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Prozesskostenhilfeanspruch bei lebenslanger Freiheitsstrafe!

BVerfG

Az.: 2 BvR 578/02

Beschluss vom 01.07.2002


In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 22 Abs. 1 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) in Verbindung mit § 114 ZPO am 1. Juli 2002 einstimmig beschlossen:

Dem Beschwerdeführer wird auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt X, zur Wahrung seiner Rechte beigeordnet.

Gründe:

1. Das Verfassungsbeschwerde-Verfahren betrifft die Ablehnung der bedingten Entlassung nach § 57a StGB.

Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter Notzucht. Er war bereits vor diesem Verbrechen wegen strafbarer Handlungen mit sexualbezogenem Hintergrund aufgefallen. Zwei Strafverfahren gegen ihn waren wegen Schuldunfähigkeit eingestellt worden, weil Schwachsinn, Charaktermängel, Triebstörungen und eine epileptische Veranlagung angenommen worden waren. Danach war der Beschwerdeführer fast fünf Jahre in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht gewesen, bis er aus dem Maßregelvollzug bedingt entlassen worden war. Anschließend war es zu einer Reihe weiterer Straftaten gekommen, wobei es sich meist um Diebstähle gehandelt hatte. Am 11. September 1971 wurde der Beschwerdeführer wegen der Mordtat verhaftet, wegen der er sich seither in Haft befindet. Er hatte am 6. September 1971 ein 17-jähriges Mädchen in den Keller einer leer stehenden Gastwirtschaft gelockt und zumindest versucht, gewaltsam mit ihm den Geschlechtsverkehr auszuüben; danach hatte er das Opfer in Verdeckungsabsicht erdrosselt. Durch Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 16. Dezember 1992 wurde festgestellt, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Strafvollstreckung nicht gebiete.

In der angegriffenen Entscheidung lehnte das sachverständig beratene Landgericht Düsseldorf die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers ab, weil eine günstige Legalprognose nicht möglich sei. Dafür war vor allem ein Ereignis bestimmend, von dessen Vorliegen sich die Gerichte des Ausgangsverfahrens im Freibeweisverfahren überzeugt hatten: Am 31. Juli 2000, dem ersten Arbeitstag des Beschwerdeführers in einem freien Beschäftigungsverhältnis, hatte dieser ein 13-jähriges Mädchen in sexualbezogene Gespräche verwickelt. Er hatte auch versucht, das Mädchen in einen Aqua-Zoo einzuladen. Weiterungen waren unterblieben, weil ein Kollege den Beschwerdeführer zur Arbeit gerufen hatte. In dem Vorfall sah das Landgericht eine Parallele zu früheren strafbaren Verhaltensweisen. Das Landgericht nahm deshalb eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit an. Das Oberlandesgericht verwarf die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde.

2. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung der „Art. 1 bis 19 GG, Art. 20 Abs. 4, Art. 101, 103, 104 GG“. Er beteuert seine Unschuld hinsichtlich der Tötung des Mädchens im Jahre 1971. Den Mord habe sein Bruder begangen. Der Beschwerdeführer bestreitet auch den sexualbezogenen Vorfall im Rahmen von Vollzugslockerungen, die ihm seither nicht mehr gewährt werden. Die Fachgerichte hätten willkürlich zu seinem Nachteil entschieden. Insbesondere der Richter am Landgericht B. sei ihm gegenüber voreingenommen. Nach über 30 Jahren Haft sei er körperlich und seelisch „ein zerbrochenes Wrack“ und ein „alter kranker Mann“. Ihm werde „jede Hoffnung, jemals wieder in Freiheit zu kommen und in wohl geordnete soziale Verhältnisse zurückkehren zu können, verweigert“. Er sei in eine „uferlose Hoffnungslosigkeit entlassen“ worden, nur um „weiter dahin zu vegetieren, ohne ein klares und begrenztes Ziel angeboten zu bekommen“.

3. Der Beschwerdeführer beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung des Rechtsanwalts X. Diesem Antrag kann gefolgt werden, womit jedoch über die Annahme der Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG und die Frage der Senatszuständigkeit noch nicht entschieden ist. Eine vorherige Anhörung weiterer Beteiligter des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens ist nicht angezeigt (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO), zumal auch die Erforderlichkeit und der Umfang einer Anhörung nach § 94 BVerfGG noch nicht absehbar sind.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe an den Beschwerdeführer entsprechend §§ 114 ff. ZPO zulässig (vgl. BVerfGE 1, 109 <110 ff.>; 1, 415 <416>; 79, 252 <253>; 92, 122 <123>), allerdings nur dann, wenn dies als unbedingt erforderlich erscheint (vgl. BVerfGE 27, 57; 78, 7 <19>; 92, 122 <123>). Von einer solchen Erforderlichkeit ist im vorliegenden Fall auszugehen. Der Beschwerdeführer ist ersichtlich nicht selbst in der Lage, seine Rechte angemessen wahrzunehmen. Er war bereits in Strafverfahren vor mehr als 30 Jahren als schuldunfähig angesehen worden und hat durch die jahrzehntelange Haft wahrscheinlich weitere körperliche und psychische Beeinträchtigungen erlitten. Das Verfahren hat für ihn nach rund 32 Jahren Haft eine existentielle Bedeutung erlangt.

Durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhält die Partei nach § 121 ZPO das Recht, dass ihr zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung ihrer Rechte ein Rechtsanwalt beigeordnet wird, insoweit eine Vertretung durch Anwälte geboten ist. Allerdings ist eine Vertretung durch Anwälte gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz BVerfGG nur in der mündlichen Verhandlung vorgeschrieben. Der Beschwerdeführer begehrt jedoch die Beiordnung für das gesamte Verfahren, um weiteres Vorbringen durch den Rechtsanwalt zu ermöglichen. Auch in diesem Umfang ist der Antrag zulässig (vgl. BVerfGE 1, 109 <112 f.>).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das gesamte Verfassungsbeschwerde-Verfahren ist begründet. Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, erhält gemäß § 114 ZPO auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dass der Beschwerdeführer nach 32 Jahren Haft nicht zur Aufbringung der Kosten der Prozessführung durch Beauftragung eines Rechtsanwalts in der Lage ist, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass sein Begehren nicht mutwillig erscheint. Eine hinreichende Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls derzeit nicht auszuschließen.

b) Allerdings bestehen Bedenken gegen die Substantiierung der bisherigen Verfassungsbeschwerde-Begründung (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG).

Die Beanstandung des Verhaltens des Richters am Landgericht B. durch den Beschwerdeführer bildet keinen eigenständigen Angriffspunkt. Ein Ablehnungsverfahren nach §§ 24 ff. StPO hat der Beschwerdeführer nicht angestrengt; Gerichtsentscheidungen über eine Richterablehnung hat er nicht herbeigeführt und angegriffen. Mit einer pauschalen Beanstandung richterlichen Verhaltens kann er ein eigenständiges Angriffsziel nicht erreichen. Das Votum des Richters bei der Sachentscheidung des Kollegialgerichts entzieht sich einer Überprüfung (vgl. § 43 DRiG).

Eine Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die angegriffenen Sachentscheidungen hat der Beschwerdeführer nicht erläutert. Der Vorfall vom 31. Juli 2000 ist von den Fachgerichten in eigener Verantwortung aufgeklärt und bewertet worden; dagegen ist möglicherweise von Verfassungs wegen nichts zu erinnern (vgl. BVerfGE 95, 96 <128>). Aufklärungs- oder Darstellungslücken, die auf eine Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Freiheitsrechts hindeuten könnten (vgl. BVerfGE 70, 297 <308 ff.>), sind bisher nicht näher vorgetragen worden. War der im Verfassungsbeschwerde-Verfahren bisher nicht anwaltlich beratene Beschwerdeführer aber wegen körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen ohne sein Verschulden daran gehindert, im Sinne der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG ausreichenden Vortrag innerhalb der einmonatigen Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG anzubringen, so kann dieser Mangel nach Beiordnung eines Rechtsanwalts möglicherweise geheilt werden. Dazu bedarf es gegebenenfalls eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 93 Abs. 2 BVerfGG). Dies erscheint bei anwaltlicher Beratung des Beschwerdeführers nicht von vornherein ausgeschlossen.

c) Hinreichende Erfolgsaussicht hat die Verfassungsbeschwerde auch bezüglich der Frage, ob die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach 32 Jahren Haft angemessen ist.

Die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe wegen einer festgestellten Gefährlichkeit des Beschwerdeführers verstößt nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings grundsätzlich nicht gegen die Menschenwürde (BVerfGE 45, 187 <242>); der Erste Senat hat dies in seinem Urteil vom 21. Juni 1977 auf dem damaligen Stand der Erkenntnisse entschieden, aber keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit seiner Entscheidung erhoben (BVerfGE 45, 187 <229>). Auch danach ist nicht entschieden worden, ob von Verfassungs wegen die Festlegung einer generellen Obergrenze für die aus Gründen der besonderen Schwere der Schuld zu verbüßende Zeit der lebenslangen Freiheitsstrafe geboten ist (vgl. BVerfGE 86, 288 <334>). Vom Zweiten Senat wurde im Beschluss vom 3. Juni 1992 (BVerfGE 86, 288 <310 ff.>) unter dem Gesichtspunkt hinreichender Bestimmtheit der Strafe gefordert, dass eine besondere Schwere der Schuld gegebenenfalls schon im Erkenntnisverfahren festgestellt werden muss und im Vollstreckungsverfahren frühzeitig zu entscheiden ist, wie lange dem Verurteilten eine besondere Schwere der Schuld als Aussetzungshindernis noch entgegen gehalten werden kann (BVerfGE 86, 288 <329>). Es sei ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dass für den Verurteilten die voraussichtliche Vollstreckungsdauer vorhersehbar sei und ihm die Hoffnung belassen bleibe, jemals die Freiheit zurückzugewinnen. Dem ist das „Dilemma“ entnommen worden, ob eine lebenslange Freiheitsstrafe überhaupt noch als schuldangemessene Strafe betrachtet werden kann (Mahrenholz, in: BVerfGE 86, 340 <345 ff., 352 ff.>). Angesichts zunehmender Kritik an der lebenslangen Freiheitsstrafe in der Literatur (zusammenfassend Bock/Mährlein, ZRP 1997, S. 376 <378 ff.> m.w.N.) ergibt sich für den vorliegenden Fall möglicherweise die weitere Frage, ob eine Freiheitsentziehung, die nicht mehr wegen der besonderen Schwere der Schuld geboten ist, mit Blick auf die Annahme fortbestehender Gefährlichkeit des Verurteilten überhaupt noch a l s   S t r a f e   zum gerechten Schuldausgleich (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 86, 288 <313>) gerechtfertigt sein kann (vgl. u.a. zur Spezialprävention Hartmut-Michael Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, 1999, S. 411 ff.). Es stellt sich darüber hinaus möglicherweise die Frage, ob zur Abwehr im Einzelfall konkret festgestellter Gefahren statt dessen eine Maßregel oder eine andere Maßnahme dienen könnte, deren Vollstreckung gegebenenfalls anders auszugestalten wäre.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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