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Liturgisches Glockenläuten – Unterlassungsansprüche

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Az.: 22 B 99.338

W 6 K 97.1218

Urteil vom 01.03.2002


In der Verwaltungsstreitsache Geräuscheinwirkungen durch liturgisches Glockenläuten; hier: Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. Dezember 1998, erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 22. Senat, aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14. Februar 2002 am 1. März 2002 folgendes Urteil:

I. Hinsichtlich des ursprünglich geltend gemachten Anspruchs auf Unterlassung des liturgischen Glockengeläuts bis zur Einhaltung des Maximalpegels für kurzzeitige Geräuschspitzen von 85 dB(A) wird das Verfahren eingestellt; das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom B. Dezember 1998 ist insofern unwirksam geworden.

II. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. Dezember 1998 wird geändert.

III. Die Beklagte wird verpflichtet, das liturgische Glockengeläut des Glockenturms G**********-******-Platz ** in A************ ab dem 1. Januar 2004 einzustellen, bis durch geeignete Schallschutzmaßnahmen sichergestellt ist, dass der Immissionsrichtwert für Beurteilungspegel in allgemeinen Wohngebieten von 55 dB(A) tagsüber bei der Eigentumswohnung der Klägerin im dritten Obergeschoss des Wohnhauses G****************-Platz 15 eingehalten wird, und bis die Einhaltung dieses Werts durch eine Messung einer nach § 26 BImSchG bekanntgegebenen Stelle gegenüber der Klägerin nachgewiesen ist. Anstelle einer geeigneten Maßnahme des aktiven Schallschutzes an der Geräuschquelle und der diesbezüglichen Messung genügt es auch, wenn die Beklagte der Klägerin einen Geldausgleich für den Einbau eines Schallschutzfensters der Klasse 3 an der Nordfassade des Gebäudes und für die Errichtung von gläsernen Schallschutzwänden mit einer Höhe von je 2,8 m an den Nordseiten der beiden Dachterrassen in Höhe von 7.000 Euro verbindlich zusichert.

Im Übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

IV. Von den Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt die Klägerin ein Fünftel, die Beklagte vier Fünftel.

V. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Vl. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin macht Immissionsabwehransprüche gegen Geräuscheinwirkungen durch liturgisches Glockengeläut auf ihre Eigentumswohnung geltend.

Die Klägerin erwarb 1993/1994 eine Eigentumswohnung im dritten Obergeschoss des Wohnhauses G**********-******-Platz 15 in A************, FINr. 2411/28 der Gemarkung L*****. Das Wohnhaus war entsprechend einer Teilbaugenehmigung vom 27. Oktober 1992 und einer endgültigen Baugenehmigung vom 1. Juli 1993 bis Mitte 1993 errichtet worden. Hinsichtlich der Oberschreitung der Vollgeschosse um ein Geschoss auf jetzt drei Vollgeschosse sowie hinsichtlich der Oberschreitung der Geschossflächenzahl waren Befreiungen erteilt worden; dasselbe gilt für die Verschiebung des Baukörpers um 1 m nach Westen. Hinter der nördlichen, dem genannten Platz zugewandten Außenfront der Wohnung befindet sich das Wohnzimmer. Es ist an der Nordwest- und der Nordostseite von zwei Dachterrassen flankiert, die ebenfalls zur Wohnung gehören. Die Wohnung wird zur Vermietung genutzt, steht derzeit aber leer. Eine Neuvermietung kam nicht zustande, ebenso wenig eine Veräußerung.

Mit Bescheid vom 3. Juli 1995 erteilte die Stadt A************ die Genehmigung zum Neubau eines evangelisch-lutherischen Gemeindezentrums am G**********-******Platz 12 in A************, FINr. 2413/13 der Gemarkung L*****, nördlich des klägerischen Wohnhauses. Die Genehmigung erstreckte sich auch auf eine Kirche und einen 15 m hohen, frei stehenden Glockenturm mit Geläute, das aus drei Glocken besteht, und mit Schallaustrittsöffnungen gerade in Höhe der nur 12 m entfernten klägerischen Wohnung. Für die Überschreitung der im einschlägigen Bebauungsplan festgesetzten Baulinie nach Süden (in Richtung des klägerischen Wohnhauses) um ca. einen Meter wurde eine Befreiung erteilt. Die Inbetriebnahme des Gemeindezentrums einschließlich des Geläutes erfolgte im Juni 1997. Auf den Widerspruch der Klägerin setzte die Regierung von Unterfranken mit Widerspruchsbescheid vom 28. September 1998 fest, dass das Gebetläuten um 12.00 Uhr und um 18.00 Uhr jeweils höchstens 140 Sekunden andauern darf und dass hierfür nicht mehr als zwei Glocken in Betrieb genommen werden dürfen. Im Übrigen wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin und die Beklagte erhoben hiergegen Klagen zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg, über die noch nicht entschieden wurde.

Liturgisches Glockengeläut soll nach der derzeitigen Läuteordnung der Beklagten zu folgenden Zeiten stattfinden: Gebetläuten täglich um 12.00 Uhr und um 18.00 Uhr jeweils 140 Sekunden lang mit zwei Glocken, zusätzlich Vorläuten sonntags um 10.00 Uhr 140 Sekunden lang mit einer Glocke und Zusammenläuten sonntags um 10.30 Uhr 265 Sekunden lang mit allen drei Glocken. Ein Zeitschlagen findet aufgrund diesbezüglicher Gerichtsentscheidungen (zuletzt LG A************ vom 26.8.1999, NVwZ 2000, 965/966) derzeit nicht statt.

Der Bebauungsplan Nr. 8.6 der Stadt A************ für das Gebiet zwischen Kleiner Schönbuschallee, östlicher Grenze, Rüsterweg, Fichtenweg, Ulmenweg, Zypressenweg und Hafenbahn erfasst sowohl das klägerische Grundstück als auch das Grundstück der Beklagten. Er ist am 1. März 1986 formell in Kraft getreten. Er setzt für das klägerische Grundstück eine Bebauung mit zwei Vollgeschossen und ein allgemeines Wohngebiet fest. Er weist auf dem Grundstück der Beklagten Gemeinbedarfsflächen, speziell Flächen für ein Kirchenzentrum, aus. In diesem Zusammenhang ist auch ein frei stehender Turm zeichnerisch dargestellt. Baugrenzen oder Baulinien sind für den Turm nicht festgesetzt worden. Nach den Angaben der Stadt A************ (Blatt 54 der VG-Akte) verfolgt der Bebauungsplan das planerische Ziel, die Fläche des G**********-******-Platzes in zwei Bereiche zu gliedern. Im Westen soll ein kleinerer Platz entstehen, um den sich soziale und kulturelle Einrichtungen sowie Wohngebäude gruppieren. Im Osten liegt die größere Platzfläche, die insbesondere der Geschäftsnutzung in Verbindung mit der Wohnnutzung vorbehalten ist. Die Verknüpfung beider Bereiche soll durch ein in den Platzraum hineinragendes Kirchengebäude erreicht werden. Gemäß dem Bebauungsplan entstand ein verkehrsberuhigtes Neubaugebiet mit Fußgängerzone.

Die Klägerin erhob bezüglich des liturgischen Glockengeläuts vom Glockenturm der Beklagten eine Immissionsabwehrklage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg. Die Klage wurde abgewiesen (Urteil vom B. 12.1998).

Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung beantragt die Klägerin,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verpflichten, das liturgische Glockengeläut des Glockenturms G**********-******-Platz 12 ab sofort bis zu dem Zeitpunkt einzustellen, in dem durch geeignete Schallschutzmaßnahmen sichergestellt ist, dass der Immissionsrichtwert für Beurteilungspegel in allgemeinen Wohngebieten von tagsüber 55 dB(A) nicht überschritten wird, und in dem ferner die Einhaltung dieses Werts durch ein Sachverständigengutachten gegenüber der Klägerin nachgewiesen ist.

Hilfsweise beantragt sie, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag von 7.000 Euro zweckgebunden für ihre Eigentumswohnung G**********-******-Platz 15 für den Einbau neuer Schallschutzfenster mit 42 mm dicken Schallschutzscheiben, dB-Wert 38 und die Errichtung einer Schallschutzwand entlang der Nordseite der Balkone zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses stellt keinen Antrag.

Während des Berufungsverfahrens führte die Beklagte Maßnahmen des aktiven Schallschutzes an der Geräuschquelle durch. Mit Schreiben vom 23. Juni 1999 teilte sie mit, dass sie die südlichen Glockenschächte verkleidet habe.

Der Verwaltungsgerichtshof erhob Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Zwecke der Messung und Beurteilung der durch das liturgische Glockengeläut der Beklagten bei der Eigentumswohnung der Klägerin hervorgerufenen Geräuschimmissionen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sind die beiden nach Süden zur klägerischen Wohnung weisenden Schallaustrittsöffnungen des Glockenturms von innen über ihre gesamte Höhe durch Schalldämmplatten aus faserigem Material dicht verschlossen. Die nach Norden weisenden Schallaustrittsöffnungen sind bis zur Hälfte ihrer Gesamthöhe mit Sperrholzplatten abgedeckt; die obere Hälfte ist lediglich mit Lamellen verkleidet. Der Sachverständige bescheinigte diesen Maßnahmen eine deutliche pegelreduzierende Wirkung. Jedoch treten bei der klägerischen Wohnung keine nennenswerten Fremdgeräusche auf, so dass die Maximalwerte des Glockengeräusches den Hintergrundpegel um mehr als 30 dB(A) überschreiten. Der Sachverständige ermittelte für das liturgische Glockengeläut Beurteilungspegel (mit Messabschlag nach Nr. 6.9 der TA Lärm) von werktags 58 dB(A) und sonntags 60 dB(A) sowie Spitzenpegel für kurzzeitige Geräuschereignisse (ohne Messabschlag nach Nr. 6.9 der TA Lärm) von 82 dB(A). Der Sachverständige bewertete das Glockengeräusch aufgrund des hohen Fremdgeräuschabstands (Differenz zwischen Maximalpegel und Hintergrundpegel), der Impulshaltigkeit und der Tonhaltigkeit als „auffällig“.

Daraufhin erklärten die Beteiligten hinsichtlich des ursprünglich ebenfalls geltend gemachten Anspruchs auf Unterlassung des liturgischen Glockengeläuts bis zur Einhaltung des Maximalpegels für kurzzeitige Geräuschspitzen von 85 dB(A) die Hauptsache für erledigt (Schriftsatz der Klägerin vom 15.1.2002, Erklärung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 14.2.2002).

Während des Berufungsverfahrens teilte die Beklagte mit Schreiben vom 31. Mai 2001 weiter mit, dass sie keine Möglichkeit sehe, durch weitere bauliche Maßnahmen am Kirchturm die Geräuscheinwirkungen auf die Eigentumswohnung der Klägerin weiter zu reduzieren. Bautechnisch noch in Betracht kommende Maßnahmen würden den Klang der Glocken auf für die Beklagte unzumutbare Weise verändern; der „Frohbotschaftscharakter“ des Geläuts gehe verloren.

Der Verwaltungsgerichtshof erhob weiteren Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Zwecke der Beurteilung der durch den Einbau von Schallschutzfenstern oder die Errichtung von Schallschutzwänden bei der Eigentumswohnung der Klägerin erzielbaren Immissionsminderungen. Die Ergebnisse wurden unter dem 13. Februar 2002 schriftlich vorgelegt. Durch die Kombination eines Schallschutzfensters an der Nordfassade des Gebäudes mit zwei gläsernen Schallschutzwänden mit einer Höhe von je 2,8 m an den Nordseiten der beiden Dachterrassen kann danach der Immissionsrichtwert für Beurteilungspegel in allgemeinen Wohngebieten von 55 dB(A) eingehalten werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat überwiegend Erfolg. Die Klage ist überwiegend begründet. Der Klägerin steht der noch zur Entscheidung stehende Anspruch auf Unterlassung des liturgischen Glockengeläuts, soweit und solange dessen Beurteilungspegel den Immissionsrichtwert für allgemeine Wohngebiete von 55 dB(A) tagsüber bei der Eigentumswohnung der Klägerin im dritten Obergeschoss des Wohnhauses G****************-Platz 15 überschreitet, mit den Einschränkungen zu, dass er erst ab dem

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1. Januar 2004 greift und dass die Beklagte die Einhaltung des Immissionsrichtwerts von 55 dB(A) auch durch einen Geldausgleich für bestimmte Maßnahmen des passiven Schallschutzes sicherstellen darf.

Der Klägerin steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach Maßgabe dessen zu, was § 22 Abs. 1 Sätze 1 und 3 BImSchG den Nachbarn nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen an Schutz gewährt. Zum Zwecke der Abwehr schädlicher Umwelteinwirkungen darf der Staat auch dem Läuten, das liturgischen Zwecken dient, Grenzen setzen. Dies geschieht durch die Einbeziehung des Glockengeläuts als sonstige ortsfeste Einrichtung im Sinn von § 3 Abs. 5 Nr. 1 BImSchG in den weiten immissionsschutzrechtlichen Anlagenbegriff und durch die Anwendung der immissionsschutzrechtlichen Grundpflichten des § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG auf die Kirchen. Diese sind nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG grundsätzlich verpflichtet, ein liturgisches Glockengeläut so zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind (vgl. dazu grundlegend BVerwG vom 24.10.1983, NJW 1984, 989/990; BVerwG vom 30.4.1992, DVBI 1992, 1234/1235). Für die Konkretisierung der Schädlichkeitsgrenze bei den hier zu beurteilenden Lärmimmissionen ist die TA Lärm vom 26. August 1998 (GMBI S. 503) maßgebend. Sie gilt auch für liturgisches Glockengeläut, weil sie grundsätzlich auch für immissionsschutzrechtlich nicht genehmigungsbedürftige Anlagen gilt und die hiervon vorgesehenen Ausnahmen das liturgische Glockengeläut nicht enthalten (Nr. 1 Abs. 2). Der Immissionsrichtwert für den Beurteilungspegel im hier gegebenen allgemeinen Wohngebiet beträgt für Immissionsorte außerhalb von Gebäuden tagsüber 55 dB(A). Einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen dürfen die Immissionsrichtwerte am Tage um nicht mehr als 30 dB(A) überschreiten (Nr. 6.1 Satz 1 d und Satz 2); der Maximalpegel liegt hier also bei 85 dB(A).

Nach dem Ergebnis der vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Beweisaufnahme wird der Maximalpegel für kurzzeitige Geräuschspitzen von 85 dB(A) zwar eingehalten (mit 82 dB(A)); der Immissionsrichtwert für den Beurteilungspegel von 55 dB(A) wird jedoch um 3 dB(A) werktags bzw. 5 dB(A) an Sonn- und Feiertagen überschritten. Dies braucht die Klägerin im vorliegenden Fall nicht auf die Dauer hinzunehmen.

Beim Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls, als da sind Herkömmlichkeit, soziale Adäquanz und allgemeine Akzeptanz der Geräuschimmission, ist zwar ergänzend zu prüfen, ob sich unter Berücksichtigung dieser Umstände des Einzelfalls eine vom Ergebnis der Regelfallprüfung abweichende Beurteilung ergibt (Nr. 3.2.2 d der TA Lärm). Diese Regelung gilt unmittelbar nur für genehmigungsbedürftige Anlagen, ist aber auf nicht genehmigungsbedürftige Anlagen entsprechend anzuwenden (Begründung der Bundesregierung zur TA Lärm [neu], BR-Drs. 254/98, Seite 47). Das schematische, auf den Regelfall zugeschnittene Beurteilungsverfahren erfordert in atypischen Fällen Abweichungen sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der Betreiber (Kutscheidt, NVwZ 1999, 577/580). Nach der gesetzlichen Vorgabe des § 3 Abs. 1 BImSchG kann die Schädlichkeitsschwelle nur unter Beachtung wertender Elemente wie der Herkömmlichkeit, der sozialen Adäquanz und der allgemeinen Akzeptanz bestimmt werden (BVerwG vom 30.4.1992, DVBI 1992, 1234/1235). Die TA Lärm enthält keine Vorschriften darüber, wie die besonderen Lärmumstände zu berücksichtigen sind. Da es sich um eine Einzelbeurteilung handelt, sind die Grundsätze anzuwenden, die der bisherigen Rechtsprechung hierzu zu entnehmen sind (Feldhaus, UPR 1999, 1/6). Daher besteht bei der Anwendung des § 22 Abs. 1 BImSchG und der TA Lärm auf das liturgische Glockengeläut Raum für die Beachtung der Wert setzenden Bedeutung des durch Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV verfassungsrechtlich garantierten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Dies führt zu einer Privilegierung des liturgischen Glockengeläuts gegenüber dem reinen Zeitläuten (vgl. dazu BVerwG vom 30.4.1992, DVBI 1992, 1234/1235; LG Aschaffenburg vom 26.8.1999, NVwZ 2000, 965/966). Dies gilt auch für neue Kirchenbauten. Für die Frage der Zumutbarkeit des liturgischen Glockengeläuts ist danach in erster Linie auf den – hier nunmehr eingehaltenen – Maximalpegel für kurzzeitige Geräuschspitzen abzustellen, während der – hier überschrittene – Immissionsrichtwert für den Beurteilungspegel an Bedeutung zurücktritt (BVerwG vom 2.9.1996, UPR 1997, 39). Eine Überschreitung des Immissionsrichtwerts für Beurteilungspegel in allgemeinen Wohngebieten von 55 dB(A) um 3 bzw. 5 dB(A) kann danach in vielen Fällen hingenommen werden. Die besondere Eigenart des vorliegenden Falls verbietet jedoch eine solche Betrachtungsweise.

Entscheidendes Kriterium für die Zumutbarkeit ist es nämlich, dass sich das liturgische Glockengeläut auch bei neuen Kirchenbauten nach Zeit, Dauer und Intensität als jahrhundertealte kirchliche Lebensäußerung im Rahmen des Herkömmlichen hält. Eine solche sich im Rahmen des Herkömmlichen haltende kirchliche Lebensäußerung ist vom verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gedeckt und stellt zugleich einen vom Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG erfassten Akt freier Religionsausübung dar. Sie überschreitet nicht die Grenzen des Angemessenen und muss daher von sich gestört fühlenden Einzelpersonen – auch unter dem Gebot gegenseitiger Toleranz – als sozial adäquat ertragen werden (BVerwG vom 24.10.1983, NJW 1984, 989/990). Diese Betrachtungsweise ist hinsichtlich der Immissionsrichtwerte für den Beurteilungspegel auch deshalb gerechtfertigt, weil diese ungeachtet der prinzipiellen Eignung der TA Lärm für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Glockengeläut für die Nachbarschaft (BVerwG vom 30.4.1992, DVBI 1992, 1234/1235) lediglich die Funktion eines „groben Anhalts“ haben (BVerwG vom 2.9.1996, UPR 1997, 39). Im vorliegenden Fall lassen sich die Beeinträchtigungen der klägerischen Wohnung aber nicht mit Kategorien wie Herkömmlichkeit, Angemessenheit und gegenseitiger Toleranz als zumutbar rechtfertigen.

Dass die Beklagte ihr Kirchenzentrum samt Kirche und Glockenturm erst errichtet hat, nachdem die meisten Häuser des Neubaugebiets und insbesondere auch das Wohnhaus der Klägerin bereits genehmigt und erbaut waren, schließt für sich genommen die Zumutbarkeit des liturgischen Glockengeläuts hinsichtlich der klägerischen Wohnung noch nicht aus. Zu beachten ist insofern, dass die Stadt A************ bei der Aufstellung des Bebauungsplans Nr. 8.6 das Kirchenzentrum einschließlich erläuternder Hinweise auf Kirche und Turm im Zusammenhang mit den es umgebenden Wohngebäuden in einem bestimmten Bereich geplant, beide Nutzungen also einander zugeordnet hat. Dadurch ist eine Art plangegebene Vorbelastung des klägerischen Grundstücks entstanden (vgl. VGH BW vom 22.7.1997, BauR 1998, 756/759). Die Stadt A************ hat hierbei im Einklang mit § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO gehandelt; diese Rechtsnorm lässt Anlagen für kirchliche Zwecke in der Nachbarschaft von Wohnbebauung ausdrücklich zu. Die Eigentümer des Wohnhauses G**********-******-Platz 15 mussten von vornherein mit den mit dem Betrieb kirchlicher Anlagen in allgemeinen Wohngebieten üblicherweise verbundenen Beeinträchtigungen rechnen und diese hinnehmen. Wer sich im Grenzbereich von rechtmäßig geplanten Nutzungen verschiedener Qualität (hier Wohnnutzung und Nutzung für kirchliche Zwecke) als erster ansiedelt, muss mit der späteren emittierenden Nutzung im angrenzenden Bereich (hier dem liturgischen Glockengeläut) bereits rechnen und kann insofern keinen Vorrang beanspruchen; er ist für die voraussehbare spätere Konfliktlage gleichsam mitverantwortlich (vgl. BGH vom 6.7.2001, DVBI 2001, 1837, 1838). Im vorliegenden Fall ist dieser Mitverantwortungsbeitrag noch dadurch erhöht, dass die strittige Eigentumswohnung nach den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 8.6 im 3. Obergeschoss nicht hätte errichtet werden dürfen; die Baugenehmigung konnte insofern nur im Befreiungswege erteilt werden.

Für die Klägerin ist es jedoch unzumutbar, dass infolge eines Planungsfehlers, der auf mangelndem Problembewusstsein beruhte, die nach der vorgegebenen planungsrechtlichen Situation zu erwartende Rücksichtnahme auf die Nachbarschaft – wenn auch unabsichtlich – unterblieben ist (vgl. BVerwG vom 22.5.1987, DVBI 1987, 907/910). Wenn den Anwohnern schon im Interesse der Beklagten unvermeidbare Glockengeräusche zugemutet werden müssen, so brauchen sie doch keine derartigen Lärmimmissionen hinzunehmen, die bei rücksichtsvoller Standortauswahl und Gestaltung der Anlage zu vermeiden gewesen wären (vgl. VGH BW vom 27.4.1990, NVwZ 1990, 988 f; OVG RP vom 29.8.1989, NVwZ 1990, 279). Im vorliegenden Fall wäre der Beklagten eine rücksichtsvollere Standortauswahl und Gestaltung des Glockenturms (z.B. hinsichtlich seiner Höhe) gegenüber der ihr bekannten Eigentumswohnung der Klägerin möglich und zumutbar gewesen. Der Glockenturm wurde ca. 4 m näher am klägerischen Wohnhaus errichtet, als es der zeichnerischen Darstellung in dem Bebauungsplan Nr. 8.6 entspricht, die zwar keine rechtlich verbindliche Festsetzung, aber doch eine Art Bauvorschlag enthält. Der strittige Glockenturm wurde zudem nur 15 m hoch errichtet, mit entsprechend niedrig hängenden Glocken. Die Beklagte hat dadurch nachträglich eine vermeidbare Verschärfung der Immissions- _ situation herbeigeführt.

Die Immissionssituation wird zudem durch atypische Besonderheiten verschärft, die ihrer Zumutbarkeit für die Klägerin entgegenstehen. Eine atypische Besonderheit liegt darin, dass das klägerische Wohnhaus wegen seiner besonders ruhigen Lage durch Lärm in tatsächlicher Hinsicht wenig vorbelastet ist, so dass sich das liturgische Glockengeläut vom sonstigen Geräuschpegel besonders deutlich abhebt (vgl. zur Relevanz dieses Umstands BayVGH vom 21.4.1994, BayVBI 1994, 721). Der gerichtliche Sachverständige hat dazu festgestellt, dass in dem verkehrsberuhigten Neubaugebiet am Rande der Fußgängerzone des G********** ******-Platzes keine nennenswerten Fremdgeräusche auftreten. Die Maximalwerte des Glockengeräusches überschreiten den Hintergrundpegel um mehr 30 dB(A). Aufgrund des hohen Fremdgeräuschabstands (Differenz zwischen Maximalpegel und Hintergrundpegel), zu dem noch die Impuls- und Tonhaltigkeit des Glockengeräusches hinzutritt, ist dieses Glockengeräusch „auffällig“. Die Atypik ergibt sich weiter aus der engen Nachbarschaft des Glockenturms und des Wohnhauses der Kläger (vgl. zur Relevanz dieses Umstands ebenfalls BayVGH vom 21.4.1994, BayVBI 1994, 721). Die nördliche Außenfront der klägerischen Wohnung ist dem nur 12 m entfernten Glockenturm zugewandt. Die südlichen Klangaustrittsschächte des Glockenturms finden sich etwa in Höhe der gegenüber liegenden Wohnung der Kläger. Der Schall wird nicht über den Wohnhäusern verbreitet, sondern bricht sich an den nächsten Nachbarhäusern.

Rechtsfolge kann gleichwohl nicht sein, dass die Beklagte das Glockengeläut ab sofort bis zur nachgewiesenen Einhaitung des Immissionsrichtwerts für Beurteilungspegel in allgemeinen Wohngebieten von 55 dB(A) einstellen muss. Dies wäre unangemessen und nicht sozial adäquat, weil es dazu führen würde, dass die dargelegte rechtlich privilegierte liturgische Funktion des Glockengeläuts völlig entfallen würde. Eine solche Konsequenz könnte allenfalls bei besonders gravierenden, akut gesundheitsgefährdenden Überschreitungen des Immissionsrichtwerts hingenommen werden, die hier nicht vorliegen. Eine solche Konsequenz wäre auch im Hinblick auf die dargelegte plangegebene Vorbelastung und unter dem Gesichtspunkt unangemessen, dass die Errichtung der klägerischen Wohnung im 3. Obergeschoss auf Grund einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 8.6 einen der Klägerin zuzurechnenden Mitverantwortungsbeitrag für den Nachbarschaftskonflikt darstellt. Diese Gründe sprechen insgesamt dafür, der Beklagten eine Frist einzuräumen (vgl. dazu auch BayVGH vom 22.11.1994 – Az. 22 B 93.3435). Dass der Unterlassungsanspruch erst ab dem 1. Januar 2004 zugesprochen wird, lässt der Beklagten die Zeit, die von ihr in der mündlichen Verhandlung angedeuteten überregionalen und interkonfessionellen Beratungsmöglichkeiten auszuschöpfen, um doch noch mit – von ihr selbst als eigentlich nicht mehr zumutbar angesehenen – Mitteln des aktiven Schallschutzes die Einhaltung des Immissionsrichtwerts für den Beurteilungspegel von 55 dB(A) zu erreichen. Der Klägerin kann dieser Aufschub zugemutet werden. Der Klägerin wird eine sichere Perspektive eröffnet; die Frist bis zum 1. Januar 2004 ist nicht unzumutbar lang, wenn zusätzlich einkalkuliert wird, dass es die Beklagte in der Hand hätte, den Eintritt der Rechtskraft durch die Einlegung eines Rechtsmittels hinauszuzögern (vgl. § 133 Abs. 4 VwGO).

Angesichts der dargelegten rechtlichen Privilegierung des liturgischen Glockengeläuts und in Anbetracht dessen, dass mit den bisher getroffenen Maßnahmen des aktiven Schallschutzes an der Geräuschquelle bereits die Grenze dessen erreicht ist, was ein staatliches Gericht der Beklagten ohne Verletzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in liturgischen Fragen (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) auferlegen kann, muss ein Geldausgleich für bestimmte Maßnahmen des passiven Schallschutzes in Betracht gezogen werden. Ein solcher wurde von der Rechtsprechung für Fälle entwickelt, in denen bei Einrichtungen im Interesse des Gemeinwohls Maßnahmen des aktiven Schallschutzes nicht möglich oder unangemessen aufwändig wären (BVerwG vom 29.4.1988, DVBI 1988, 967/969). Diese Grundsätze gelten auch hier. Die dargelegte rechtliche Privilegierung des liturgischen Glockengeläuts rechtfertigt es, die Beklagte nicht allein auf die Unterlassung des liturgischen Glockengeläuts zu verweisen, sondern ihr die Möglichkeit zu eröffnen, Geldausgleich für zur Erreichung des Immissionsschutzziels geeignete Maßnahmen des passiven Schallschutzes anzubieten. Eine Vergleichbarkeit mit Einrichtungen, die dem Allgemeinwohl dienen (vgl. BVerwG vom 29.4.1988, DVBI 1988, 967/969; BGH vom 7.4.2000, DVBI 2000, 1608/1610), ist insofern gegeben. An sich vorrangige Maßnahmen des aktiven Schallschutzes an der Geräuschquelle müssen hier außer Betracht bleiben, weil solche Maßnahmen von einem staatlichen Gericht ohne Verletzung des dargelegten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in liturgischen Fragen nicht mehr angeordnet werden könnten. Wenn nach dem Selbstverständnis der Beklagten bei weiteren bautechnisch möglichen Maßnahmen des aktiven Schallschutzes der „Frohbotschaftscharakter“ des liturgischen Glockengeläuts verloren geht, dann muss der Verwaltungsgerichtshof dieses Selbstverständnis zugrundelegen. Die Ausgestaltung des geeigneten passiven Schallschutzes (Schallschutzfenster der Klasse 3 in der Nordfassade des klägerischen Wohngebäudes, gläserne Schallschutzwände in Höhe von je 2,8 m an den Nordseiten der beiden Dachterrassen) ergibt sich aus den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen vom 13. Februar 2002, die zu erwartenden Kosten wurden von ihm in der mündlichen Verhandlung beziffert; die Beteiligten haben diesbezüglich keine Bedenken erhoben.

Kosten: § 155 Abs. 1 VwGO, § 161 Abs. 2 VwGO.

Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Nichtzulassung der Revision: § 132 Abs. 2 VwGO.

Beschluss:

In Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom B. Dezember 1998 wird der Streitwert für das Verfahren der Klägerin in beiden Rechtszügen jeweils auf 20.000 Euro festgesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG; Anhaltspunkt ist die befürchtete Minderung des Werts der klägerischen Wohnung).

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