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Abbiegeunfall – Kollision Straßenkreuzung – Haftungsverteilung

LG Saarbrücken – Az.: 13 S 34/230 – Urteil vom 03.07.2020

1. Auf die Berufung und Anschlussberufung wird das Urteil des Amtsgerichts St. Wendel vom 14.02.2020 – 2 C 51/16 (68) in Schlussurteil abgeändert und die Beklagten werden unter Klageabweisung im Übrigen als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin weitere 562,44 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 147,56 €, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.03.2016, zu zahlen. Des Weiteren wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner der Klägerin 70 % zukünftiger Höherstufungsschäden aus der Inanspruchnahme der Kaskoversicherung pp., VersNr. pp., SchadenNr. pp. aufgrund des Verkehrsunfalls vom 27.11.2015 zu erstatten haben. Die Klägerin und die Drittwiderbeklagte werden als Gesamtschuldner unter Abweisung der Widerklage im Übrigen verurteilt, an den Erstbeklagten 474,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 20.01.2016 zu zahlen. Im Übrigen werden Berufung und Anschlussberufung zurückgewiesen.

Abbiegeunfall - Kollision Straßenkreuzung - Haftungsverteilung
(Symbolfoto: Von Dmitry Kalinovsky/Shutterstock.com)

2. Die Kosten erster Instanz verteilen sich wie folgt: Die Gerichtskosten haben die Klägerin und die Drittwiderbeklagte gesamtschuldnerisch zu 11%, die Klägerin darüber hinaus zu 37%, die Beklagten zu 1) und zu 2) gesamtschuldnerisch zu 28% und der Beklagte zu 1) darüber hinaus zu 24% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin haben die Klägerin zu 52%, die Beklagten zu 1) und zu 2) gesamtschuldnerisch zu 33% und der Beklagte zu 1) darüber hinaus zu 15% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten haben die Drittwiderbeklagte zu 30% und der Beklagte zu 1) zu 70% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) haben die Klägerin und die Drittwiderbeklagte gesamtschuldnerisch zu 16%, die Klägerin darüber hinaus zu 28% und der Beklagte zu 1) zu 56% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) haben die Klägerin zu 58% und die Beklagte zu 2) zu 42% zu tragen.

Die Kosten zweiter Instanz verteilen sich wie folgt: Die Gerichtskosten haben die Klägerin zu 47%, die Beklagten zu 1) und zu 2) gesamtschuldnerisch zu 14% und der Beklagte zu 1) darüber hinaus zu 39% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin haben die Klägerin zu 52%, die Beklagten zu 1) und zu 2) gesamtschuldnerisch zu 16% und der Beklagte zu 1) darüber hinaus zu 32% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Drittwiderbeklagten hat der Beklagte zu 1) zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 1) haben die Klägerin zu 35% und der Beklagte zu 1) zu 65% zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) haben die Klägerin zu 72% und die Beklagte zu 2) zu 28% zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten wechselseitig um den Ausgleich von Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 27.11.2015 gegen 7.00 Uhr morgens auf der pp. in pp. ereignete.

Die Klägerin befuhr mit dem bei der Drittwiderbeklagten haftpflichtversicherten Opel Agila 1,2 (amtl. Kennz. pp.) die pp., in die sie unmittelbar zuvor aus der pp. von pp. kommend mit einer Wendung abgebogen war und beabsichtigte, nach links wieder in die bevorrechtigte pp. (Zeichen 205 StVO) in Richtung pp. zurück einzubiegen. Der Erstbeklagte befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten 1er BMW (amtl. Kennz. pp.) die pp. aus pp. kommend und hielt im Bereich einer unmittelbar vor der Einmündung pp. rechtsseitig gelegenen Bushaltestelle an, weil er einen Kollegen zusteigen lassen wollte. Er hupte kurz, da er glaubte, den Mitfahrer am gegenüberliegenden Straßenrand erkannt zu haben. Als sich dies als Irrtum erwies, setzte er seine Fahrt auf der pp. fort, woraufhin es zur Kollision mit dem Fahrzeug der Klägerin kam, die mit dem Einbiegen in die pp. begonnen hatte. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden. Die Klägerin nahm insoweit ihre Vollkaskoversicherung in Anspruch. Die Zweitbeklagte zahlte die geltend gemachte Selbstbeteiligung von 300 € vollumfänglich und auf die Auslagenpauschale unter Zugrundelegung eines eigenen Mithaftungsanteils von 1/3 8,67 €.

Mit der Klage hat die Klägerin ausgehend von einer Alleinhaftung der Beklagten Schadensersatz in Höhe von 1.817,33 € (Nutzungsausfall 24 Tage à 50 € = 1.200 €, Wertminderung: 600 € und restliche Auslagenpauschale: 17,33 €) unter Berücksichtigung eines durch Teilanerkenntnisurteil titulierten weiteren Betrages von 304,99 €, letztlich 1.512,34 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 729,23 €, jeweils nebst Zinsen, und die Feststellung begehrt, dass die Beklagten sämtliche unfallbedingten Höherstufungsschäden zu zahlen haben. Sie hat behauptet, mit eingeschaltetem Fahrtrichtungsanzeiger an der Einmündung gestanden und nachdem der Erstbeklagte in die Haltebucht eingefahren sei, mit dem Abbiegen begonnen zu haben. Sodann sei dieser ohne Vorankündigung von der Haltestelle wieder in den fließenden Verkehr eingefahren, wobei es zur Kollision gekommen sei. Wertminderung und Nutzungsausfallentschädigung seien zutreffend berechnet.

Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Sie haben behauptet, der Erstbeklagte sei nach Setzen des linken Fahrtrichtungsanzeigers ordnungsgemäß wieder in die pp. eingefahren und habe sich dort schon ca. 15 m in Richtung Eimündung bewegt, als die Klägerin von der pp. in die pp. eingefahren sei, woraufhin es im Einmündungsbereich zur Kollision gekommen sei. Hinsichtlich der Schadenshöhe sei am klägerischen Fahrzeug allenfalls von einer Wertminderung in Höhe von 200 € auszugehen. Der Tagessatz für den Nutzungsausfall liege bei lediglich 35 €. Dieser werde auch allenfalls für eine Dauer von maximal 9 Tagen geschuldet. Bei der Abrechnung der Klageforderung haben die Beklagten eine eigene Mithaftung von 1/3 zugrunde gelegt. Mit der Widerklage hat der Erstbeklagte ausgehend von einer Alleinhaftung der Klägerin die Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 1.583,55 € (Reparaturkosten 1.557,55 € netto, Unkostenpauschale 26 €) nebst Zinsen begehrt.

Die Klägerin und die Drittwiderbeklagte sind der Widerklage entgegengetreten. Sie haben die Unfallkausalität der geltend gemachten Schäden sowie die Erforderlichkeit der in dem Kostenvoraschlag genannten Arbeiten mit Nichtwissen bestritten.

Das Amtsgericht, auf dessen tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat, ausgehend von einer hälftigen Haftungsverteilung, der Klage in Höhe einer Zahlung von 237,34 € und Rechtsanwaltskosten von 571,44 €, jeweils nebst Zinsen, sowie der Feststellung stattgegeben, dass die Beklagten der Klägerin 50 % sämtlicher zukünftigen Höherstufungsschäden zu ersetzen haben. Die Widerklage hatte in Höhe eines Betrages von 778,32 € nebst Zinsen Erfolg. Hiergegen wenden sich die Klägerin und die Beklagten mit Berufung und Anschlussberufung unter Weiterverfolgung ihrer erstinstanzlichen Ziele.

II.

Berufung und Anschlussberufung sind form- und fristgerecht erhoben, sie sind mithin zulässig. In der Sache haben beide Rechtsmittel teilweise Erfolg. Die den Berufungen nach § 529 ZPO zugrunde zulegenden Tatsachen rechtfertigen eine abweichende Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

1. Zutreffend ist das Amtsgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch die Klägerin und die Drittwiderbeklagte grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies wird von Berufung und Anschlussberufung auch nicht in Abrede gestellt.

2. Nicht zu folgen vermag die Kammer der angefochtenen Entscheidung, soweit der Erstrichter in die gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Haftungsabwägung einen unfallursächlichen Verstoß der Klägerin gegen § 8 StVO (Vorfahrt) eingestellt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung bei der Ausgleichspflicht mehrerer Unfallbeteiligter dürfen gemäß § 17 StVG nur erwiesene Umstände herangezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 1956 – VI ZR 162/55, VersR 1956, 732; vom 22. November 1960 – VI ZR 23/60, VersR 1961, 69; vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 m.w.N.), wobei nach allgemeinen Beweisgrundsätzen jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Nachteil gereichen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1990 – VI ZR 319/89, VersR 1990, 1406, 1407; OLG Frankfurt VersR 1981, 841). Der Vorfahrtberechtigte, der sich auf einen Vorfahrtsverstoß beruft, hat daher grundsätzlich nachzuweisen, dass er für den Wartepflichtigen erkennbar war. Denn der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem der Wartepflichtige mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtstraße ein Kraftfahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1994 – VI ZR 285/92, DAR 1994, 195; OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2015 – I-1 U 41/14; LG Osnabrück, Urteil vom 14. März 2018 – 1 S 335/17, RuS 2018, 498).

b) Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einem Zusammenstoß eines bevorrechtigten Fahrzeugs mit einem wartepflichtigen Fahrzeug im Vorfahrtsbereich grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für eine unfallursächliche Vorfahrtsverletzung durch den Wartepflichtigen spricht (BGH, st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 15.06.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903 m.w.N.; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 28.03.2014 – 13 S 196/13, Zfs 2014, 446 m.w.N.; Urteil vom 29.04.2016 – 13 S 3/16, NJW-RR 2016, 1307 m.w.N.). Das „Kerngeschehen“ (hier einer Vorfahrtssituation) als solches ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 m.w.N. zu den Grundsätzen des Anscheinsbeweises am Beispiel des Auffahrunfalls) als Grundlage eines Anscheinsbeweises allerdings dann nicht ausreichend, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. BGH a.a.O., NJW 2017, 1177).

c) Zweifelsohne wies vorliegend das Verkehrszeichen Nr. 205 (Vorfahrt achten) den aus der pp. kommenden Verkehr – und damit grundsätzlich auch die Klägerin – auf die Bevorrechtigung der die pp. befahrenden Verkehrsteilnehmer, wie den Erstbeklagten, hin. Besondere Bedeutung erlangt hier allerdings der Umstand, dass der Erstbeklagte nach übereinstimmender Darstellung der unfallbeteiligten Parteien sein Fahrzeug vorkollisionär in der unmittelbar vor dem Einmündungsbereich am rechten Fahrbahnrand befindlichen Bushaltestelle zum Stehen gebracht hatte und kurz vor dem Unfall von dort in die pp. eingefahren war. Nach den Ermittlungen des Sachverständigen pp. ist der Erstbeklagte – ausgehend von einer mittleren Anfahrgeschwindigkeit – auch bei einer für ihn günstigen Betrachtungsweise erst in einer Entfernung von ca. 16 m zu dem übereinstimmend in der Fahrbahnmitte der pp. angegebenen Kollisionsort auf die Fahrbahn eingefahren (vgl. Bl. 263, 284, 285 d.A.). Dies steht auch in Einklang mit seinem schriftsätzlichen Vortrag, er habe von der Bushaltstelle aus eine Wegstrecke von ca. 15 m zurückgelegt, als die Klägerin in die pp. eingefahren und es zur Kollision gekommen sei (Bl. 29 d.A.). Damit befand sich der Erstbeklagte allerdings bei Einfahrt in die pp. in einer Distanz zum Einmündungsbereich, innerhalb derer noch nicht sicher von einer Wiedereingliederung in den fließenden und damit bevorrechtigten Verkehr ausgegangen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 20. November 2007 – VI ZR 8/07, NJW 2008, 1305 zur Einfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich in einer Entfernung von bis zu 30 m vor der Kreuzung). Hinzu kommt, dass sich nach den Feststellungen des Sachverständigen vorliegend die Darstellung der Klägerin, beide Fahrzeuge seien zeitgleich losgefahren, nicht widerlegen lässt. Daher kommt hier die ernsthafte Möglichkeit in Betracht, dass die Absicht des Erstbeklagten, in die pp. einzubiegen – ob er den Blinker betätigt hatte, steht ebenfalls nicht fest –, jedenfalls zum Zeitpunkt des Anfahrens der Klägerin für diese noch nicht erkennbar war. Damit fehlt dem zu beurteilenden Sachverhalt die für die Annahme eines gegen die Klägerin sprechenden Anscheinsbeweises erforderliche Typizität, ohne dass einer abschließenden Klärung bedürfte, ob die Vorfahrtsregelung des § 8 StVO in derartigen Konstellationen in einem Konkurrenzverhältnis zu der Vorfahrtsregelung des § 10 StVO steht (vgl. BGH, a.a.O., NJW 2008, 1305) oder beide Sorgfaltspflichten wechselseitig zur Anwendung kommen können (so wohl LG Kiel, Urteil vom 26. Februar 2019 – 1 S 67/18, NZV 2019, 370).

1. Die Klägerin trifft vorliegend allerdings ein nicht unerheblicher Sorgfaltsverstoß nach § 1 Abs. 2 StVO. Denn nach den Feststellungen des Sachverständigen hätte sie auch dann, wenn beide Fahrzeuge nahezu gleichzeitig angefahren wären, bei aufmerksamer Fahrweise und ausreichender Blickzuwendung das Einfahren des Erstbeklagten auf die pp. unmittelbar nach Beginn ihres eigenen Einfahrvorgangs erkennen und diesen noch unfallvermeidend wieder abbrechen können (Bl. 281, 283 d.A.). Die Klägerin selbst hatte insoweit erstinstanzlich eingeräumt, das in Kreuzungsnähe haltende Fahrzeug des Erstbeklagten – in welcher Entfernung und ob innerhalb der Bushaltestelle oder auf der Fahrbahn vermochte sie nicht mehr sicher zu sagen – erkannt zu haben und sich sodann auf ein Hupsignal (sowie ein nicht bestätigtes Aufblenden) des Erstbeklagten als Fahraufforderung verlassen zu haben. Demgegenüber wäre bei der gebotenen aufmerksamen Blickzuwendung auch während des Einfahrvorgangs eine gefahrvermeidende Reaktion der Klägerin auf das Anfahren des Beklagtenfahrzeugs möglich gewesen.

Nichts Anderes gilt diesbezüglich im Übrigen auch, wenn man die Unfallversion des Zeugen – Fahrzeug des Erstbeklagten hielt auf der Straße, Klägerin bereits angefahren, als Erstbeklagter anfuhr – zugrunde legen würde. Denn wie die Simulation des Sachverständigen pp. zeigt, wäre selbst dann wenn das Klägerfahrzeug bis etwa 1 Sekunde vor dem Beklagtenfahrzeug angefahren wäre, dessen Anfahrvorgang für die Klägerin erkennbar gewesen, zumal diese sich zu diesem Zeitpunkt maximal mit der linken Vorbauecke in die Fahrbahn der pp. hineinbewegt hatte (Bl. 242). Ohnehin wäre eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Klägerin schon deshalb zu fordern gewesen, da sich das Beklagtenfahrzeug bei dieser Unfallvariante von Beginn an unübersehbar auf der Fahrbahn selbst in unmittelbarer Nähe zum streitgegenständlichen Einmündungsbereich und damit bereits innerhalb des Gefahrenbereiches befunden hätte.

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2. Zu Recht hat der Erstrichter weiterhin einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 10 S. 1 StVO bejaht, wonach ein vom Fahrbahnrand oder einem anderen Straßenteil Anfahrender die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen hat. Wie der Bundesgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung klargestellt hat, ist als „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person anzusehen, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt zwar „primär“ und „insbesondere“, aber nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße. Erfasst werden auch andere auf die Straße einfahrende oder am Straßenrand anfahrende Kraftfahrzeuge (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17). Den vom Fahrbahnrand Anfahrenden trifft insoweit der Beweis des ersten Anscheins, wenn es – wie hier – im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Anfahren zu einem Unfall mit dem fließenden Verkehr kommt (vgl. Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 10 StVO, Rn. 60 m.w.N.). Dass der Erstbeklagte bis zum Kollisionspunkt bereits einige Meter auf der pp. zurückgelegt hatte, ändert hieran grundsätzlich nichts. Denn die Wiedereingliederung des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr ist erst dann abgeschlossen, wenn jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist, und sich gerade nicht die typische Gefahr verwirklicht, dass andere Verkehrsteilnehmer sich noch nicht auf das Hineinbegeben des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr eingestellt haben (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27. März 2015 – I-11 U 44/14, juris). Dies ist vorliegend aber gerade der Fall. Insbesondere haben die für eine etwaige fehlende Typizität des Sachverhalts beweisbelasteten Beklagten – anders als in dem der Kammerentscheidung vom 19.05.2017 – 13 S 4/17, DAR 2017, 470, zugrundeliegenden Sachverhalt – hier nicht nachzuweisen vermocht, dass der Anfahrvorgang des Erstbeklagten für die in der untergeordneten pp. stehende Klägerin vor Einleitung ihres eigenen Abbiegemanövers erkennbar war. Vielmehr verbleibt nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen pp. hier gerade die Möglichkeit, dass beide Fahrzeuge zeitgleich anfuhren, so dass der Erstbeklagte der Klägerin gegenüber die höchstmögliche Sorgfalt zu beachten hatte.

3. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich im Rahmen der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge die Annahme einer Haftungsverteilung von 30 % zu 70 % zu Lasten der Beklagtenseite. Dies trägt dem Gewicht des Verstoßes gegen die höchstmögliche Sorgfaltspflicht beim Anfahren nach § 10 S. 1 StVO einerseits sowie der Missachtung des Rücksichtnahmegebots andererseits angemessen Rechnung. Soweit der Erstbeklagte unter Verstoß gegen § 16 Abs. 1 StVO ein Hupsignal abgegeben und die Klägerin dieses entgegen § 16 Abs. 1 StVO (reines Warnzeichen) unzutreffend als Fahraufforderung gedeutet hat, erhöht sich die Betriebsgefahr auf beiden Seiten gleichermaßen.

4. Der ersatzfähige Schaden am Fahrzeug der Klägerin enthält zunächst unstreitig die gemäß § 86 Abs. 1 VVG quotenbevorrechtigte Selbstbeteiligung (vgl. BGHZ 47, 308) von 300 € in voller Höhe, welche die Beklagten bereits erstattet haben. Des Weiteren ist auf der Grundlage des gerichtlichen Sachverständigengutachtens eine quotenbevorrechtigte merkantile Wertminderung (vgl. BGHZ 82, 338) von 300 € vollständig in Ansatz zu bringen, wovon die Beklagten bereits 200 € anerkannt haben, weshalb ein Betrag von 100 € verbleibt. Die Wertermittlung des Sachverständigen hat die einschlägigen Bewertungskriterien von Fahrzeugalter und Laufleistung, Erhaltungszustand, Wert, Schadensumfang einschließlich etwaiger Vorschäden, eingeschlagener Reparaturweg und Käuferverhalten (vgl. z.B. Nachweise im Urteil der Kammer vom 20.09.2019 – 13 S 112/19 sowie bei Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., § 249 BGB Rn. 164 f.) berücksichtigt und die Bewertungssysteme BVSK und Methode Ruhkopf-Sahm einander gegenübergestellt und eine Wertspanne von 200 bis 350 € ermittelt. Soweit der Sachverständige den oberen Grenzwert als marktrealistischer als den Mittelwert von 275 € einordnete, hält sich die erstinstanzliche Wertannahme von 300 € im Rahmen des Schätzungsermessens des § 287 ZPO und ist berufungsgerichtlich nicht zu beanstanden. Die ersatzfähige Unkostenpauschale als Bestandteil des inkongruenten Schadens berechnet sich dagegen anteilig von einem Betrag von lediglich 25 € (vgl. z.B. Urteil der Kammer vom 17. November 2017 – 13 S 45/17, NJW 2018, 876), d.h. 70 % von 25 € = 17,50 € abzüglich gezahlter 8,67 € = 8,83 €.

Hinzu kommt eine anteilige Nutzungsausfallentschädigung in Höhe von 558,60 € (21 T/38 €, hiervon 70 %) abzüglich anerkannter 104,99 € = 453,61 €. Das klägerische Fahrzeug befand sich vom Tag des Unfalls (Freitag, den 27.11.2015) – nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in nicht verkehrssicherem Zustand – bis zum 21.12.2015 in der Reparaturwerkstatt, wo auch die Besichtigung durch den vorgerichtlich tätigen Gutachter zeitnah zum Unfallgeschehen vorgenommen wurde. Dass vorliegend eine Notreparatur möglich und dies der Klägerin mitgeteilt worden wäre, haben die für einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB beweisbelasteten Beklagten nicht nachzuweisen vermocht. Weder konnte der Geschäftsführer des reparierenden Autohauses, der Zeuge pp., sicher bestätigen, dass das Ergebnis der Achsvermessung beanstandungsfrei gewesen wäre, noch, dass dies dem Zeugen pp. (Gutachter) zur Kenntnis oder in den Wissensbereich der Klägerin gebracht worden sei. Soweit der Zeuge pp. weiter angegeben hat, die Arbeiten am klägerischen Fahrzeug seien am Freitag, den 18.12.2015 um 15:19 Uhr abgeschlossen gewesen, so dass es hätte abgeholt werden können, ist die Anspruch stellende Klägerin ihrerseits den Nachweis schuldig geblieben, dass sie hiervon nicht informiert worden sei, so dass eine Abholung erst am 21.12.2015 erfolgen konnte. Dementsprechend ist ein Ausfallzeitraum von 21 Tagen zugrunde zu legen. Der Tagessatz für das streitgegenständliche Fahrzeug liegt nach der SchwackeNet Fahrzeugbewertung bei 38 € /Tag.

Der von den Beklagten noch auszugleichende Schaden am klägerischen Fahrzeug beläuft sich mithin auf 562,44 €. Daneben kann die Klägerin Feststellung der Ersatzpflicht des Höherstufungsschadens verlangen, allerdings – da es sich nicht um einen deckungsgleichen Schaden handelt – nur anteilig nach der Haftungsquote.

5. Weiterhin kann die Klägerin nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB auch Ersatz der ihr Ende Januar 2016 aufgrund der Inanspruchnahme des Schädigers angefallenen vorgerichtlichen Anwaltskosten aus dem berechtigten Gesamtanspruch verlangen (vgl. BGH, Urteil vom 20.05.2014 – VI ZR 396/13, VersR 2014, 1100). Ihr steht insoweit gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV Anspruch auf Ersatz einer 1,3-Geschäftsgebühr (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urteil vom 27.05.2014 – VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) aus einem Gegenstandswert von 867,43 € (300 € Wertminderung + 558,60 € Nutzungsausfall + 8,83 € Unkostenpauschale) in Höhe von 104 € + 20 € (Pauschale) + 23,56 € (MwSt.) = 147,56 € zu. Dagegen sind die vorliegend als Hauptforderung geltend gemachten und erstinstanzlich berücksichtigten, für die Inanspruchnahme der Kaskoversicherung Mitte Januar 2016 angefallenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 571,44 € (1,3 x 354 € + 20 € + 91,24 €) – besondere Schwierigkeiten der Angelegenheit sind insoweit nicht dargetan – nicht ersatzfähig (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 2017, VI ZR 90/17).

6. Der auf die Widerklage von Klägerin und Drittwiderbeklagten zu ersetzende Schaden am Beklagtenfahrzeug beträgt 474,50 € (30 % von 1.581,64 €). Der gerichtliche Sachverständige hat insoweit Reparaturkosten in Höhe von 1.556,64 € netto bestätigt (Bl. 293 d.A.). Hinzu kommt die geltend gemachte Unkostenpauschale, allerdings lediglich in einer Höhe von 25 €.

7. Die Zinsentscheidungen beruhen auf §§ 288 Abs. 1, 291 BGB (Klage) bzw. auf §§ 286, 288 Abs. 1 BGB (Widerklage). Da die Drittwiderbeklagte unter dem 19.01.2016 eine Zahlung unter Hinweis auf eine fehlende Mithaftung des Versicherungsnehmers abgelehnt hatte, befanden sich die Widerbeklagten ab dem 20.01.2016 mit der Leistung in Verzug.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO und entspricht den jeweiligen Obsiegens- und Unterliegensanteilen. Für die erste Instanz wurde insoweit ein Streitwert von 4.472,32 € (1.817,33 € + 571,44 € RA Kosten Kasko + 500 € Feststellung + 1.583,55 € Widerklage) zugrunde gelegt. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten für die streitgegenständlichen Forderungen wirken sich als Nebenforderungen gemäß § 4 Abs. 1 ZPO nicht streitwerterhöhend aus. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

 

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