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Strafkammer des Landgerichts Potsdam hält Wehrpflicht für verfassungswidrig

Eine Berufungskammer des Landgerichts Potsdam hat durch einen am 19.03.1999 verkündeten Beschluß ein Strafverfahren gegen einen sog. Totalverweigerer ausgesetzt und die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über die Frage vorgelegt, ob die allgemeine Wehrpflicht und die darauf beruhenden Strafvorschriften mit dem Grundgesetz vereinbar sind. In erster Instanz war der Angeklagte wegen Dienstflucht zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Das Berufungsgericht hält angesichts der veränderten militärischen und geopolitischen Lage den Fortbestand der allgemeinen Wehrpflicht für einen nicht mehr verhältnismäßigen Grundrechtseingriff. Nach Ansicht der Kammer kann dem Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes in mindestens ebenso geeigneter, den einzelnen in seinen Grundrechten aber nicht belastenden Weise durch Einführung einer Freiwilligenarmee Rechnung getragen werden.

Die schriftlichen Entscheidungsgründe werden im folgenden auszugsweise mitgeteilt:

 

23 (H) Ns 72/98 Landgericht Potsdam
79 Ds 172/94 Amtsgericht Potsdam
46 Js 1052/93 Staatsanwaltschaft Potsdam

Landgericht Potsdam

Vorlagebeschluß

 

In dem Strafverfahren

g e g e n xx w e g e n Dienstflucht b e s c h l o s s e n:

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Es ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, daß die allgemeine Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 WehrPflG) und darauf basierend die Strafbarkeit der Dienstflucht (§ 53 ZDG) mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb ungültig sind.

 

Aus den Gründen:

I. Sachverhalt und Prozeßgeschichte:

II. Zulässigkeit der Vorlage

Die Vorlageberechtigung der kleinen Strafkammer nach Art. 100 Abs. 1 GG, 80 BVerfGG steht außer Frage; keine Bedenken bestehen auch gegen die Vorlagefähigkeit der Rechtsnormen, da es sich sämtlich um nachkonstitutionelle Gesetze handelt.

1. Frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht

Die Tatsache, daß sich das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht zu befassen hatte und diese – unter den damaligen politischen Bedingungen – ausdrücklich oder incidenter bejaht hat, steht einer erneuten Vorlage nicht entgegen. Denn es ist anerkannt, daß bei einem grundlegenden Wandel der Lebensverhältnisse (BVerfGE 20, 56 (86 f.); 26, 44 (56)) bzw. beim Vorbringen neuer Tatsachen oder neuer rechtlicher Gesichtspunkte die Gesetzeskraft älterer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einer erneuten Vorlage nicht im Wege steht (BVerfGE 77, 84 (104); 82, 198 (205 f.); 70, 242 (249 f.); Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 80, Rz. 30), zumal da das Bundesverfassungsgericht selbst an seine frühere Rechtsprechung nicht gebunden ist (BVerfGE 77, 84 (104) m. w. N.).

So liegt es hier. Das Bundesverfassungsgericht hat über die Rechtmäßigkeit, insbesondere die Verhältnismäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht seit dem Ende der Blockkonfrontation und des sogenannten Kalten Krieges noch nicht entschieden; hinzu kommt eine weitere Verbesserung der sicherheitspolitischen Situation durch die Osterweiterung der NATO, die dazu geführt hat, daß die Bundesrepublik Deutschland, einem Wort des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Volker Rühe zufolge, nur noch „von Freunden umzingelt“ ist.

Die grundlegende Veränderung der verteidigungspolitischen Situation und der Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland läßt daher eine erneute grundsätzliche Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit der Vorlagefrage nicht nur zu, sondern läßt diese darüberhinaus als geboten erscheinen.

2. Entscheidungserheblichkeit

Die Vorlagefrage ist für die Entscheidung des Gerichts auch bei strenger Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit erheblich. Das Normenkontrollverfahren ist unerläßlich, weil die gerichtliche Entscheidung im Ausgangsverfahren von der vom Bundesverfassungsgericht zu treffenden Entscheidung abhängt.

a)
Festzuhalten ist zunächst, daß der Angeklagte den Tatbestand der Dienstflucht (§ 53 ZDG) vorsätzlich verwirklicht hat, ohne daß anerkannte Rechtfertigungsgründe eingreifen. Das Gericht hätte somit auf Basis des geltenden Rechts zu einem Schuldspruch kommen müssen; wäre die Vorlagefrage im Sinne des vorlegenden Gerichts zu beantworten, müßte freigesprochen werden.

b)
Ein Freispruch kommt nach Überzeugung der Kammer auch nicht aus anderen Gründen in Betracht, etwa aufgrund einer analogen Anwendung des § 35 StGB oder aufgrund eines unmittelbaren Rückgriffs auf Art. 4 GG oder Art. 1 GG mit der Folge eines Ausschlusses der Strafbarkeit. Zwar wurden in Rechtsprechung und Literatur derartige Ansätze zuweilen vertreten, die Kammer hat sich diesen jedoch nicht anschließen können. Sie hält die dort beschrittenen Wege für juristisch nicht vertretbar.

aa)
Das Amtsgericht Hamburg-Harburg hat in einem nicht rechtskräftigen Urteil vom 03. März 1986 (621 Ds 108/86) einen Totalverweigerer vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung unter Rückgriff auf Art. 1 GG freigesprochen.

Der Angeklagte, der den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert hatte, gegen den seinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ablehnenden Bescheid jedoch nicht verwaltungsgerichtlich vorgegangen war, hatte aus Gewissensgründen Befehle verweigert. Das Amtsgericht Hamburg-Harburg sah eine rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestands der Gehorsamsverweigerung, verneinte aber unter unmittelbarem Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG die Schuld. Es war der Auffassung, Art. 1 Abs. 1 GG sei kein „nett gemeinter Programmsatz ohne rechtsverbindliche Wirkung …., sondern ein volles subjektives Recht des Individuums gegenüber staatlicher Hoheitsmacht. Aus diesem Grundrecht fließe eine kategorische Entscheidungsmaxime“, die auch den Strafrichter binde. Da für das Gericht zweifelsfrei feststehe, daß das Verhalten des Angeklagten auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung beruhe, sei nicht nur seine Menschenwürde, sondern auch seine Glaubens- und Gewissensfreiheit durch eine Verurteilung verletzt. Eine strafrechtliche Sanktion verbiete sich daher. Die echte Konfliktsituation in der Person des Angeklagten und der Schutz der Menschenwürde gebiete seinen Freispruch (Amtsgericht Hamburg-Harburg, in: UrIS – Urteils- und Informationsservice totale Kriegsdienstverweigerung -, Lieferung 1/90 vom 05.05.1990, Nr. 122, Seite 1 ff.).

Die gleiche Auffassung wird vom Amtsgericht Idar/Oberstein in einem Urteil vom 26. April 1985 (Az.: J 239/85 Ls jug., zit. nach ebd.) vertreten.

Das Amtsgericht Hamburg-Harburg beruft sich im übrigen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1971 (1 BVR 387/65, BVerfGE 32, 98 ff.). In dieser Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht die Auffassung vertreten, daß die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG bei einem Zeugen Jehovas zum Absehen von Strafe führen könnte, der aus seiner religiösen Überzeugung eine Bluttransfusion für seine Ehefrau, die der gleichen Glaubensrichtung angehört hatte, abgelehnt hatte, so daß diese gestorben war. Der Angeklagte war von der ordentlichen Gerichtsbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden, bis das Bundesverfassungsgericht entschied, daß durch diese Verurteilung sein Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verletzt sei. Der erste Senat hat in dem zitierten Beschluß die Auffassung vertreten, daß das Verhalten des Angeklagten zwar objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wertvorstellungen zu mißbilligen sei, der Angeklagte, der jedoch meinte, daß das Beten im Gegensatz zur Bluttransfusion das richtige Mittel zur Rettung seiner Ehefrau sei, sich subjektiv rechtstreu verhalten wollte mit der Folge, seine Glaubens- und Gewissensentscheidung in einer Grenzsituation sei nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, daß es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen. Kriminalstrafe sei unabhängig von ihrer Höhe bei einer solchen Fallgestaltung unter keinem Aspekt (Vergeltung, Prävention, Resozialisierung des Täters) eine adäquate Sanktion. Das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG müsse jedenfalls dann unmittelbar zu einem „Zurückweichen des Strafrechts“ führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringe, der gegenüber die kriminelle Bestrafung, die ihn zum Rechtsbrecher stemple, sich als übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde.

Unabhängig von der vom Bundesverfassungsgericht dogmatisch offen gelassenen Frage, wie ein unmittelbarer Rückgriff auf Grundrechte sich in die Dogmatik des Strafrechts einfügt (am ehesten in Betracht käme vermutlich der Topos der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens), liegt der hier zu entscheidende Fall ebenso wie der vom Amtsgericht Hamburg-Harburg entschiedene anders als derjenige, der der Entscheidung des ersten Senates des Bundesverfassungsgerichtes zugrundegelegen hat. Der entscheidende Unterschied ist nämlich derjenige, daß der Zeuge Jehovas aufgrund seiner religiösen Überzeugung geglaubt hatte, das Beten sei eine bessere und angemessenere Methode zur Rettung seiner Frau als die objektiv indizierte medizinische Maßnahme. Er wollte sich damit subjektiv nicht gegen die geltende Rechtsordnung stellen, da er keine Hilfeleistung unterlassen wollte, sondern aufgrund seiner fehlerhaften subjektiven Vorstellungen nur über das richtige Mittel der Hilfeleistung irrte. Bei Befehlsverweigerern bzw. Totalverweigerern aus Gewissensgründen liegt es jedoch anders. Dieser Personenkreis trifft – sei es auch aus Gewissensgründen – subjektiv die bewußte Entscheidung, ein geltendes Strafgesetz zu verletzen. Bei einer derartigen Konstellation scheint dem Gericht auch der unmittelbare Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG als Entschuldigungs- oder persönlicher Strafausschließungsgrund kein gangbarer Weg zu sein. Art. 1 Abs. 1 GG ist nach seinem Wortlaut, nach seinem Sinngehalt und nach seiner Entstehungsgeschichte ebensowenig wie Art. 4 Abs. 1 GG geeignet, die Befolgung von Strafgesetzen unter einen unmittelbaren Gewissensvorbehalt zu stellen.

bb)
Ein ähnlicher Ansatz wird auch von Mahrenholz (Das Gewissen und die Wehrpflicht, Grundlinien zur Lösung der Probleme um die totale KDV, Mitteilungen der Zentralstelle der KDV 95, 186 ff.) sowie von Roxin (Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. A. München 1997, § 22 C, S. 868 ff.) vertreten. Während Mahrenholz ebenfalls einen unmittelbaren Rückgriff auf Art. 4 GG vornimmt, ohne eine nähere strafrechtliche Einordnung zu diskutieren, sieht Roxin zwar keinen Rechtfertigungsgrund (a. a. O., Rz. 121), aber einen Fall ausgeschlossener Verantwortlichkeit im Sinne eines Entschuldigungsgrundes. Zwar handle der Gewissenstäter unter strafrechtlichen Aspekten zunächst nicht schuldlos, denn er mißachte ein Gesetz, das der grundsätzlichen Wertordnung und dem demokratischen Mehrheitsprinzip entspreche und daher mit Recht Respektierung verlangen könne, es existiere aber ein Gewissensprivileg entsprechend den Regeln des Verantwortungsausschlusses, speziell des exculpierenden Notstandes.

cc)
Auf einer ähnlichen Linie bewegt sich das Landgericht Frankfurt am Main (5 Ns 15/87, 74 Js 160/84, Urteil vom 30. September 1987, UrIS 1/88, Seite 1 ff.). Es hat einen Totalverweigerer wegen schuldausschließenden Notstands im Wege analoger Anwendung des § 35 StGB vom Vorwurf der Dienstflucht freigesprochen mit der Begründung, die gesetzliche Beschränkung des § 35 StGB auf Rechtsgüter wie Leben, Leib und Freiheit verkenne, daß die Gefährdung anderer Rechtsgüter, die ebenso schützenswert seien wie die des § 35 StGB, einen ebenso starken psychischen Druck auf den Täter ausüben könne und daß er zwecks Rettung dieser Güter zu einem ebenso normwidrigen Verhalten gedrängt werde wie in den Fällen, für die § 35 StGB ausdrücklich vorgesehen sei. Zwar sei bei Annahme einer solchen Zwangslage ein strenger Maßstab anzulegen; prinzipiell könne aber Gegenstand einer analogen Anwendung des § 35 StGB auch die persönliche Zwangslage desjenigen Täters sein, bei dem der Zwang zu rechtlich gebotenem Verhalten ein „gewissenskonformes Leben“ des Täters unmöglich mache und so „seine Persönlichkeit zu zerstören“ drohe. In einem solchem Fall stünden Rechtsgüter auf dem Spiel, die in ihrer Bedeutung und Schutzwürdigkeit den im § 35 StGB ausdrücklich genannten gleichstünden.

dd)
Das Amtsgericht Lüneburg (20 Ls 11 Js 2174/84 (149/84), Urteil vom 13.12.1984, StV 85, 64 f.) kam ebenfalls unter Rückgriff auf die o. g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unter Annahme eines „übergesetzlichen Schuldausschließungsgrundes“ zu der Erkenntnis, daß der Angeklagte nicht schuldhaft gehandelt habe, und sprach ihn frei (AG Lüneburg, a. a. O.; vgl. die zustimmende Besprechung von Nestler/Tremel, StV 85, 343 ff mit zahlreichen weiteren Nachweisen ).

Die Kammer vermochte sich all diesen Ansätzen, ohne daß es näher auf die Differenzierung zwischen einer analogen Anwendung des § 35 StGB, einem „übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund“ oder einem persönlichen Strafausschließungsgrund ankäme, nicht anzuschließen. § 35 StGB ist als bewußt eng gefaßte Ausnahmevorschrift einer analogen Anwendung nicht zugänglich. Eine analoge Anwendung des § 35 StGB wie auch der grundsätzliche Verzicht des Staates auf eine Strafbarkeit von Glaubens- oder Gewissenstätern mit in Nuancen abweichender strafrechtsdogmatischer Begründung vermochte die Kammer nicht zu überzeugen. Entscheidend hierfür ist, daß die von Roxin geforderte Abgrenzung zwischen Überzeugungs- und Gewissenstäter kaum möglich erscheint und daß es, wie das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 22.04.1988, StV 89, 107 ff.) zutreffend hervorgehoben hat, zu einer Auflösung der Rechtsordnung und einer Aufweichung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes führt, wenn man ein Recht auf gewissenskonformes Leben und auf ein lebenswertes, vor sich selbst und den Mitmenschen verantwortbares Dasein für notstandsfähig oder sonst schuld- bzw. strafausschließenswürdig hält. Zu Recht weist das OLG Frankfurt darauf hin, daß durch eine solche Auffassung Geltung und Verbindlichkeit der Rechtsordnung für den einzelnen unter dem Vorbehalt seines Gewissens gestellt und damit die Rechtsordnung letztlich außer Kraft gesetzt werde (OLG Frankfurt a. a. O, Seite 108; vgl. auch Strohensee, JZ 34, 645 (647); Rudolphi, Festschrift für Welzel, Seite 605 (629)).

Zutreffend und in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Kammer weist auch das OLG Frankfurt darauf hin, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 32, 98 ff. keinen Anlaß zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung gibt, weil das Bundesverfassungsgericht, wie oben bereits ausgeführt, darauf hingewiesen hat, daß der Angeklagte das durch § 330 c StGB geschützte Rechtsgut habe wahren wollen, nur habe er aus Glaubensgründen das Gebet für den richtigen Weg gehalten, das Leben seiner Frau zu retten.

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ee)
Für gänzlich abwegig hält die Kammer schließlich die Auffassung des LG Rostock (Az.: IV Ns 39/93, 322 Js 8187/92, Urteil vom 10.06.1994, in: UrlS – Urteils- u. Informationssammlung totale Kriegsdienstverweigerung, Lieferung 4/97 vom 01.08.1997, Nr. 344, S. 1 ff. m. abl. Anm. Werner). Das Landgericht hat einen aus der DDR stammenden Totalverweigerer vom Vorwurf der Dienstflucht unter analoger Anwendung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 g StrRehaG und § 10 Abs. 2 ZDG freigesprochen. Diese Auffassung verkennt, daß das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz vom 29.10.1992 eine gänzlich andere Intention als die Beurteilung der Strafbarkeit von Totalverweigerern hatte; im übrigen hätte eine solche Rechtsprechung die unter Gleichbehandlungsgrundsätzen nicht vertretbare unterschiedliche Beurteilung von Totalverweigerern mit DDR-Vorgeschichte und solchen, die aus den alten Bundesländern stammen, zur Folge.

c)
Selbst wenn man jedoch abweichend von der von der Kammer vertretenen Auffassung bei Totalverweigerern, die aus ernsthaften Gewissensgründen handeln, einen Freispruch infolge fehlender Schuld bzw. ein Absehen von Strafe infolge eines persönlichen Strafausschließungsgrundes prinzipiell für möglich hält, ist das Normenkontrollverfahren dennoch unerläßlich, weil es auch in diesem Fall auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der Normen ankommt. Grundsätzlich gilt zwar, daß es nur dann auf die Gültigkeit der Norm ankommt, wenn das vorliegende Gericht im Falle der Ungültigkeit anders entscheiden würde als im Falle ihrer Gültigkeit(vgl. BVerfGE 65, 265 (277), 80, 59 (65) jeweils m. w. N.).

Ob eine „andere“ Entscheidung in der Sache vorliegt, läßt sich indessen nicht allein von dem Ergebnis Strafbarkeit oder Verzicht auf Bestrafung des Täters ableiten. Denn in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, daß auch ein freisprechendes (BVerfGE 6, 7 ff.) bzw. klageabweisendes (BVerfGE 13, 97 f. (103)) Urteil den Angeklagten bzw. Beklagten durch die Art seiner Begründung in seinen Grundrechten verletzen kann. So liegt es im vorliegenden Fall. Selbst wenn man einen persönlichen Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgrund annehmen und damit zu einem Freispruch oder zu einem Absehen von Strafe gelangen würde, bliebe dennoch das generelle Rechtswidrigkeits- und Unwerturteil der Gesellschaft über das Verhalten des Angeklagten erhalten. Im Falle einer Verfassungswidrigkeit der allgemeinen Wehrpflicht wäre der Angeklagte jedoch mit diesem gesellschaftlichen Unwerturteil nicht belastet. Mithin käme es auch dann, wenn man, wie es die Kammer ausdrücklich nicht tut, den oben dargestellten abweichenden Ansichten zur strafrechtlichen Behandlung von Gewissenstätern folgen würde, auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an.

3. Keine Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung

Auch eine verfassungskonforme Auslegung des § 53 ZDG, die ebenfalls nur in Form eines Verzichts auf Strafbarkeit für Gewissenstäter analog zu den sub II. 2. b. erörterten Kriterien erfolgen könnte, kommt nach Auffassung der Kammer aus den dort genannten Gründen nicht in Betracht. Während die Strafnormen betreffend die Verletzung von Pflichten zur militärischen Dienstleistung (§§ 15 ff. WStG) einer verfassungskonformen Auslegung prinzipiell insoweit zugänglich wären, als man ihre Anwendung unter Ausklammerung der Wehrdienstleistenden auf Berufs- und Zeitsoldaten, die sich freiwillig verpflichtet haben, beschränken könnte, besteht eine solche Möglichkeit für § 53 ZDG, der ja stets Zwangsverpflichtete betrifft, naturgemäß nicht.

 

III. Materielle Verfassungswidrigkeit des § 53 ZDG und der allgemeinen Wehrpflicht

Die Kammer ist der Überzeugung, daß die strafbewehrte Aufrechterhaltung einer allgemeinen Wehrpflicht jedenfalls unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen nicht mehr verfassungsgemäß ist. Insbesondere ist eine allgemeine Wehrpflicht zur Landesverteidigung nicht erforderlich, so daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt ist. Da die allgemeine Wehrpflicht von Verfassungs wegen nicht mehr aufrechterhalten werden kann, sind die Strafnormen, die ihrer zwangsweisen Durchsetzung dienen, also im Falle des Zivildienstes § 53 ZDG, ebenfalls nicht verfassungsgemäß und daher nichtig.

1. Verletzte Grundrechte der Wehrpflichtigen

Durch das Übermaßverbot verletzt sind insbesondere Grundrechte der Wehrpflichtigen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), ferner auch das Grundrecht auf

Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG), das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und Schutz der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG).

Daß der Schutzbereich der genannten Grundrechte tangiert ist, liegt auf der Hand. Es ist offensichtlich, daß die allgemeine Wehrpflicht das Recht eines jeden tauglichen deutschen Mannes auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) beschränkt. Ferner ist, da jeder Soldat in einer Kriegssituation gezwungen wird, seine Wehrpflicht zu erfüllen, auch der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG tangiert, weil jeder Soldat naturgemäß der Gefahr eines gewaltsamen Todes ausgesetzt ist. Vom Wehrpflichtigen wird daher prinzipiell der Einsatz seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit verlangt. Gleiches gilt für die Hinnahme der Beschränkung der Freiheit seiner Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG).

Schließlich ist die durch die Berufsfreiheit des Art. 12 GG geschützte Individualsphäre zu sehen, da die Dienstzeit mit einem Einkommensausfall verbunden ist, der durch den Wehrsold bzw. die Vergütung für den Zivildienst nur unzureichend kompensiert wird. Lebens- und Berufsplanungsrisiken sind mit dem Zwangsdienst verbunden und insgesamt entstehen daraus individuelle Kosten, die durchaus das Ausmaß üblicher steuerlicher Belastungen deutlich überschreiten können (vgl. Hanno Beck/Adolf Prinz, Wehrpflicht – ökonomisch betrachtet, in: Wirtschaftsdienst 1994/9 Seite 449 ff.; Götz Frank, Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Rahmen der Wehrpflicht, in: Auslaufmodell Wehrpflichtarmee, Dokumentation einer Fachtagung im November 1996, herausgegeben von der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e. V., Bremen 1996, Seite 8 ff.). Daß auch der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG (Freizügigkeit) und – bei verheirateten Soldaten und solchen mit Kindern – derjenige des Art. 6 GG tangiert ist, liegt auf der Hand und bedarf keiner eingehenden Begründung.

Die genannten Grundrechte sind jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Insbesondere eröffnet Art. 12 a GG dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilverband zu verpflichten.

Der durch die Wehrpflicht bewirkte Eingriff in die genannten Grundrechte ist daher „an den bewährten Maßstäben der Grundrechtsdogmatik zu prüfen“ (Baldus, die Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht und der veränderten militärpolitischen Bedingungen, NZWehrR 1993/3, 92 ff. (93)).

Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit die Existenz des Art. 12 a Abs. 1 GG das Verhältnis der Wehrpflicht zu den hierdurch betroffenen Grundrechten beeinflußt (vgl. Heimann, ZRP 1996, 20 ff. (23)).

2. Rechtsnatur des Art. 12 a GG

a) Die allgemeine Wehrpflicht ist keine „Grundpflicht“

Dabei stellt sich die Frage nach der Rechtsnatur und Funktion des Art. 12 a GG, insbesondere, ob er eine sogenannte verfassungsrechtliche „Grundpflicht“ statuiert. In diesem Falle könnte die Wehrpflicht als Grundpflicht eine von der herkömmlichen Schrankensystematik abstrakte Wirkung entfalten, d. h. in jedem Fall Vorrang vor den Grundrechten des Individuums haben. Derartig qualifizierte „Grundpflichten“ fallen als unmittelbare, allen Freiheitsgrundrechten gleichsam a priori anhaftende Schranken aus der bewährten Schrankensystematik heraus. Nach einer solchen Auffassung stellen Grundpflichten für den Bestand der Gemeinschaft unverzichtbare Rechtsgüter dar und treten, dogmatisch betrachtet, als eine gegenüber den üblichen Grundrechtsschranken eigenständige Kategorie auf, die nicht der Verfügbarkeit des einfachen Gesetzgebers unterliegt und deren Verhältnis zu den Grundrechten nicht etwa durch die Systematik von Schranke und Schranken-Schranke festgelegt, sondern als das der „partiellen“, zeitweiligen oder okkasionellen Kollision und des entsprechenden Vorrangs der Pflicht (Hofmann, VVDStRL 41 1983, Seite 77) bestimmt wird (für die Annahme einer „Grundpflicht“ auch Gubelt in von Münch, GG, Art. 12 a, Rz. 1; Götz , VVDStRL 41, 23 f.).

Auf derartige Art und Weise war Art. 133 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ausgestaltet, der eine allgemeine Wehrpflicht „nach Maßgabe der Gesetze“ verfassungsunmittelbar statuierte.

Der Verfassungsgeber ist jedoch bei der Regelung der Wehrpflicht klar erkennbar nicht dem Weimarer Vorbild gefolgt, sondern hat auf die Rechtsfigur der Grundpflicht als Gegenüber zu den Grundrechten bewußt verzichtet (Frank, in: AK zum GG, hinter Art. 87, RZ 79). Denn das Grundgesetz mißt dem Staat, dem solche Pflichten zu erbringen wären, keinen vom Individuum abgelösten Eigenwert bei. Es gibt danach kein Rechten- und Pflichtenaustauschverhältnis, da der Staat selbst um des Individuums willen da ist, nicht aber umgekehrt (Frank, a. a. O.; Lutz, Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung, Rechtspflicht versus Grundrecht in: Friedensanalysen 2 (1976) 163 ff. (169); Groß/Lutz, Wehrpflicht ausgedient, in: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik Heft 103, Hamburg 1976, Seite 8; Baldus, a. a. O., Seite 97 f.).

Baldus (a. a. O., m. w. N.) weist Recht darauf hin, daß man der vordemokratischen Lehre vom Grundpflichtenvorbehalt mit grundsätzlicher Kritik begegnen muß, sie für dogmatisch verzichtbar (Böckenförde, VVDStRL 41 1983, Seite 116) oder in einem bürgerlichen Rechtsstaat gar für undenkbar halten kann. Er weist ferner darauf hin, daß ein weiterer gewichtiger Einwand aus der Erkenntnis folgt, daß die Loslösung der Grundpflichten von der grundrechtssichernden Schrankensystematik die Preisgabe des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips zur Folge hat, wonach die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre dagegen prinzipiell begrenzt ist (Baldus a. a. O., Seite 98, m. w. N.).

Die Anerkennung eines Grundpflichtenvorbehalts führte dazu, daß sich dieses Verteilungsprinzip in sein Gegenteil verkehrte, daß die Freiheit des Einzelnen als prinzipiell durch Grundpflichten begrenzt verstanden wird und sich die Eingriffsbefugnisse des Staates bei der Aktualisierung und Durchsetzung sogenannter Grundpflichten ins Grenzenlose erweiterten.

Entscheidendes Argument gegen die Annahme einer verfassungsunmittelbaren Grundpflicht ist jedoch bereits der Wortlaut des Art. 12 a Abs. 1 GG, der keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß diese Rechtsfigur aus der Weimarer Reichsverfassung hier fortbestehen soll, weil Art. 12 a GG nur von einem „Können“ spricht, dem Gesetzgeber also ersichtlich einErmessen eröffnet. Dies steht auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das wiederholt darauf hingewiesen hat, daß die Verfassung eine allgemeine Wehrpflicht nicht gebietet, sondern die Landesverteidigung verfassungsrechtlich unbedenklich beispielsweise auch durch eine Freiwilligenarmee sichergestellt werden könnte (vgl. BVerfGE 48, 127 (160)).

b) Die Wehrpflicht als eigenständige „verfassungsrechtliche Pflicht“?

Der Lehre von den „Grundpflichten“ wesensverwandt ist die Auffassung , die Wehrpflicht sei eine eigenständige „verfassungsrechtliche Pflicht“.

Nach früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfährt die Wehrpflicht ihre Aufstufung zu einer eigenständigen „verfassungsrechtlichen Pflicht“ dadurch, „daß der Staat, der Menschenwürde, Leben, Freiheit und Eigentum als Grundrechte anerkennt und schützt, dieser verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung gegenüber seinen Bürgern nur mit Hilfe eben dieser Bürger und ihrem Eintreten für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland nachkommen kann. Mit anderen Worten: Individueller grundrechtlicher Schutzanspruch und gemeinschaftsbezogene Pflicht der Bürger eines demokratisch verfaßten Staates, zur Sicherung dieser Verfassungsordnung beizutragen, entsprechen einander.“ (BVerfGE 48, 127 (161), wiederholt in BVerfGE 69, 1 (22)).

Baldus (a. a. O., Seite 98 f.) weist mit Recht darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht sich nicht, wie gelegentlich zu Unrecht behauptet wird (z. B. von Scholz in Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, GG, Art. 12 a, Rz. 18, der die Wehrpflicht auch als „Grundpflicht“ bezeichnet ), auf Art. 12 a GG stützt, um die verfassungsrechtliche Verankerung der allgemeinen Wehrpflicht zu begründen, sondern die Grundrechte gleichsam als Verfassungsmaterial heranzieht und sie mit einem staatstheoretischen Argument verbindet: Die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte könnten nur dann als sinnvoll gedacht werden, wenn es realiter einen Staat gebe, der sie garantieren könne. Die Gewährung von Grundrechten setze den Staat voraus. Dessen Existenz und Fortbestand wiederum verlange angesichts innerer und äußerer Bedrohung nach einer Leistung des Bürgers, die dieser durch Erfüllung seiner Wehrpflicht erbringe. Kurz: Freiheitsgewähr und Schutz durch den Staat gegen die Pflicht, ihn zu verteidigen.

Baldus (a. a. O., Seite 99 f.) hat dieser nur scheinbar einleuchtenden Argumentation zu Recht folgendes entgegengehalten:

„…. sie büßt von ihrer Überzeugungskraft ein, wenn man sich das Bild eines Staaten- oder Bürgerkriegs vor Augen führt. Der Soldat, der in einer Kriegssituation gezwungen wird, seine Wehrpflicht zu erfüllen, wird der Schutzlosigkeit und der Gefahr eines gewaltsamen Todes ausgesetzt. Das galt früher und gilt auch noch heute. Auch im Konzept der Bundeswehr ist für den Ernstfall die Vernichtung einer gewissen Anzahl eigener Soldaten einkalkuliert. Damit verliert aber die Begründung ihren Sinn, der Bürger müsse den Staat gegen äußere oder innere Bedrohungen verteidigen, damit dieser imstande bleibt, seine Rechte zu schützen. Denn die dem einzelnen Soldaten gewährten Rechte laufen leer, sie nützen ihm nicht mehr, wenn ihm aufgetragen ist, den Fortbestand des Staates nötigenfalls mit dem eigenen Leben zu sichern. Es geht nicht überein, den einzelnen dem Tode preiszugeben, ihn sogar zur Todesbereitschaft zu zwingen und sich zur Rechtfertigung darauf zu berufen, daß nur auf diese Weise der Staat seine Rechte zu schützen vermag. Und allein dieser Schutz gibt dem Bürger einen sinnvollen Anlaß, einen Staat zu konstituieren und sich seinem Zwang zu unterwerfen. Der Staat darf nur solange zwingen, wie er schützen kann. Aus diesem Grundbaustein einer rationalen und individualistischen Staatstheorie, also einer Theorie, die staatlichen Zwang mit der für das Individuum erbrachten Schutzleistung legitimiert, kann nicht die Pflicht abgeleitet werden, das eigene Leben für die Existenz des Staates aufs Spiel zu setzen. Wird eine solche Pflicht dennoch postuliert, so verliert der Staat seinen Schutzzweck und gewinnt gegenüber dem Leben des einzelnen einen Eigenwert. Berücksichtigt man dagegen, daß das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 von aller staatlichen Gewalt verlangt, die Würde jedes einzelnen zu achten und zu schützen – der Herrenchiemseer Entwurf sprach gar davon, daß der Staat um des Menschen willen da ist, „nicht der Mensch um des Staates willen“ -, so kann nur gefolgert werden, daß eine kollektivistische Staatstheorie mit dem Staatsverständnis des GG unvereinbar ist. Die Existenzfähigkeit des Staates genießt gegenüber der Existenz des einzelnen keinen Vorrang. Auf dem Boden einer liberal-individualistischen Staatstheorie läßt es sich also nicht rechtfertigen, daß auch nur ein einzelner gezwungen wird, sein Leben für das Leben anderer zu opfern.“

Diesen überzeugenden Erwägungen hat sich die Kammer in vollem Umfang angeschlossen.

Im übrigen gilt für die Beurteilung der dogmatisch eigentümlich unscharfen Figur von einer eigenständigen „verfassungsrechtlichen Pflicht“ folgendes:

Hätte der Verfassungsgeber eine verfassungsunmittelbare Verpflichtung schaffen wollen, hätte es ihm freigestanden dies so – wie in Art. 133 WRV – zu formulieren. Die eindeutige und bewußte Wahl des Wortes „kann“ in Art. 12 a GG (siehe dazu oben sub a.) läßt nur den Schluß zu, daß dem einfachen Gesetzgeber Ermessen eröffnet werden sollte. Wo aber gesetzgeberisches Ermessen eröffnet ist, kann der Gesetzgeber von der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gänzlich dispensiert sein, da sich gesetzgeberische Tätigkeit, was sich zwingend aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, nie – auch nicht in bestimmten Teilbereichen – im rechtsfreien Raum entfaltet.

c) Wehrpflicht als einfachgesetzliche Pflicht

Die Wehrpflicht ist mithin weder eine „Grundpflicht“ im Sinne der älteren Verfassungsdogmatik noch eine unmittelbar verfassungsrechtlich oder verfassungs- und staatstheoretisch zu begründende außerhalb der verfassungsrechtlichen Schrankensystematik stehende höherrangige Pflicht, sondern eine durch §§ 1 und 3 WehrpflG begründete einfachgesetzliche Pflicht, die der Gesetzgeber auf Grundlage von Art. 12 a Abs. 1 GG statuiert hat. Art. 12 a Abs. 1 GG kommt damit einerseits eine Begrenzungsfunktion zu (der Gesetzgeber darf lediglich Männer eines bestimmten Alters, nämlich über 18 Jahren, verpflichten), andererseits eine Funktion als Eingriffsermächtigung in die betroffenen Freiheitsrechte (Frank, a. a. O.; Merten, Grundpflichten im Verfassungssystem, BayVbl 1978, 558) in der Form eines qualifizierten bzw. gebündelten Gesetzesvorbehalts.

Es steht mithin im gesetzgeberischen Ermessen, ob eine Wehrpflicht eingeführt oder abgeschafft oder wie auch immer modifiziert wird (BVerfGE 48, 127 ff.; Frank, a. a. O., Rz 82; K.Ipsen/J.Ipsen, in: Bonner Kommentar, Art. 12 a, Rz 21 ff.).

3. Wehrpflicht und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Das gesetzgeberische Ermessen ist aber nicht grenzenlos. Es besteht nur im Rahmen des verfassungsimmanenten Prinzips der Verhältnismäßigkeit, insbesondere der Erforderlichkeit (Frank, ebd.).

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in einer sehr frühen Entscheidung vom 20. Dezember 1960 – also in einer besonders zugespitzten Zeit des sogenannten Kalten Krieges – die Auffassung vertreten, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sei für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht „kein adäquater Maßstab“ (BVerfGE 12, 45 ff. (52); bestätigt in BVerfGE 48, 127 (160 f.)).

Baldus (a. a. O., Seite 96) hat jedoch mit Recht darauf hingewiesen, daß die Gründe für die Unanwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitgrundsatzes „im dogmatischen Dunkel“ verbleiben. Dem Argument des Bundesverfassungsgerichts, daß die Schwere des Eingriffs nicht das alleinige Kriterium des Gesetzgebers bei der Wahl zwischen der einen oder der anderen Wehrform sei und dieser neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch weitere Gründe von sehr verschiedenem Gewicht zu bewerten und gegeneinander abzuwägen habe, ist zum einen entgegenzuhalten, daß der Gesetzgeber generell – nicht nur bei der Ausgestaltung der Wehrpflicht – einen weiten Gestaltungsspielraum hat und allgemein zahlreiche politische Gründe gesetzgeberische Entscheidungen beeinflussen können; dies spielt jedoch lediglich eine Rolle bei der Frage der gerichtlichen Prüfungsdichte, nicht aber dafür, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz generell unanwendbar bleiben soll. Nicht nur in der rechtswissenschaftlichen Literatur (vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 13. Auflage 1990, Seite 65; Katz, Staatsrecht, 13. Auflage 1996, Seite 101; Stein, Staatsrecht, 16. Auflage 1998, Seite 239; Windhorst, Verfassungsrecht 1, 1. Auflage 1994, Seite 253 f.; vgl. auch Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage 1994, Seite 1485), sondern auch in der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu anderen gesetzlichen Vorgaben ist anerkannt, daß die Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsgebots in das Verfassungsrecht zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt und alle drei Gewalten, also nicht nur die Verwaltung und die Rechtsprechung, sondern auch die Gesetzgebung bindet. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots ergeben sich danach als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip und besitzen Verfassungsrang. Das vom Gesetzgeber eingesetzte Mittel muß geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Das Mittel ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können (BVerfGE 30, 292 (316 f.); vergl. auch BVerfGE 17, 306 (313 ff.); 19, 331 (337); 25, 1 (18 ff.); 30, 250; 37, 1 (20 f.); 38, 139 (153); 38, 281 (302 f.); 39, 156 (165); 39, 210 (230 f.); 55, 159 (165); 75, 108 (154 f.); 77, 84 (109); 80, 137 (153, 159 f.)).

Es ist nicht einzusehen, warum Gesetze, die den Bürger weit weniger belasten, beispielsweise das Verbot eines Reitens im Walde (BVerfGE 80, a. a. O.), die Anforderungen an eine Falknerprüfung (BVerfGE 55, a. a. O.) oder die Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das Volkszählungsgesetz von 1982 (BVerfGE 65, 1 ff. (65)) einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen wurden, die Pflicht eines jungen Menschen, sich ggf. töten zu lassen oder selber töten zu müssen, dieser Schranke jedoch nicht unterfallen soll.

So hat auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und jetzige Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede anläßlich des 35. Kommandeurstagung der Bundeswehr in München am 15. November 1995 u. a. eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gefordert:

„Die vielfältigen Vorteile für Staat und Streitkräfte reichen aber meines Erachtens nicht als Begründung aus, ebenso wenig wie wolkige Rufe nach mehr Pflichtgefühl der jungen Leute. Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, daß ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges, ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können.“

Damit geht es, wie zur Vermeidung von Mißverständnissen ausdrücklich klarzustellen ist, nicht etwa um die Frage, ob Art. 12 a GG selbst verfassungswidrig ist, also um eine Frage des „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“. Diese Frage hat sich die Kammer ausdrücklich nicht gestellt. Es geht allein um die Frage, ob die aufgrund des durch Art. 12 a GG eröffneten gesetzgeberischen Ermessens getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, die allgemeine Wehrpflicht auch unter den heutigen Bedingungen noch aufrechtzuerhalten, noch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, an den der Gesetzgeber bei der Ausfüllung der verfassungsrechtlichen Ermächtigungsnorm gebunden ist, vereinbar ist.

Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zu untersuchen, ob das vom Gesetzgeber eingesetzte Mittel für die Erreichung des von ihm angestrebten Ziels geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

a) Gesetzgeberisches Ziel der allgemeinen Wehrpflicht

Es hat also zunächst eine allgemeine Bestimmung der Ziele zu erfolgen, die der Gesetzgeber mit der Statuierung der allgemeinen Wehrpflicht zu erfüllen trachtet.

Als Zielbestimmung ist zunächst vom Friedensziel des Art. 26 Abs. 1 GG und vom Verteidigungsauftrag des Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG auszugehen. Der sich aus der Verfassung allein ergebende Zweck der Einrichtung der Bundeswehr ist die Landesverteidigung (Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG). Die allgemeine Wehrpflicht ist als personale Grundlage dieser Streitkräfte von diesem Zweck folglich miterfaßt.

Zwar bietet Art. 87 a Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Rechtsgrundlage dafür, daß der Bund sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen kann und damit eine eigenständige verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte auch außerhalb der unmittelbaren Zwecke der Verteidigung des eigenen Territoriums. Im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit läßt die Verfassung also auch die in „typischer Weise mit diesem System verbundenen Aufgaben und damit auch die Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden, zu“ (BVerfGE 90, 286 (355 f.)).

Dabei sieht das Bundesverfassungsgericht auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung, als die es die NATO einordnet, vom verfassungsrechtlichen Begriff des Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG als gedeckt an (a. a. O., Seite 351). Dies ist jedoch allein eine Frage nach den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Einsätze der Bundeswehr, die von dem Zweck der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu trennen ist. Abgesehen von der in der juristischen Literatur lebhaft umstrittenen Frage, ob Wehrpflichtige überhaupt bei Aufgaben im Rahmen der kollektiven Sicherheit nach Art. 24 Abs. 2 GG eingesetzt werden dürfen (einen Überblick über den Streitstand bietet Walz, Der „neue Auftrag“ der deutschen Streitkräfte und das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, in: NZWehrR 1993, Heft 3, Seite 89 ff.), ist schon rein faktisch zu berücksichtigen, daß Wehrpflichtige aus ganz pragmatischen Gründen wegen ihrer zu kurzen Ausbildungszeiten für derartige Spezialaufgaben nicht herangezogen werden können. Aber auch die Verfassung erteilt solchen Vorstellungen eine klare Absage. Art. 12 a GG knüpft, wie insbesondere die Formulierung in Abs. 3 deutlich macht, ausdrücklich lediglich an den Verteidigungsbegriff des Art. 87 a GG an und bezieht sich erkennbar nicht auf die Aufgaben im Rahmen kollektiver Sicherungssysteme. Insofern spricht schon sprachlich und systematisch viel dafür, daß der Verfassungsgeber die Wehrpflicht ausschließlich auf Verteidigungsaufgaben beschränken wollte (Messerschmidt, allgemeine Wehrpflicht – legitimes Kind der Demokratie? in: Sicherheit und Frieden 2/95, Seite 91 ff.; Frank, Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Rahmen der Wehrpflicht, in: Auslaufmodell Wehrpflichtarmee, Dokumentation einer Fachtagung im November 1996, herausgegeben von der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e. V., Bremen 1996, Seite 8 (10) ).

Im übrigen belegt auch die Entstehungsgeschichte der Gesetzgebung zur allgemeinen Wehrpflicht eindeutig, daß diese lediglich zu Verteidigungszwecken im engeren Sinne geschaffen worden ist:

Im März 1954 wurde die Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 73 Nr. 1 GG auf die „Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht für Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an“ erweitert (1. Wehrergänzung durch das 4. Gesetz zur Ergänzung des GG vom 26.03.1954 BGBl I, Seite 45). Zwei Jahre später, im März 1956, fügte dann der Bundestag den noch heute gültigen Art. 87 a in das Grundgesetz ein (2. Wehrergänzung durch das 7. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 06.03.1956, BGBl I, Seite 111).

Nach dieser Bestimmung stellt der Bund „Streitkräfte zur Verteidigung auf“. Im Juli desselben Jahres wurde schließlich das Wehrpflichtgesetz beschlossen (BGBl I, Seite 651). 1968 nahm dann der Bundestag im Zuge der Notstandsverfassung die Formulierung „Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an“ aus der Kompetenzregelung des Art. 73 Nr. 1 GG heraus und ergänzte das Grundgesetz durch einen neuen Art. 12 a, demzufolge Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an u. a. zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden können (17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 24.06.1968 BGBl, I, Seite 709). Vier Monate vor Einführung des Wehrpflichtgesetzes hatte also der Gesetzgeber in Art. 87 a GG zum Ausdruck gebracht, worum es ihm bei der Aufstellung von Streitkräften ging: Um die Verteidigung der Bundesrepublik. Für die Beachtung anderer Zwecke hat er sich im Zusammenhang mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht ausgesprochen. Dies stand auch im Einklang mit der Denkschrift der Bundesregierung zur Begründung der Wehrpflicht vom April 1956, in der von einem Konzept wie dem des „Staatsbürgers in Uniform“ oder von einem Verständnis der Wehrpflicht als notwendigem Ausfluß des Demokratieprinzips keine Rede war (Grimm, allgemeine Wehrpflicht und Menschenwürde, 1982, 27; Baldus a. a. O., Seite 94).

Daher zwingen die entstehungsgeschichtlichen Daten zu dem Schluß, daß die Wehrpflicht zu dem alleinigen Zweck eingeführt wurde, eine der Verteidigung dienende Armee aufzubauen (Baldus, ebd.).

Ganz abgesehen von der Frage, ob Wehrpflichtige für sogenannte „out of area – Einsätze“ überhaupt geeignet sind, haben derartige Einsätze daher für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht als zulässige Zielvorstellung außer Betracht zu bleiben.

Mithin kommt es bei Beachtung des Friedensauftrages der Verfassung darauf an, ob die Wehrpflichtigenarmee zur Verfolgung von Verteidungszielen gegenwärtig geeignet und erforderlich ist.

b) Grundlegende Veränderung der allgemeinen Sicherheitslage

Dafür ist von entscheidender Bedeutung, ob die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft von äußeren Feinden bedroht wird.

Die Kammer ist zunächst von dem allgemein anerkannten Grundsatz ausgegangen, daß Gerichte nicht ihre Einschätzung der sicherheitspolitischen Situation anstelle der Einschätzung der gewählten hierfür zuständigen staatlichen Organe setzen können. Der politischen Führung, insbesondere der Regierung, kommt hierbei eindeutig eine gerichtlich kaum überprüfbare Einschätzungsprärogative zu.

Angesichts der Tatsache, daß die 1989 eingetretenen weltpolitischen Veränderungen, die damit einhergehende Auflösung des Warschauer Paktes und das Ende des Kalten Krieges zu einer gänzlich veränderten sicherheitspolitischen Situation geführt haben, was sich u. a. in rüstungspolitischen Verträgen und Abkommen, z. B. der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa vom 19. November 1990 (KSE-Vertrag und das Abkommen zwischen Rußland und den USA über eine Verringerung der strategischen Atomwaffen vom 18. Juni 1992) niedergeschlagen hat, sind sich jedoch alle Vertreter der politischen und militärischen Führung der Bundesrepublik darüber einig, daß eine entscheidende Entspannung der Sicherheitslage eingetreten ist.

Infolgedessen ist auch der Personalumfang der Bundeswehr bereits erheblich reduziert worden, und zwar zunächst auf 370.000 Soldaten, ein Umfang der Streitkräfte, der in der Folge der „2 + 4 Gespräche“ als Obergrenze vereinbart worden war. Eine weitere Reduzierung auf höchstens 340.000 Mann ist geplant.

Auch für die höchsten Vertreter der militärischen Führung der Bundesrepublik Deutschland besteht kein Zweifel daran, daß Deutschland nicht mehr existentiell bedroht wird. Dies geht aus der Einschätzung des damaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Naumann, hervor, die dieser gegenüber der Öffentlichkeit abgegeben hat (vgl. Die Zeit vom 27. März 1992, Seite 7). Zur gleichen Einschätzung kam bereits die Herbsttagung der NATO 1991 (vgl. den Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.12.1991; vgl. auch Naumann, Die Bundeswehr in einer Welt des Umbruchs, 1994).

Das Bundesministerium der Verteidigung hat die sicherheitspolitische Lage im Weißbuch 1994 wie folgt eingeschätzt:

„Heute steht Europa am Beginn einer neuen Epoche …. Die jahrzehntelange Angst vor einer großen nuklearen Auseinandersetzung gehört der Vergangenheit an, ebenso die Bedrohung, auf die sich der Auftrag der Bundeswehr bisher bezog: Die Abwehr einer groß angelegten Aggression zahlenmäßig überlegener konventioneller Streitkräfte in Mitteleuropa nach einer relativ kurzen Warn- und Vorbereitungszeit“ (Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr 1994, Seite 24).

Im Generalinspekteursbrief 1/96 vom 16. Juli 1996 heißt es:

„Die politischen Umsetzungen seit 1990 haben in Europa eine völlig neue sicherheitspolitische Lage entstehen lassen. Deutschland hat am meisten davon profitiert. Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte nur Freunde, Verbündete und Partner als Nachbarn“ (Bundesministerium der Verteidigung, Generalinspekteursbrief 1/96 vom 16. Juli 1996).

In der politischen und militärischen Führung der Bundesrepublik herrscht also völliger Konsens darüber, daß nach dem Ende des Kaltes Krieges, spätestens aber mit dem Abzug der letzten russischen Truppen im August 1994, die Bundesrepublik Deutschland keiner existenzgefährdenden Bedrohung mehr ausgesetzt, im Gegenteil sie nur noch von verbündeten und befreundeten Staaten umgeben ist.

In einem geheimen NATO-Dokument mit dem Titel „MC 161/96 B. Geheimdienstvoraussagen zu Rußland“ gelangt das atlantische Bündnis zu dem Resultat, daß Rußland in den kommenden 10 Jahren nicht zu einer groß angelegten Militäroffensive gegen Europa oder China fähig sein wird. Die russische Armee brauchte zur Vorbereitung einer militärischen Konfrontation mindestens 18 Monate Zeit, wobei die NATO derartige Aktivitäten innerhalb kürzester Zeit aufklären würde (vgl. die entsprechende Meldung in S + F-Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Nr. 1/97, Seite 47).

Mit der kürzlich vollzogenen NATO-Erweiterung, die dazu führt, daß auch die unmittelbaren Nachbarstaaten Polen und Tschechien sowie Ungarn NATO-Vertragsstaaten geworden sind, was die Vorwarnzeiten verlängern würde, und der bereits zuvor am 27. Mai 1997 in Paris feierlich vereinbarten „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der russischen Föderation“ (NATO Hrsg., Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der russischen Föderation, Paris, 27. Mai 1997 ) haben sich die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa nochmals entscheidend verändert (vgl. Rose, Die prekär gewordene Legitimität der Wehrpflicht, Anmerkungen zu einer unerwünschten Debatte, in: Zukunft der Wehrpflicht, Entscheidungen im neuen Bundestag, Dokumentation einer Fachtagung im November 1998, herausgegeben von der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e. V., Bremen 1998, Seite 4 ff. (15).

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß von keinem politischen oder militärischen Vertreter der Bundesrepublik oder selbst der NATO eine aktuelle oder absehbare zukünftige Bedrohung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch Angriffe von außen unter den gegenwärtigen Bedingungen noch ernsthaft für möglich gehalten wird. Die in der Vergangenheit durch das Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung der allgemeinen Wehrpflicht gegebene Begründung, daß der Staat seiner verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung gegenüber seinen Bürgern nur mit Hilfe eben dieser Bürger und ihres Eintretens für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland nachkommen kann (BVerfGE 48, 159 ff. (161)), verliert daher angesichts der unstreitig grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Situation an Bedeutung und bedarf einer Revision.

Daß angesichts der sicherheitspolitischen Lage eine allgemeine Wehrpflicht zur Verteidigung der westlichen Demokratien nicht erforderlich ist, zeigt auch ein Blick auf zahlreiche europäische NATO-Vertragsstaaten: Während Großbritannien und Luxemburg schon seit geraumer Zeit lediglich über eine Berufsarmee verfügen, hat auch Belgien 1994 die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft. In den Niederlanden wurde die allgemeine Wehrpflicht noch nicht förmlich abgeschafft, aber Soldaten und Zivildienstpflichtige werden nicht mehr einberufen. Die letzte Einberufung erfolgte zum 25. März 1996. Spanien, das die Wehrpflicht bereits auf neun Monate reduziert hat, hat eine Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht beschlossen. Auch Frankreich, ein Land, in dem die allgemeine Wehrpflicht seit der Französischen Revolution eine große Tradition hat und in weit höherem Maße als in Deutschland lange Zeit geradezu konstitutiv für das dortige Staatsverständnis war, hat ebenfalls beschlossen, die allgemeine Wehrpflicht de facto abzuschaffen. Sie besteht lediglich noch formal und wird durch einen Tag Musterung, verbunden mit staatsbürgerlichem Unterricht und Werbung für die Armee, erfüllt. In zahlreichen anderen NATO-Staaten beträgt die Wehrpflicht teilweise nur noch vier Monate, beispielsweise in Dänemark und Portugal, was, wie allgemein anerkannt ist, auch für eine Grundausbildung nicht mehr ausreichend ist und lediglich symbolischen Charakter hat.

Wäre die allgemeine Wehrpflicht zur Gewährleistung der Sicherheit des Staates gegen äußere Angriffe erforderlich, müßten sich all diese Staaten in einer bedrohlichen oder jedenfalls bedenklichen Sicherheitslage befinden, wovon nach allgemeiner Einschätzung keine Rede sein kann. Es ist kein vernünftiger Grund erkennbar, warum für die Bundesrepublik Deutschland etwas anderes gelten sollte, seit Deutschland kein „Frontstaat“ mehr ist, durch den die Systemgrenzen verlaufen, sondern in genau der gleichen bzw. vergleichbaren sicherheitspolitischen Lage wie die genannten verbündeten europäischen Staaten.

c) Geeignetheit der allgemeinen Wehrpflicht für Verteidigungszwecke

Teilweise wird bereits die Geeignetheit der allgemeinen Wehrpflicht in Frage gestellt; dies u. a. deshalb, weil eine „Lehrzeit“ von zehn Monaten angesichts des hohen Technisierungsgrades der Armee kaum noch ausreichen dürfte, um eine Ausbildung an modernen Waffensystemen zu gewährleisten. Die Fortführung der allgemeinen Wehrpflicht wird daher teilweise als ineffektives „Milliardengrab“ gesehen (vgl. den verteidigungspolitischen Sprecher der SPD, General a. D. Manfred Opel in: Stern 10/99, Seite 54).

Opel weist auch zu Recht darauf hin, daß eine existentielle militärische Bedrohung Deutschlands selbst theoretisch allenfalls durch Staaten denkbar sei, die über Nuklearwaffen verfügen und in der Lage seien, diese mittels geeigneter Träger über weite Entfernungen einzusetzen; dagegen vermöge aber die allgemeine Wehrpflicht nicht zu schützen (Opel, a. a. O.).

Auch aus Kreisen der Bundeswehr wird die Effektivität der Wehrdienstleistenden für eine moderne Armee und damit die Geeignetheit der allgemeinen Wehrpflicht zunehmend in Frage gestellt (vgl. Rose, a. a. O., Seite 5 ff.).

Die Kammer hat diese Frage jedoch offen gelassen. Zum einen ist bei der Frage der Geeignetheit von Maßnahmen der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum anerkanntermaßen derartig weit, daß nur eine offensichtliche und feststehende Ungeeignetheit zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit führen kann, was nach Überzeugung der Kammer nicht der Fall ist; zum anderen war es weder Absicht noch Aufgabe der Kammer, sich Gedanken über Möglichkeiten der Effektivitätssteigerung der Bundeswehr im Sinne militärischer Professionalität zu machen. Den Erwägungen der Kammer lagen daher allein Fragen der Erforderlichkeit des Eingriffs in die Grundrechte der Wehrdienstleistenden zugrunde.

d) Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum und Erforderlichkeit der allgemeinen Wehrpflicht

Ausgehend vom Sinn und Zweck der Wehrpflicht (Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland gegen bewaffnete Angriffe, s. o.) und der veränderten Sicherheitslage (Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation, Zerfall des Warschauer Vertrages, NATO-Erweiterung) ist der Fortbestand der allgemeinen Wehrpflicht (§§ 1, 3 WehrpflG) am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Grundsätzlich ist dabei zu berücksichtigen, daß, wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben hat, dem gewählten Gesetzgeber als derjenigen Gewalt, der im Gegensatz zur Judikative das Treffen politischer Entscheidungen obliegt, ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen ist. „Gewisse Vorzüge“ einer alternativen Regelung führen für sich allein noch nicht dazu, daß die gesetzliche Regelung als verfassungswidrig zu verwerfen ist (BVerfGE 25, 1, (20)). Nur wenn diese Alternative sachlich dasselbe leistet und die sachliche Gleichwertigkeit eindeutig feststeht (BVerfGE 30, 292, (319)), ist die Grenze des legislativen Ermessens erreicht und die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Eingriffs nachgewiesen. Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, daß das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen, zum Teil ihrem Anlaß nach weit geringfügigeren Fällen, eine Überprüfung von Gesetzen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf ihre Notwendigkeit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vorgenommen hat (BVerfGE 17, 306 ff., BVerfGE 319, 330 ff., BVerfGE 25, 1 ff., BVerfGE 30, 292 ff., BVerfGE 30, 250 ff.; BVerfGE 37, 1 ff.; BVerfGE 38, 139 ff.; BVerfGE 38, 281 ff., BVerfGE 39, 156 ff., BVerfGE 59, 210 ff., BVerfGE 55, 159 ff., BVerfGE 75, 108 ff., BVerfGE 77, 84 ff., BVerfGE 80, 137 ff.).

So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem weithin bekannt gewordenen „Volkszählungsurteil“ trotz der weitaus geringeren Eingriffe in Rechte der Betroffenen – so kann es kaum streitig sein, daß der partielle Eingriff in geschützte Daten und allgemeine Persönlichkeitsrechte sich an Härte kaum mit der Wehrpflicht messen läßt, die junge Männer mit ihrer gesamten Persönlichkeit vereinnahmt und sie zudem gegebenenfalls mit der Pflicht zum Töten und Sich – Töten – Lassen auf Befehl belastet – § 9 Abs. 2 des Volkszählungsgesetzes von 1982 für verfassungswidrig erklärt, weil ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden hätte (BVerfGE 65, 1, 65 (ff.)).

Denn wenn sich eindeutig feststellen läßt, daß andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen, kann die gesetzliche Regelung übermäßig belastend und deshalb verfassungswidrig sein (BVerfGE 37, 1 (21)).

Berücksichtigt man, daß die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einer Gesamtabwägung aller konkret betroffenen Rechtsgüter vorzunehmen ist, und berücksichtigt man ferner die vom Bundesverfassungsgericht insbesondere hierzu entwickelten maßgeblichen Beurteilungskriterien, nämlich Intensität des Eingriffs, Gewicht und Dringlichkeit der Gemeinwohlinteressen sowie in den Grundrechten verankerte Individualinteressen, kann eine allgemeine Wehrpflicht heute nicht mehr als erforderlich angesehen werden. Denn je mehr der Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden (BVerfGE 17, 306, (313 f.); 49, 24, (58 ff.)).

Da die Intensität des Eingriffs durch die allgemeine Wehrpflicht mit der Pflicht, ggf. andere Menschen zu töten und sein eigenes Leben einzusetzen, kaum zu überbieten ist, Gewicht und Dringlichkeit der Gemeinwohlinteressen angesichts der veränderten Sicherheitslage dagegen an Bedeutung weitgehend verloren haben und die in den Grundrechten verankerten Individualinteressen auf Leben und körperliche Unversehrtheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit und freie Berufsausübung einen hohen Rang haben, läßt sich eine Fortdauer der allgemeinen Wehrpflicht unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht länger rechtfertigen. Zu diesem Ergebnis kommen auch zunehmend zahlreiche Stimmen in der Literatur:

„Für die Wehrpflicht als härtesten Eingriff in die Lebensführung junger Männer mit der Pflicht zum Töten und Sich – Töten – Lassen auf Befehl ist jegliche politische Rechtfertigung entfallen. Damit ist in diesem Falle auch jegliche verfassungsrechtlich tragfähige Begründung entfallen. Denn ohne eine Rechtfertigung durch evidente tatsächliche – und das heißt hier: (welt-) politische – Gegebenheiten läßt sich der massive Eingriff in die Grundrechte nicht mehr aufrechterhalten“ (Böttcher, Weg von den staatlichen Zwangsdiensten – hin zu freiwilligen gesellschaftlichen Diensten, in: ZRP 1998, Heft 10, Seite 399).

Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch der Bundeswehroffizier Oberstleutnant Jürgen Rose, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am George C. Marchall European Center for Security Studies:

„Darüber hinaus gilt, daß nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit von intendiertem Zweck und selektierten Mitteln der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben lediglich den jeweils geringst möglichen Eingriff in die bürgerlichen Freiheitsrechte wählen und den Bürger nur mit dem belasten darf, was unabdingbar ist. Die zusammenfassende Schlußfolgerung lautet, daß selbst noch so einleuchtende Opportunitätsgründe keinesfalls eine verfassungskonforme Legitamationsbasis für die Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht zu liefern vermögen, sondern einzig und allein das Vorliegen einer akuten und existenzbedrohenden Notlage für das Staatswesen insgesamt. All die zugunsten der Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht angeführten Gründe sind bereits dadurch Makulatur geworden, daß nach allgemein herrschendem Konsens in der „Strategic Community“ eine solche sicherheitspolitisch begründbare Notlage für die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr existiert. Daher entspricht die Fortdauer der allgemeinen Wehrpflicht nicht mehr dem Grundgesetz“ (Rose, Die prekär gewordene Legitimität der Wehrpflicht, Anmerkungen zu einer unerwünschten Debatte, a. a. O., Seite 15).

Das heißt, „in dem Maße, in dem sich die sicherheitspolitische Lagebeurteilung Tag für Tag bestätigt, (wird) die Verfassungswidrigkeit der Fortführung der Wehrpflicht erkennbar“ (Lutz, Ist die Wehrpflicht überhaupt noch verfassungsgemäß?, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (Herausgeber): Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 103, Hamburg Juli 1996, Seite 7 f. (19)).

Damit steht fest, daß die nach der Verfassung grundsätzlich zulässige Berufs- und Freiwilligenarmee, also eine Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, die gegenwärtig noch „verbliebenen“ Verteidigungsaufgaben mindestens ebenso gut wahrnehmen könnte wie eine Wehrpflichtigenarmee.

e) Allgemeine Wehrpflicht und Demokratieprinzip

Abschließend ist festzustellen, daß die allgemeine Wehrpflicht auch im Hinblick auf andere Verfassungszwecke, etwa zur Wahrung des ebenfalls im Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 verankerten Demokratieprinzips, nicht erforderlich ist. Im Text des Grundgesetzes kommt ein Zusammenhang von Wehrpflicht und Demokratie nicht unmittelbar zum Ausdruck. Abs. 20 Abs. 1 GG enthält lediglich die Aussage, daß die Bundesrepublik Deutschland u. a. ein demokratischer Staat ist.

Oben wurde darauf hingewiesen, daß nach dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte allein der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr als gesetzgeberisches Ziel der Wehrpflicht anzusehen ist. Zur Sicherung des Demokratieprinzips sind die Streitkräfte nicht aufgestellt und die Wehrpflicht nicht eingeführt worden. Jedoch könnte eine Bindung der Wehrpflicht an die Sicherung demokratischer staatlicher Strukturen der Bundesrepublik Deutschland durch einen Verfassungswandel in Betracht kommen; denn es ist anerkannt, daß eine Verfassungsbestimmung „einen Bedeutungswandel erfahren (kann), wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen (BVerfGE 3, 407 (422)). Die Bedeutung verfassungsrechtlicher Bestimmungen kann sich bei Veränderungen des Normbereichs wandeln (BVerfGE 74, 297 (350)).

Überträgt man diese Kriterien eines Verfassungswandels auf die Frage der demokratischen Funktion der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland, so wäre jedenfalls nicht undenkbar, daß eine Wehrpflichtigenarmee in Vergleich zu einer Berufsarmee weniger anfällig für demokratiefeindliche Tendenzen oder Bestrebungen sein könnte.

So wird teilweise argumentiert, die allgemeine Wehrpflicht sei erforderlich, um einem möglicherweise antidemokratischen „Staat im Staate“ durch das Konzept eines „Staatsbürgers in Uniform“ entgegenzutreten. Diese Argumentation verkennt jedoch, daß auch eine Armee, die sich Wehrpflichtiger bedient, stets auch eine Berufs- und Freiwilligenarmee ist. Die entscheidungserheblichen Strukturen, insbesondere die Kommandostrukturen, werden naturgemäß nicht durch die Wehrpflichtigen während ihres Wehrdienstes geprägt. Sowohl aufgrund der vergleichsweise kurzen Zeit als auch aufgrund der hierarchischen Struktur der Streitkräfte und der Tatsache, daß Wehrpflichtige stets in den unteren Rängen der Hierarchie angesiedelt sind, können sie während ihres Wehrdienstes kaum entscheidenden Einfluß auf Geist und innere Tendenzen der Streitkräfte gewinnen. Ferner zeigt ein Vergleich mit den Armeen zahlreicher anderer westlicher Demokratien, etwa Großbritanniens, Kanadas, Belgiens oder der Vereinigten Staaten von Amerika – in denen sämtlich keine Wehrpflicht besteht – , daß ein indifferentes Verhältnis zwischen Wehrform und politischem System besteht. Auch gibt und gab es zahlreiche Diktaturen, in denen allgemeine Wehrpflicht herrscht. Auch die besondere historische Situation der Bundesrepublik Deutschland liefert keine Argumente dafür, daß die Wehrform der Wehrpflichtigenarmee conditio sine qua non eines demokratischen politischen Systems in Deutschland ist.

Auch der in diesem Zusammenhang gelegentlich vorgebrachte Hinweis auf die Rolle der Reichswehr in der Staatskrise der Weimarer Republik zwingt zu keiner anderen Einschätzung (Baldus, Die Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht, Rechtsgutachten Hamburg 1995, Seite 19). Obwohl, wie oben ausgeführt, die Weimarer Reichsverfassung eine allgemeine Wehrpflicht im Gegensatz zum Grundgesetz als verfassungsunmittelbare Grundpflicht direkt statuierte, war die Reichswehr in der Praxis ein reines Berufsheer, da Art. 133 WRV durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages, der Deutschland mit gutem Grund nur eine kleine Armee zubilligte und die allgemeine Wehrpflicht verbot, suspendiert war.

Es ist zu konzedieren, daß die Reichswehr in jener Situation wie alle anderen staatstragenden Kräfte, etwa auch Parlament, Exekutive und Justiz, versagt hat. Eingehende historische Untersuchungen ergaben jedoch, daß im Verhalten der Reichswehr keine politisch-strukturelle Ursache der nationalsozialistischen Machtübernahme gesehen werden kann (Holm, Allgemeine Wehrpflicht, Entstehung, Brauch und Mißbrauch, 1953, 170 f.; Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1984, 252 f.). Im übrigen stellten erst die nationalsozialistischen Machthaber 1935 in bewußtem Bruch des Versailler Vertrages die allgemeine Wehrpflicht wieder her.

Aus diesen Gründen kann eine Freiwilligenarmee auch hinsichtlich der Sicherung des in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen demokratischen Strukturprinzips als ein im Vergleich zur Wehrpflichtigenarmee ebenso leistungsfähiges und gleichwertiges Mittel betrachtet werden, so daß sich die allgemeine Wehrpflicht auch insofern nicht als erforderlich erweist. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang zu Recht sogar auf einen gegenteiligen Effekt hingewiesen worden:

„Die Abschaffung der Wehrpflicht und – als deren Annex – der Zivildienstpflicht ist nicht nur (verfassungs)rechtlich geboten, sie ist auch darüber hinaus eine politische Notwendigkeit. Es ist nicht nur für den Lebenslauf des einzelnen Wehrpflichtigen, sondern auch für das Gemeinwesen eine Katastrophe, daß junge Männer in einer Zeit, in der sie noch für Prägungen empfänglich sind, über Monate (früher länger als ein Jahr) unfreiwillig in einem sozialen System leben müssen, in dem das Gegenteil demokratischer Willensbildung gilt, nämlich Befehl und Gehorsam. So lernen sie „den Staat“ kennen: verkehrt herum! Als einen Staat, der mit nach wie vor drakonischen Strafandrohungen für „Fahnenflucht“ und „unerlaubte Entfernung von der Truppe“ meint, dafür sorgen zu müssen und zu können, daß „seine“ Wehrpflichtigen bei der Stange bleiben. So erhält oder schafft man keine konstruktive staatsbürgerliche Haltung, im Gegenteil.

Das der militärischen Ordnung zugrundeliegende Gesellschaftsmodell verhält sich zum demokratischen wie Feuer und Wasser. Daran vermögen auch das Konzept vom „Staatsbürger in Uniform“ und die „Innere Führung“, wo sie denn praktiziert werden, nichts zu ändern. Auf Zeit zwangsweise unter einem solchen Modell zu leben, mag zwar, wenn überhaupt, dem Betroffenen noch einleuchten, wenn und solange außerordentliche Umstände dies rechtfertigen oder solche Umstände realistischerweise absehbar sind. Wenn aber aufgrund außen- und sicherheitspolitischer Veränderungen die letzte innere Rechtfertigung entfallen ist, wirkt der Zwang zum Wehrdienst vollends kontraproduktiv, und zwar individuell wie gesamtgesellschaftlich“ (Böttcher, a. a. O., Seite 400).

f) Allgemeine Wehrpflicht und Zivildienst

Auch mit der immer wieder behaupteten angeblichen gesellschaftlichen Notwendigkeit des Zivildienstes läßt sich der Fortbestand der allgemeinen Wehrpflicht nicht rechtfertigen. Das rein pragmatische Argument, mit der Wehrpflicht entfalle auch die Zivildienstpflicht, die Tätigkeit der Zivildienstleistenden sei aber für die Aufrechterhaltung gewisser Standards im Sozialbereich unverzichtbar, ist juristisch ohne Belang. Der Zivildienst bezieht nämlich als Ersatzdienst und damit ebenfalls staatlicher Zwangsdienst seine innere Rechtfertigung aus der Existenz des Wehrdienstes, nicht umgekehrt. Trotz der vielfach sinnvollen Arbeit, die im Zivildienstbereich geleistet wird, ist dies ein untaugliches Argument zur Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht, weil der Zivildienst eben als Ersatzdienst nur – und zwar, weil anderenfalls der Gleichheitsgrundsatz verletzt wäre – aus dem für die übrigen jungen Männer gegebenen Wehrdienst als Pflicht- und Zwangsdienst zu rechtfertigen ist. Fällt die Wehrpflicht, fällt zwangsläufig auch die Zivildienstpflicht. Und wenn zwingend Gründe für die Abschaffung der Wehrpflicht vorliegen, „kann man das Pferd nicht vom Schwanz aufzäumen und mit dem Hinweis auf die guten Werke der Zivildienstleistenden die Zivildienstpflicht und über diese die Wehrpflicht `retten`“ (Böttcher, a. a. O., Seite 400).

Auch Rose weist zu Recht darauf hin, daß ein derartiges Kalkül (Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht zur Sicherung der Tätigkeit der Zivildienstleistenden) offensichtlich den Wehrpflichtgedanken pervertiere und dem Geist des Grundgesetzes widerspreche (Rose, a. a. O., Seite 10). Abgesehen davon haben einschlägige Studien anhand von Modellrechnungen nachgewiesen, daß eine Umstrukturierung des sozialen Dienstleistungssektors nach den Erfordernissen eines freien Marktes mit nur geringem Mehraufwand oder, wenn dadurch vermehrt Arbeitslose Beschäftigung fänden, sogar kostenneutral erfolgen könnte (vgl. Boetticher, Die Ersetzung Zivildienstleistender durch tariflich bezahlte Arbeitskräfte – eine Modellrechnung in: 4/3 Fachzeitschrift Zur Kriegsdienstverweigerung, Wehrdienst und Zivildienst, Nr. 2/1994, Seite 56 (62); Blandow, Wenn es keinen Zivildienst mehr gäbe …, in: ebd. Seite 63 ff.; Lutz, Ist eine Freiwilligen-Streitkraft billiger?, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (Hrsg.), Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 103, Hamburg Juli 1996, Seite 34 ff.).

Angesichts der juristischen Irrelevanz derart pragmatischer Argumente wird diese Argumentation hier nicht vertieft. Es ist jedoch festzuhalten, daß die Wehrpflicht, „einst das legitime Kind des Kalten Krieges … illegitimes Kind einer Heil- und Krankenpflege (würde), die lieber auf Zwangsverpflichtete zurückgreift, als geeignetes Personal auf dem Arbeitsmarkt anzuwerben und zu entlohnen (Bertram, Soldat nur noch aus freien Stücken, in: Die Zeit Nr. 28 vom 05. Juli 1996, Seite 3). Aus diesen Gründen erweist sich insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit der Zivildienst, der Arbeitskräfte im Bereich der sozialen Dienstleistungen entbehrlich macht, unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten sogar als kontraproduktiv (Rose, a. a. O., Seite 11, m. w. N.).

IV. Zusammenfassung

Die fundamental veränderte sicherheitspolitische Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, daß eine militärische Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland nach allgemeiner Ansicht weder gegenwärtig noch in absehbarer Zeit möglich erscheint, führt dazu, daß die allgemeine Wehrpflicht unter den heutigen Bedingungen ein unverhältnismäßiger, weil nicht länger erforderlicher Eingriff in die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG, 2 Abs. 2 S. 1 GG, 6 Abs. 1 GG, 11 Abs. 1 GG und 12 Abs. 1 S. 1 GG ist. Die Verfassungswidrigkeit der allgemeinen Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WehrPflG) erfaßt auch die Pflicht von Wehrdienstverweigerern, den Zivildienst abzuleisten, da der Zivildienst lediglich als Ersatzdienst für den Wehrdienst und damit als dessen Annex ausgestaltet ist und durch die Ableistung des Zivildienstes die Wehrpflicht erfüllt wird (§ 3 WehrPflG). Straftatbestände, die zur zwangsweisen Durchsetzung dieser Dienste geschaffen wurden, hier: § 53 ZDG, aber auch die Strafnormen bezüglich der Verletzung der Pflicht zur militärischen Dienstleistung (§§ 15 ff.. WStG) soweit sie Wehrdienstleistende betreffen, sind daher ebenfalls mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb ungültig.

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