, bei der ein GdB von wenigstens 50 vorliegt, § 2 Abs. 2 SGB IX. Die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen ist auch nicht gem. § 68 Abs. 2 Satz 1 SGB IX durch die Bundesagentur für Arbeit (§ 68 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis 31. Dezember 2003 geltenden Fassung: „durch das Arbeitsamt“) erfolgt.

Dazu fehlt schon der erforderliche Antrag; denn der Antrag des behinderten Menschen auf Gleichstellung ist materiell-rechtliche Voraussetzung für den Erlass des konstitutiven Verwaltungsaktes (vgl. BAG 24. November 2005 - 2 AZR 514/04 - AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 43 = EzA KSchG Krankheit Nr. 51).

2.

Diese gesetzliche Regelung des § 81 Abs. 2 SGB IX aF stellt keine gemeinschaftskonforme Umsetzung der Richtlinie dar.

Der Begriff der Behinderung im Sinne der Richtlinie ist in der Weise zu verstehen, dass hiervon nicht nur schwerbehinderte Menschen und ihnen gleichgestellte iSv. § 81 Abs. 2 SGB IX aF, § 68, § 2 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX erfasst werden. „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie ist vielmehr ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff, der für die gesamte Gemeinschaft autonom und einheitlich auszulegen ist. Der Begriff der Behinderung ist weder in der Richtlinie selbst definiert noch verweist die Richtlinie für die Bestimmung des Begriffs auf das Recht der Mitgliedsstaaten (EuGH 11. Juli 2006 - C-13/05 - AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 3 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 1).

Aus Art. 1 der Richtlinie geht hervor, dass es Zweck der Richtlinie ist, einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen wegen der Behinderung in Beschäftigung und Beruf zu schaffen (EuGH 11. Juli 2006 - C-13/05 - AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 3 = EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2000/78 Nr. 1). In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Behinderung so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet. Dabei unterscheidet sich der Begriff der Behinderung bewusst von dem der „Krankheit“. Beide Begriffe dürfen daher nicht ohne Weiteres gleichgesetzt werden. Damit eine Einschränkung unter den Begriff der Behinderung fällt, muss es wahrscheinlich sein, dass sie von langer Dauer ist (EuGH 11. Juli 2006 - C-13/05 - aaO). Davon geht auch die auf eine internationale Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation zurückgehende Definition der Behinderung in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aus.

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3.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die so verstandene Richtlinie nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt. Das folgt schon aus dem Urteil des EuGH vom 23. Februar 2006 (- C-43/05 - AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 2). Danach hat die Bundesrepublik Deutschland ua. ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie verletzt, indem sie nicht alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die notwendig sind, um der Richtlinie in Bezug auf die „Diskriminierung“ wegen einer „Behinderung“ nachzukommen.

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie enthält die Vorgabe eines Diskriminierungsverbotes für alle Fälle einer Behinderung im Sinne des Gemeinschaftsrechts und nicht nur für Behinderungen, die so schwer sind, dass sie einen bestimmten Grad überschreiten. Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie gilt diese für alle Personen im öffentlichen und privaten Bereich, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die Bedingungen - einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen - für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs. Nach Art. 5 muss der Mitgliedsstaat zudem angemessene Vorkehrungen treffen, dass die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes „für Menschen mit Behinderung“ gewährleistet wird.

Ausdrücklich sieht die Richtlinie einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld nicht vor, wenn eine Person wegen ihrer Behinderung bei der Einstellung diskriminiert wird. Allerdings verlangt Art. 17 Satz 1 der Richtlinie, dass die Mitgliedsstaaten Sanktionen festlegen, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung der Richtlinie zu verhängen sind. Art. 17 Satz 2 der Richtlinie bestimmt, dass die Sanktionen, die auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen können, wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen. Für eine solche Regelung hat sich der deutsche Gesetzgeber entschieden. Er hat in § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 3 SGB IX aF bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses schwerbehinderten und nach § 68 Abs. 3 SGB IX auch gleichgestellten behinderten Bewerbern einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld eingeräumt. Diese Regelung ist für das AGG im Wesentlichen inhaltsgleich in § 15 AGG übernommen worden. Mit der durch das Gesetz vom 14. August 2006 vorgenommenen Neufassung des § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX wird auf diese Bestimmungen verwiesen. Die alte gesetzliche Regelung genügt nicht den Vorgaben der Richtlinie. Art. 1 der Richtlinie nennt als Zweck der Richtlinie die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung. Dieser gemeinschaftsrechtliche Begriff der Behinderung ist nicht auf behinderte Menschen beschränkt, bei denen eine Schwerbehinderung vorliegt (§ 2 Abs. 2 SGB IX: GdB wenigstens 50) oder die diesen gleichgestellt sind, weil nach § 2 Abs. 3 SGB IX der GdB weniger als 50 aber wenigstens 30 beträgt, und die aus arbeitsplatzbezogenen Gründen ihre Gleichstellung beantragt haben. Soweit das Berufungsgericht darauf abgestellt hat, dass der nationale Gesetzgeber frei sei, für den Diskriminierungsschutz eine „graduell messbare“ Behinderung zu verlangen, so hat es übersehen, dass im Streitfall diese Voraussetzung erfüllt ist. Die nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zuständige Behörde hatte für die Klägerin das Vorliegen einer Behinderung festgestellt und den GdB auf 40 festgestellt. Nicht zuzustimmen ist der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, diese Behinderung mit einem GdB von 40 sei nicht „relevant“, weil keine Gleichstellung nach § 68 Abs. 2 SGB IX erfolgt sei. Diese Ansicht verkennt, dass nach § 2 Abs. 3 SGB IX eine Gleichstellung nur dann mit Aussicht auf Erfolg beantragt werden kann, wenn die dort geregelten besonderen arbeitsmarkt- oder arbeitsplatzbezogenen Voraussetzungen erfüllt sind. Diese nicht in der Person des behinderten Menschen liegenden Voraussetzungen rechtfertigen keine Herausnahme aus dem Geltungsbereich des Benachteiligungsverbots. Deshalb widersprach es den Vorgaben aus Art. 2, 5 und 17 der Richtlinie, den Geltungsbereich der zur Bekämpfung der Diskriminierung erforderlich gehaltenen Schutzvorschriften und Sanktionen auf schwerbehinderte und gleichgestellte behinderte Beschäftigte zu verengen. Diese Einschränkung ist nichts anderes als eine von der Richtlinie nicht zugelassene Herausnahme der Gruppe der Einfach-Behinderten aus dem Schutzbereich des Umsetzungsgesetzes. Das hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 23. Februar 2006 (- C-43/05 - AP Richtlinie 2000/78/EG Nr. 2) festgestellt. Da ansonsten Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot sanktionslos blieben, müssen auch die Entschädigungsansprüche nach § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 3 SGB IX aF für nicht schwerbehinderte Menschen und nicht gleichgestellte behinderte Beschäftigte anwendbar sein.

4.

Das beklagte Land kann sich nicht mit Erfolg auf Abs. 18 der Erwägungen zur Richtlinie berufen. Danach darf mit dieser Richtlinie den Streitkräften sowie der Polizei, den Haftanstalten oder den Notfalldiensten „unter Berücksichtigung des rechtmäßigen Ziels, die Einsatzbereitschaft dieser Dienste zu wahren, nicht zur Auflage gemacht werden, Personen einzustellen oder weiter zu beschäftigen, die nicht den jeweiligen Anforderungen entsprechen, um sämtliche Aufgaben zu erfüllen, die ihnen übertragen werden können“.

Es kann dahinstehen, ob die Parkraumüberwachung eine Tätigkeit ist, die dem Begriff „Polizei“ iSd. Abs. 18 der Erwägungen zur Richtlinie unterfällt. Diese Erwägung befreit die Polizei der Mitgliedsstaaten nicht grundsätzlich vom Verbot der Benachteiligung von Bewerbern mit Behinderung bei Einstellungsentscheidungen. Sie stellt lediglich verdeutlichend klar, dass die Polizei im Einzelfalle einen behinderten Bewerber deshalb ablehnen darf, weil dieser auf Grund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, sämtliche polizeilichen Aufgaben zu erfüllen, die ihm übertragen werden können. Diese Erwägung der Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber dadurch in nationales Recht umgesetzt, dass er in § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 2 SGB IX aF die unterschiedliche Behandlung wegen der Behinderung dann für zulässig erklärt hat, soweit eine Vereinbarung oder eine Maßnahme die Art der von dem schwerbehinderten Beschäftigten auszuübenden Tätigkeit zum Gegenstand hat und eine bestimmte körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für diese Tätigkeit ist.

5.

Um den rechtlichen Schutz, der sich für den behinderten Menschen aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt, zu gewährleisten und die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu garantieren, sind die nationalen Gerichte verpflichtet, jede dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen (so zur Diskriminierung wegen des Alters: EuGH 22. November 2005 - C-144/04 - EuGHE I 2005, 9981; BAG 26. April 2006 - 7 AZR 500/04 - AP TzBfG § 14 Nr. 23 = EzA TzBfG § 14 Nr. 28).

Schon daraus kann gefolgert werden, dass die gemeinschaftsrechtswidrige Bestimmung des § 81 Abs. 2 SGB IX aF, die einen Entschädigungsanspruch wegen einer Benachteiligung auf Grund einer Behinderung bei der Einstellungsauswahl beschränkt, gemeinschaftsrechtskonform auch auf alle Bewerber mit einer Behinderung im Sinne der Richtlinie anzuwenden ist.

Jedenfalls ist die Vorgabe auf alle Arten von Behinderungen, unabhängig, ob eine Schwerbehinderung vorliegt oder eine Gleichstellung erfolgt ist, unmittelbar anzuwenden. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs obliegt die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen sowie ihre Aufgabe gem. Art. 5 EG-Vertrag (jetzt Art. 10 EG), alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, allen öffentlichen Stellen der Mitgliedsstaaten (vgl. 4. Oktober 2001 - C-438/99 - EuGHE I 2001, 6915 mwN).

Damit hatte das beklagte Land als „öffentliche Stelle“ iSd. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Vorgaben der Richtlinie unmittelbar anzuwenden.

III.

Ob im Streitfall der Klägerin ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung zusteht, kann der Senat nicht entscheiden. Es fehlt insoweit an tatsächlichen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts.

1.

Der Anspruch scheitert nicht bereits an der Einhaltung der gesetzlichen Ausschlussfrist des § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB IX aF. Die Klägerin hat die zweimonatige Frist mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 22. April 2004 an den Polizeipräsidenten des beklagten Landes gewahrt. Mit diesem Schreiben hat sie „auf Grund der ungerechtfertigten Benachteiligung“ eine „angemessene Entschädigung in Geld“ gefordert. Die Ablehnung der Bewerbung war durch das Schreiben des Polizeipräsidenten vom 6. April 2004 erfolgt. Die Geltendmachung gegenüber derjenigen Behörde, welche die Ablehnung der Bewerbung ausgesprochen und das Bewerbungsverfahren durchgeführt hat, ist ausreichend. Das beklagte Land muss sich das Handeln ihrer für die Verwaltungshandlung zuständigen Behörde anrechnen lassen. Es ist auch unschädlich, dass die Klägerin in ihrem Schreiben den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht beziffert hat. Die Geltendmachung eines Anspruches „auf angemessene Entschädigung in Geld“ ist ausreichend. Nach § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB IX aF ist „ein Anspruch“ geltend zu machen. Durch den unbestimmten Artikel wird deutlich, dass der Anspruchsteller dem Arbeitgeber lediglich verdeutlichen muss, einen Anspruch wegen Benachteiligung auf Grund einer Behinderung geltend zu machen. Weiterer Angaben bedarf es nicht (Senat 15. Februar 2005 - 9 AZR 635/03 - BAGE 113, 361).

2.

Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann ein Anspruch auf angemessene Entschädigung nicht ausgeschlossen werden. Das Landesarbeitsgericht wird unter Berücksichtigung der Auslegung des Begriffs „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie zu prüfen haben, ob die Klägerin durch das beklagte Land bei der Bewerberauswahl für die Einstellung im Bereich der Parkraumüberwachung wegen ihrer Behinderung unter Verstoß gegen § 81 Abs. 2 SGB IX aF benachteiligt worden ist.

a) In Betracht kommt eine so genannte unmittelbare Diskriminierung. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen einer Behinderung in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Die Klägerin wäre danach benachteiligt, wenn sie wegen ihrer Behinderung bei der Besetzung der Stelle im Bereich der Parkraumbewirtschaftung nicht berücksichtigt oder zumindest in ihrem Recht auf ein diskriminierungsfreies Bewerbungsverfahren verletzt worden wäre und wenn das beklagte Land für die Nichtberücksichtigung keine sachlichen Gründe iSd. § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 2 und Satz 3 SGB IX aF darlegen könnte.

Diese Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht nach den Grundsätzen des § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX aF zu treffen haben. Die dort geregelte Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast entspricht der Vorgabe aus Art. 10 der Richtlinie.

Macht ein behinderter Beschäftigter Tatsachen glaubhaft, die eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten lassen, trägt nach § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX aF der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass nicht auf die Behinderung bezogene sachliche Gründe vorliegen oder dass eine bestimmte körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit wesentliche und entscheidende Anforderung für diese Tätigkeit ist. Als „Beschäftigter“ iSd. § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB IX aF gilt dabei auch der Bewerber um ein Arbeits- oder sonstiges Beschäftigungsverhältnis. Dies folgt zwingend aus dem Gesetzeswortlaut, der die Benachteiligung eines behinderten „Beschäftigten“ auch „bei der Begründung des Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnisses“ verbietet. Dies entspricht Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie. Danach obliegt es immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten, Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, dem Beklagten zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat (BAG 15. Februar 2005 - 9 AZR 635/03 - BAGE 113, 361).

Die bloße Glaubhaftmachung mit den Mitteln des § 294 ZPO ist nicht ausreichend. Die gesetzliche Regelung betrifft das Beweismaß. Das Gericht muss daher die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen Behinderteneigenschaft und Nachteil gewinnen (Senat 15. Februar 2005 - 9 AZR 635/03 - BAGE 113, 361; BAG 5. Februar 2004 - 8 AZR 112/03 - BAGE 109, 265).

b) Der klägerische Sachvortrag lässt nach diesen Grundsätzen eine Benachteiligung der Klägerin wegen ihrer Behinderung vermuten. Mit Bescheid vom 31. Januar 1994 wurde bei der Klägerin wegen ihres Hautleidens ein GdB von 40 festgestellt. Nach dem Bescheid des Versorgungsamtes hat die Körperbehinderung zu einer äußerlich erkennbaren, dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt. Diesen Bescheid hat die Klägerin dem beklagten Land im Rahmen des Einstellungsverfahrens zur Kenntnis gebracht. Dieses hat die Klägerin daraufhin wegen Neurodermitis nicht auf die freie Stelle in der Parkraumüberwachung eingestellt. Dies hat das beklagte Land der Klägerin nach der durch das Landespolizeiverwaltungsamt veranlassten ärztlichen Untersuchung ausdrücklich mitgeteilt. Damit steht fest, dass die Klägerin eine weniger günstige Behandlung im Rahmen des Einstellungsverfahrens erhalten hat, als eine mit ihr in vergleichbarer Position befindliche Person, bei der keine Behinderung vorliegt. Das beklagte Land hat sich zur Ablehnung der Bewerbung mit Schreiben vom 6. April 2004 ausschließlich auf die zuvor erfolgte ärztliche Untersuchung vom 16. März 2004 bezogen. Die der Untersuchung vorangegangenen Auswahlschritte eines schriftlichen Auswahlverfahrens und eines darauf folgenden Vorstellungsgespräches hatte die Klägerin mit Erfolg absolviert. Dies genügt hier, um von der Kausalität zwischen der Behinderung der Klägerin und dem Nachteil, dh. der Erfolglosigkeit ihrer Bewerbung, auszugehen.

c) Das Landesarbeitsgericht wird in der neuen Berufungsverhandlung zu prüfen haben, ob die vom Land vorgebrachten beruflichen Anforderungen geeignet sind, die weniger günstige Behandlung zu rechtfertigen. Dazu obliegt es dem beklagten Land, im Einzelnen darzulegen und ggf. zu beweisen, dass der Klägerin wegen ihrer Behinderung eine bestimmte körperliche Funktion fehlt, die wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für eine Tätigkeit in der Parkraumbewirtschaftung ist, § 81 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 3 SGB IX aF. Zu beachten ist, dass das Interesse des Arbeitgebers, die Anzahl von krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten möglichst gering zu halten, noch keine berufliche Anforderung darstellt.

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