VG Gießen (10. Kammer)
Aktenzeichen: 10 E 2505/99
Entsch.-Datum 14.02.2000
Leitsätze:
Ein Anspruch auf Herausgabe einer über einen Betroffenen geführten Akte besteht weder nach den allgemeinen noch den bereichsspezifischen Datenschutzgesetzen, noch handelt es sich hierbei um einen Ausfluss aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG.
Die Selbstbestimmung über die Preisgabe von Daten fordert nicht zwingend auch die Rückgabe von Daten, welche Dritte einmal erlangt haben. Dem Betroffenen steht vielmehr neben einem Akteneinsichtsrecht grundsätzlich nur die Löschung und Sperrung im Rahmen der gesetzlichen Regelungen zu.
Für die Löschung von Aktenteilen findet § 27 HSOG Anwendung, wenn eine Behörde als Gefahrenabwehrbehörde (Verwaltungsbehörde) im Rahmen von Maßnahmen nach dem Hessischen Freiheitsentziehungsgesetz tätig wird. § 27 HSOG ist als bereichsspezifische Norm gegenüber dem Hessischen Datenschutzgesetz vorgreiflich.
Mangels anderweitiger Regelung ist jedoch davon auszugehen, dass die Prüffristenverordnung abschließend und damit der Auffangtatbestand „sonstige Personen“ gegeben ist – auch wenn § 4 PrüffristV0 nur auf Daten in anderen Dateien abstellt.
Auskunft nach § 29 HSOG kann insoweit nicht verlangt werden, als die Abwägung ergibt, dass die Rechte des Betroffenen hinter dem öffentlichen Interesse an der Geheimhaltung oder dem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse Dritter zurücktreten müssen. Die Entscheidung trifft die Behördenleitung oder ein von dieser beauftragter Bediensteter. Eine pauschale Verweigerung einer Auskunft über den Akteninhalt darf nicht erfolgen.
Das Widerspruchsrecht gegen weitere Nutzung personenbezogener Daten nach § 7 Abs. 5 HDSG wurde im Bereich des Polizeirechts nicht ausgeschlossen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Herausgabe einer über sie geführten Akte bei der Beklagten und Unterlassung der Nutzung der Akte.
Die Klägerin absolvierte nach eigenen Angaben ein 7-monatiges Praktikum bei der Beklagten. Cirka acht Jahre später habe sie erfahren, dass Ordnungsamt eine Akte über sie führe. Den Inhalt kenne sie bis heute noch nicht. Die Beklagte wolle die Akte nicht herausgeben. Sie werde benötigt zwecks Schadensersatzes und Schmerzensgeld.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Beklagte zu verurteilen, eine über die Klägerin bei der Beklagten geführte Akte herauszugeben und deren Nutzung zu unterlassen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie gibt an, dass die Klägerin seit Januar 1989 der allgemeinen Polizeibehörde aufgrund ihres Verhaltens bekannt sei. Ab diesem Zeitpunkt werde die streitgegenständliche Akte beim Ordnungsamt M. geführt. Zum damaligen Zeitpunkt sei es um eine akute Suizidgefahr der Klägerin gegangen, welche der Beklagten bekannt geworden sei. Im Verlauf des Verfahrens sei zu entscheiden gewesen, ob eine Unterbringung der Klägerin in eine psychiatrische Klinik veranlasst werden sollte, was letztendlich unterblieben ist.
Das Verhalten der Klägerin habe immer wieder zu einem Tätigwerden der Behörden der Beklagten geführt. Aufgrund einer chronifizierten Erkrankung leide die Klägerin an vielfältigen, zum Teil jahrelang gleichbleibenden Wahnvorstellungen. Hierbei könne es auch zu tätlichen Angriffen kommen. Aufgrund ihres Verhaltens sei es im Laufe der Jahre mehrfach zu Anordnungen der sofortigen Unterbringung der Klägerin gemäß § 10 HFEG gekommen, soweit ersichtlich jedoch nur einmal zur Bestätigung der Unterbringung zu einer einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts M. Im weiteren Verlauf ist die Klägerin durch einstweilige Anordnung des Amtsgerichts M. unter vorläufige Betreuung gestellt worden, wobei Gutachten unter anderem zu Prozessfähigkeit der Klägerin eingeholt worden seien. Aufgrund eines Gutachtens des Gesundheitsamtes der Stadt M. vom 02.04.1998 sei Frau Rechtsanwältin Sch. zur Betreuerin mit dem Wirkungskreis Entscheidung über Heilbehandlung, Entscheidung über Unterbringung auf einer psychiatrischen Station, Vermögenssorge und Vertretung gegenüber dem Vermieter betraut worden. Diese Betreuung ist letztlich bis zum 09.12.2003 verlängert worden. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Prozessfähigkeit der Klägerin.
Die Klage sei auch unbegründet, da ein entsprechender Herausgabeanspruch nicht bestehe. Die Akte sei nebst ihrem Inhalt Eigentum der Behörde. Eine Vernichtung bzw. Löschung der Daten scheine die Klägerin ausweislich der Begründung zu ihrem Klageantrag nicht zu wollen. Jedoch sei ein entsprechender Antrag auch zu verneinen, da bei der Prüfung der Akte nicht festgestellt werden könne, dass die erfolgte Speicherung der Daten unzulässig bzw. dass die Kenntnis der gesamten Vorkommnisse und damit des gesamten Akteninhalts für die Aufgabenerfüllung der Beklagten nicht mehr notwendig sei. Soweit die Klägerin an einer Kenntnis des Akteninhalts gelegen sei, gebe es zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Akteneinsicht, dieser sei vorliegend jedoch nicht gegeben. Unter Abwägung des Interesses des Schutzes Dritter seien die Daten geheim zu halten. Auch sei die Datenerhebung bzw. -verarbeitung nicht unzulässig, weshalb die Klage in vollem Umfang abzuweisen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den vorgelegten Behördenvorgang Bezug genommen, welche sämtlich Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Berichterstatter konnte anstelle der Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Klägerin und der Beklagte mit einer solchen Entscheidung einverstanden erklärt haben.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klage zulässig ist, denn sie ist jedenfalls nicht begründet.
Einen Anspruch auf Herausgabe der bei der Beklagten geführten Akte, wie dies die Klägerin begehrt, besteht weder nach den allgemeinen noch bereichsspezifischen Datenschutzgesetzen, noch handelt es sich hierbei um einen Ausfluss aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seiner Entscheidung vom 15.12.1993 (Az. 1 BvR 209/93 u.a., BVerfGE 65, S. 1 ff.) festgestellt, dass der Einzelne grundsätzlich die Befugnis hat, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Der Einzelne ist jedoch nicht allein auf der Welt, sondern Teil einer sozialen Gemeinschaft, welche auf Kommunikation und Information angewiesen ist. Insoweit hat der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem überwiegenden Allgemeininteresse hinzunehmen. Diese Beschränkungen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Diese ist in den allgemeinen Datenschutzgesetzen (Hessisches Datenschutzgesetz, Bundesdatenschutzgesetz) ebenso gegeben, wie in bereichsspezifischen Normen, hier des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Die Selbstbestimmung über die Preisgabe von Daten fordert nicht zwingend auch die Rückgabe von Daten, welche Dritte einmal erlangt haben. Vielmehr steht dem Betroffenen neben einem Akteneinsichtsrecht grundsätzlich die Löschung und Sperrung im Rahmen der gesetzlichen Regelungen zu.
Die Klägerin begehrt die Herausgabe zum Zwecke der Geltendmachung von Schadensersatz. Insoweit will sie gerade keine Löschung oder gar Sperrung der bei der Beklagten geführten Akte nach § 27 HSOG, sondern ihren Erhalt als Ganzes in der Form der Herausgabe. In Betracht käme jedoch eine Sperrung nach § 27 HSOG insoweit, als die weitere Nutzung von einzelnen Teilen der Akte nicht mehr in Betracht kommt. Dies wäre dann der Fall, wenn die Daten nicht mehr erforderlich sind und ihre Löschung wegen der Art der Speicherung mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden wäre oder die Speicherung von Anfang an unzulässig gewesen ist – wozu es vorliegend keine Anhaltspunkte gibt.
Für die Fragen der Löschung von Aktenteilen wäre § 27 HSOG einschlägig. Eine Regelung, welche für die Beklagte als Gefahrenabwehrbehörde (Verwaltungsbehörde) im Rahmen von Maßnahmen nach dem Hessischen Freiheitsentziehungsgesetz als bereichsspezifische Norm gegenüber dem Hessischen Datenschutzgesetz vorgreiflich ist.
Hiernach sind – soweit die Speicherung nicht von vorneherein unzulässig ist – personenbezogene Daten in Akten spätestens dann zu vernichten und damit zu löschen, wenn die gesamte Akte zur Erfüllung der Zuständigkeit der, der speichernden Stelle obliegenden Aufgaben nicht mehr erforderlich ist (§ 27 Abs. 3 Satz 2 HSOG). Insoweit hat der Hessische Minister des Innern durch Rechtsverordnung sogenannte Prüffristen festlegen müssen, nach deren Ablauf zu prüfen ist, ob die weitere Speicherung der Daten zur Aufgabenerfüllung erforderlich ist. Dies ist jedoch mit der Prüffristenverordnung vom 26. Juni 1996 (GVBI. I S. 332) nur insoweit erfolgt, als Fristen für tatverdächtige Personen, vermisste Personen und für sogenannte „sonstige Personen“ festgelegt worden sind. Im letzteren Fall der „sonstigen Person“ würde die Prüffrist drei Jahre betragen (§ 4 Prüffristenverordnung). Weitere Personen- oder Fallgruppen, unter welche auch die Daten der Klägerin besser fallen würden gibt es nicht.
Ob dies von Seiten des Gesetzgebers und nunmehr des Verordnungsgebers tatsächlich so gewollt ist, vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen. Mangels anderweitiger Regelung ist jedoch davon auszugehen, dass die Regelung abschließend ist und damit der Auffangtatbestand „sonstige Personen“ gegeben ist – auch wenn § 4 PrüffristV0 nur auf Daten in anderen Dateien abstellt. Ob die hier vorgelegte Akte Teil einer nicht-automatisierten Datei im Sinne des alten Datenschutzrechts ist (vgl. § 2 Abs. 8 Nr. 2 HDSG) kann hier dahinstehen. Andernfalls wäre die Prüffristenverordnung nicht vollständig und es läge eine vom Verordnungsgeber nicht geschlossene Lücke vor.
Hiervon geht das Gericht zugunsten des Verordnungsgebers nicht aus. Insoweit ist unter Zugrundelegung von § 4 PrüffristV0 jede einzelne Speicherung zu dem jeweiligen Zweck nach drei Jahren zu überprüfen ist. Das Gericht vermag nicht festzustellen, dass fristgemäße Prüfungen erfolgt sind. Eine Löschung und Vernichtung darf nur unterbleiben, wenn nach § 27 Abs. 6 HSOG Grund zu der Annahme besteht, dass schutzwürdige Belange der betroffenen Person beeinträchtigt würden, die Daten zur Behebung einer bestehenden Beweisnot unerlässlich sind oder die Verwendung der Daten, die zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu anonymisieren sind, zu wissenschaftlichen Zwecken erforderlich ist. Dass dies vorliegend bei den in der Behördenakte gesammelten unterschiedlichen Vorgangsdaten der Fall ist, vermag das Gericht nicht zu erkennen.
Unabhängig davon darf eine Speicherungsfrist nach § 27 Abs. 4 Satz 2 HSOG bei Erwachsenen von 10 Jahren nicht überschritten werden. Dabei ist nach Art und Zweck der Speicherung und Art und Bedeutung des Anlasses zu unterscheiden. Dass insoweit eine entsprechende Prüfung von Löschfristen erfolgt ist, ist aus dem Behördenvorgang ebenfalls nicht ersichtlich.
Hierauf kommt es jedoch nicht an, da die Klägerin keine Löschung der Daten in der Akte begehrt, sondern Herausgabe der Akte.
Ein anderes Mittel als das der Herausgabe der Akten wäre die Akteneinsicht bzw. die Benachrichtigung über den Akteninhalt. Nach § 29 HSOG ist dem Betroffenen auf Antrag gebührenfrei Auskunft zu erteilen über die zu ihrer Person gespeicherten Daten, die Herkunft der Daten, den Zweck und die Rechtsgrundlage der Speicherung und der sonstigen Verwendung. Die Auskunft kann aber insoweit nicht verlangt werden, als die Abwägung ergibt, dass die Rechte des Betroffenen hinter dem öffentlichen Interesse an der Geheimhaltung oder dem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse Dritter zurücktreten müssen. Die Entscheidung trifft die Behördenleitung oder ein von dieser beauftragter Bediensteter. Da ein Antrag auf Akteneinsicht nicht gestellt worden ist, fehlt es an einer solchen Entscheidung. Das Gericht kann sich auch nicht an die Stelle der Behördenleitung setzen, da hier ein Abwägungsprozess stattzufinden hat, welcher allenfalls gerichtlich überprüft werden kann.
Unabhängig davon weist das Gericht darauf hin, dass eine pauschale Verweigerung einer Auskunft über den Akteninhalt nicht erfolgen darf. Insoweit wird auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 27.04.1989, Az. BVerwG 3 C 4.86, NJW 1989, S. 2960 f.), des VGH München (Beschluss vom 08.12.1987, Az. 25 C 87.01145, NJW 1988, 1615) sowie des BGH (Urteil vom 23.11.1982, Az. VI ZR 222/97, BGHZ 85 S. 327 ff.; Urteil vom 06.12.1988, Az. VI ZR 76/88, RDV 1989 S. 79 ff. und Urteil vom 31.05.1993, Az. VI ZR 259/81, NJW 1993 S. 2627 ff.) nebst der umfassenden Aufzählung weiterer Rechtsprechung in Demke/Schild (Kommentar zum Hessischen Datenschutzgesetz, § 18 Erl. VI. a) verwiesen.
Soweit die Klägerin ein Unterlassen der weiteren Nutzung ihrer personenbezogener Daten begehrt, könnte es sich hierbei um ein Begehren nach § 7 Abs. 5 HDSG handeln. Hiernach wird dem Betroffenen ein Widerspruchsrecht gegen die rechtmäßige Verarbeitung seiner Daten eingeräumt, wenn überwiegend schutzwürdige, aus der besonderen Situation ergebende Gründe es rechtfertigen, dass die personenbezogenen Daten nicht verarbeitet werden (siehe dazu Schild, RDV 1999, S. 52, 56; derselbe, Kommentar zum Hessischen Datenschutzgesetz, Einführung, Rdnr. 106). Diese Regelung ist auch durch die bereichsspezifischen Normen des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht verdrängt. Eine Verdrängung ist bei einer Verwaltungsbehörde als Gefahrenabwehrbehörde auch nicht möglich, da insoweit Art. 14 der EG-Datenschutzrichtlinie durchschlägt. Denn die EG-Datenschutzrichtlinie findet nach Art. 3 Abs. 2 RiLi nur in den Bereichen keine Anwendung, welche nicht unter das Gemeinschaftsrecht fallen. Dies ist bei Freiheitsentziehung und Betreuungsmaßnahmen gerade nicht der Fall. § 7 Abs. 5 HDSG wurde auch nicht im Bereich des Polizeirechts ausdrücklich ausgeschlossen. Einer solchen bereichsspezifischen Regelung zur Nichtanwendbarkeit der Widerspruchsregelung im Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung hätte es jedoch im Geltungsbereich der EG-Datenschutzrichtlinie bedurft (Schild RDV 1999, S. 52, 56; derselbe, Kommentar zum Hessischen Datenschutzgesetz, Einführung, Rdnr. 109).
Die Klägerin hat jedoch nicht dargetan, inwieweit aus ihrer besonderen Situation heraus sich Gründe ergeben, die es rechtfertigen würden, die in der Akte gespeicherten personenbezogenen Daten nicht weiter zu verwenden. Diese sind auch – mit Ausnahme der Vorgangsteile, welche von Amts wegen zu löschen wären – insbesondere im Hinblick auf das angeordnete Betreuungsverhältnis nicht ersichtlich.
Nach alledem ist die Klage vollumfänglich unbegründet.
Als Unterlegene hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit bezüglich der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO entsprechend.