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Erwerbsunfähigkeitsversicherung: Leistungsfreiheit wegen Straftat

BGH

Az: IV ZR 33/04

Urteil vom 29.06.2005


Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juni 2005 für Recht erkannt:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 8. Januar 2004 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:
Die Klägerin fordert eine Rente aus der zugunsten ihres minderjährigen Sohnes bei der Beklagten gehaltenen Erwerbsunfähigkeitsversicherung, welcher Allgemeine Bedingungen zur Erwerbsunfähigkeitsversicherung (EWO700) der Beklagten zugrunde liegen. § 19 dieser Bedingungen lautet auszugsweise:

„Grundsätzlich besteht unsere Leistungspflicht unabhängig davon, wie es zu der Erwerbsunfähigkeit gekommen ist.

Soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, leisten wir jedoch nicht, wenn die Erwerbsunfähigkeit durch folgendes verursacht ist:

(3) Durch vorsätzliche Ausführung oder den strafbaren Versuch eines Vergehens oder Verbrechens durch die versicherte Person. Fahrlässige Verstöße (z.B. im Straßenverkehr) sind davon nicht betroffen.“

Am 12. Oktober 2001 traf sich der damals 15-jährige Sohn der Klägerin mit fünf Freunden, darunter dem ebenfalls 15-jährigen M. R. , welcher zu dem Treffen in einem von ihm selbst gesteuerten, nicht haftpflichtversicherten VW Golf erschien. Am späten Abend fuhren die sechs Jugendlichen mit diesem Fahrzeug gemeinsam zum Wohnort des Fahrers R. , der sich sodann zu Hause schlafen legte, während die anderen ein Lokal aufsuchten, ehe sie am 13. Oktober 2001 nach Mitternacht wieder bei R. erschienen und ihn baten, er möge ihnen das Fahrzeug für eine weitere Fahrt überlassen. Mit Blick darauf, daß die Gruppe inzwischen alkoholische Getränke zu sich genommen hatte, entschloß sich R. jedoch dazu, selbst zu fahren. Zu sechst waren die Jugendlichen sodann wieder in dem VW Golf unterwegs, der Sohn der Klägerin saß auf dem Beifahrersitz. Gegen 2.05 Uhr kollidierte das von R. gesteuerte Fahrzeug auf einer von einer Lichtzeichenanlage geregelten Kreuzung mit einem anderen Pkw, dessen Fahrerin bei Wechsel des für sie geltenden Lichtzeichens auf Grün in die Kreuzung eingefahren war, während R. – ermutigt von einem der Mitfahrenden („los, das schaffst du noch“) – das für ihn geltende Rotlicht mißachtet und kurz vor Einfahrt in die Kreuzung die Scheinwerfer ausgeschaltet hatte.

Der Sohn der Klägerin erlitt bei dem Unfall neben Knochenverletzungen auch eine Hirnverletzung, in deren Folge eine spastische rechtsbetonte Tetraplegie und ein schwerstes hirnorganisches Psychosyndrom verblieben. Seine Erwerbsfähigkeit ist seither zu 100% gemindert.

Die Beklagte verweigert Versicherungsleistungen, weil der Sohn der Klägerin an einer Straftat beteiligt gewesen sei, die zu dem Unfall geführt habe.

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 583,90 Euro seit dem 1. November 2001 verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I. Das Berufungsgericht sieht die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses aus § 19 Abs. 3 der Bedingungen als erfüllt an. Der versicherte Sohn der Klägerin habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bei der Fahrt, die zum Unfall geführt habe, dem Haupttäter R. strafbare Beihilfe zum vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis geleistet (§§ 27 StGB, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG). Eine Beihilfehandlung müsse keine Ursache für die Haupttat im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel setzen; es genüge, wenn sie die Haupttat erleichtere oder fördere. Insoweit liege hier eine psychische Beihilfe vor. Der Sohn der Klägerin habe durch sein Verhalten den Fahrer in dessen Tatentschluß bestärkt. Von dem Moment an, als die Gruppe nach Mitternacht den Pkw Golf erneut benutzt habe, müsse das gesamte weitere Geschehen bis zum Unfall insoweit als einheitliche Dauerstraftat des Haupttäters gewertet werden. Der zwischenzeitliche kurze Aufenthalt der Gruppe auf einer Party habe zu keiner maßgeblichen Unterbrechung geführt. Ohne die Initiative und weitere Einwirkung der gesamten Gruppe, also auch des Versicherten, hätte der Fahrer, der sich zuvor bereits schlafen gelegt habe, nicht den Entschluß gefaßt, noch einmal loszufahren. Auf die Feststellung eines konkreteren Beitrages zur Tat komme es mit Blick auf den Versicherten wegen der insgesamt gemeinschaftlichen Beihilfe der Gruppe nicht an. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Sohn der Klägerin gewußt, daß der Fahrer R. nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis gewesen sei. Auch der erforderliche Normzweckzusammenhang zwischen der verletzten Strafnorm und dem Unfallgeschehen sei gegeben. Letzteres sei Folge fehlender geistiger Reife und mangelnder Fahrpraxis des Fahrers gewesen.

II. Das hält rechtlicher Nachprüfung in einem Punkt nicht stand.

1. § 19 Abs. 3 der Bedingungen knüpft den Ausschluß des Versicherungsschutzes an die vorsätzliche Ausführung oder den strafbaren Versuch eines Vergehens oder Verbrechens durch die versicherte Person. Durch eine solche Verweisung werden die gesetzlichen Straftatbestände Tatbestandsmerkmale der versicherungsvertraglichen Ausschlußregelung; die zivilrechtliche Bewertung des Verhaltens des Versicherten hat sich insoweit nach strafrechtlichen Gesichtspunkten zu richten (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1990 – IV ZR 13/90 – VersR 1991, 289 unter II 2 m.w.N. zu § 3 Nr. 1b BB-BUZ). Das gilt auch für die Frage der Schuld. Bleiben nicht behebbare Zweifel an der Schuldfähigkeit des Täters, so ist – ebenso wie im Strafprozeß – zu seinen Gunsten zu entscheiden (BGH, Urteil vom 23. September 1998 – IV ZR 1/98 – VersR 1998, 1410 unter II). Die von § 19 Abs. 3 der Bedingungen lediglich im Zusammenhang mit dem Versuch hervorgehobene Voraussetzung der Strafbarkeit dient an dieser Stelle lediglich der Abgrenzung strafbarer Versuche zu nicht strafbaren Versuchen von Vergehen (vgl. § 23 Abs. 1 StGB) und besagt nicht, daß es für den Ausschlußgrund der vorsätzlichen Ausführung von Vergehen oder Verbrechen nicht ebenso auf die weiteren Voraussetzungen der Strafbarkeit des Täters ankommen soll. Will der Versicherer sich auf den Ausschluß des § 19 Abs. 3 der Bedingungen berufen, so hat er danach grundsätzlich die Voraussetzungen der Strafbarkeit, auch die Schuld und insbesondere die Schuldfähigkeit des Versicherten, darzulegen und zu beweisen. Auf die – etwa auch im Rahmen des § 61 VVG anwendbare (vgl. dazu BGH, Urteil vom 29. Oktober 2003 – IV ZR 16/03 – VersR 2003, 1561 unter II 2 a) – zivilprozessuale Beweislastverteilung der §§ 827, 828 BGB kann er sich im Rahmen der vorliegenden Straftatenklausel nicht stützen (vgl. zu § 827 BGB: BGH, Urteil vom 5. Dezember 1990 aaO).

2. War – wie hier der Sohn der Klägerin – ein Täter zur Tatzeit Jugendlicher im Sinne von § 1 Abs. 2 JGG, so wäre im Strafverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob er nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (§ 3 JGG). Weitergehend als in § 828 Abs. 3 BGB haben insoweit im Strafrecht Erkenntnisse der Jugendpsychologie Anerkennung gefunden, wonach es für die Verantwortlichkeit eines Jugendlichen für sein Handeln nicht nur auf dessen intellektuelle Fähigkeit ankommt, das Ungesetzliche einer Tat einzusehen, sondern auch darauf, ob er fähig war, seinen Willen dieser Einsicht entsprechend zu bestimmen (vgl. zum ganzen BGH, Urteil vom 10. März 1970 – VI ZR 182/68 – VersR 1970, 467 unter 1 b). Der Jugendrichter kann sich bei der gebotenen Prüfung unter anderem der Jugendgerichtshilfe bedienen und hat – soweit erforderlich – eine Untersuchung des beschuldigten Jugendlichen, nach Möglichkeit durch einen eigens hierfür qualifizierten Sachverständigen, herbeizuführen (§ 43 JGG). Die sogenannte Strafmündigkeit des Täters im Sinne von § 3 JGG ist eine Schuldvoraussetzung (vgl. dazu z.B. BGHSt 9, 370, 382).

Übertragen auf den vorliegenden Zivilrechtsstreit folgt daraus zwar nicht, daß der Tatrichter auch bei Prüfung der Voraussetzungen der Ausschlußklausel des § 19 Abs. 3 der Bedingungen gehalten wäre, von Amts wegen die Strafmündigkeit des Versicherten wie im Jugendstrafverfahren zu überprüfen, denn eine solche Prüfung ist dem Zivilprozeß fremd. Der Tatrichter hat sich jedoch des Umstandes bewußt zu sein, daß die Straftatenklausel zu Lasten eines jugendlichen Versicherten nur unter den materiellen Voraussetzungen des § 3 JGG Anwendung finden kann, und er muß im Rahmen seiner materiellen Prozeßleitung (§ 139 ZPO) auf sachdienlichen Parteivortrag hinwirken.

Daß ein jugendlicher Versicherter die Voraussetzungen des § 3 JGG erfüllt, hat bei Anwendung der Straftaten-Ausschlußklausel grundsätzlich der Versicherer zu behaupten und zu beweisen. Allerdings knüpft an diese primäre Darlegungslast die sekundäre Darlegungslast des Versicherungsnehmers an, soweit Umstände aus den persönlichen Lebensumständen des Versicherten angesprochen sind, die der Versicherer aus eigenem Wissen nicht vortragen kann. Im Streitfall wird deshalb der Versicherungsnehmer die Umstände zu benennen haben, die Zweifel an der Strafmündigkeit des jugendlichen Versicherten begründen, so daß der Versicherer in die Lage versetzt wird, seinerseits sachdienliche Behauptungen aufzustellen und entsprechende Beweisangebote vorzulegen. Bleiben nach einer Beweisaufnahme Zweifel an der Strafmündigkeit, so wirken diese zu Lasten des Versicherers.

3. Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, daß sich das Berufungsgericht der angesprochenen Problematik des § 3 JGG bewußt war. Es hat die Strafmündigkeit des Versicherten nicht geprüft. Der Senat kann auch nicht ausschließen, daß eine neue tatrichterliche Verhandlung zu dem Ergebnis gelangt, der Sohn der Klägerin habe die Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 3 JGG zur Tatzeit noch nicht erfüllt.

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