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Anscheinsbeweis bei Auffahrunfall nach vorangegangenem Spurwechsel

OLG Frankfurt – Az.: 22 U 70/18 – Urteil vom 09.06.2020

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 13.11.2017 teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin weitere 233,41 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 2.12.2013 zu zahlen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten der Berufungsinstanz tragen die Klägerin 93%, die Beklagte 7%. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin 43%, die Beklagte 57%.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Gegenstandswert für die Berufungsinstanz wird auf 3.210,39 festgesetzt.

Gründe

I.

Von der Wiedergabe des Sachverhalts wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a, 544 ZPO abgesehen, da gegen das Urteil unzweifelhaft ein Rechtsmittel nicht zulässig ist.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist weitgehend unbegründet.

Das Landgericht hat durch das angefochtene Urteil im Ergebnis zutreffend eine hälftige Haftungsverteilung angenommen. Lediglich hinsichtlich der Frage des Restwerts hat die Berufung teilweise Erfolg.

Das Landgericht ist nach ausführlicher Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass der Verkehrsunfall vom 08.10.201X auf der Bundesautobahn A… in Richtung Stadt1 vor dem Kreuz1 von beiden beteiligten Fahrzeugen verursacht worden ist.

Nach dem von den Parteien nicht angegriffenen Sachverständigengutachten steht auch zur Überzeugung des Senats fest, dass beide Sachverhaltsvarianten, die von den Parteien geschildert worden sind, zutreffen können. Es kann durchaus sein, dass die beiden Fahrzeuge versetzt hintereinander hergefahren sind und der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs auf den vor ihm fahrenden Pkw1 aufgefahren ist, ohne dass es zuvor einen Fahrstreifenwechsel gegeben hat. Es ist aber genauso möglich, dass der Pkw1 vor dem Beklagtenfahrzeug die Fahrspur gewechselt hat und deshalb angesichts des sich stauenden Verkehr sein Fahrzeug so abbremsen musste, dass dem Hintermann der Bremsweg verkürzt wurde.

Das Landgericht hat bereits aufgrund dieser Möglichkeit eine Typizität verneint und ist deshalb zu einer hälftigen Schadensverteilung gekommen, weil der Unfall im Übrigen nicht aufklärbar war. Dies entspricht allerdings in dieser Abstraktheit nicht der Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis. Liegt ein weitgehend längsachsenparalleler Auffahrunfall vor, ist es grundsätzlich Sache des Auffahrenden, den Anscheinsbeweis gegen ihn zu erschüttern. Dafür ist erforderlich, dass er nicht nur behauptet, sondern auch nachweist, dass sich der Unfall im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel ereignet hat.

Etwas anderes gilt aber, wenn unstreitig ist, dass ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat und lediglich die Frage offen bleibt, wann dieser stattgefunden hat.

Nach einem Fahrspurwechsel, der den Anscheinsbeweis grundsätzlich erschüttert, kann eine Typizität erst wieder angenommen werden, wenn beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrzeugbewegungen einstellen konnten (KG 14.5.07 – 12 U 194/06 – NZV 08, 198; LG Essen 3.12.09 – 4 O 4/08 -; OLG Düsseldorf 19.1.10 – 1 U 89/09 – VersR 10, 1236; OLG München 4.9.09 – 10 U 3291/09 -; BGH 13.12.11 – VI ZR 177/10 -; so auch OLG Oldenburg 21.3.12 – 3 U 69/11 -; LG Dortmund 14.4.15 – 21 O 319/13 -; OLG München 12.1.18 – 10 U 3100/17 -).

Ist allerdings nur das Kerngeschehen, der Auffahrunfall, unstreitig, und stehen andere Umstände nicht fest, reicht als Basis für den Anscheinsbeweis das Kerngeschehen aus. Bestreitet der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel und kann der Auffahrende den Spurwechsel nicht beweisen, so ist der im Hinblick auf das Kerngeschehen eröffnete Anscheinsbeweis nicht erschüttert (BGH 13.12.2016 – VI ZR 32/16 -).

Vorliegend ist allerdings unstreitig, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs zuvor auf die linke Fahrspur gewechselt ist, wenn auch nach seiner Darstellung bereits lange vorher. Damit besteht aber die Möglichkeit der Unfallverursachung durch den Fahrspurwechsel, so dass sich die Klägerin nicht auf die für die Annahme des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität berufen kann. Dafür wäre nämlich erforderlich gewesen, darzulegen und nachzuweisen, dass sich der Fahrspurwechsel bereits so lange vor dem Auffahrunfall abgespielt hat, dass das nachfolgende Fahrzeug sich darauf einstellen konnte. Dieser Nachweis ist der Klägerin nicht gelungen.

Anscheinsbeweis bei Auffahrunfall nach vorangegangenem Spurwechsel
(Symbolfoto: Von laymanzoom/Shutterstock.com)

Mangels weiterer Anhaltspunkte hinsichtlich der Unfallverursachung verbleibt es bei der beiderseits bestehenden Haftung gemäß § 7, 18 StVG, so dass gemäß § 17 StVG i.V.m. § 426 BGB beide Seiten die hälftige Verantwortung für den Unfall tragen.

Hinsichtlich der Schadenshöhe gilt folgendes: Mit der Berufung hat die Klägerin die Klageabweisung hinsichtlich der Abschleppkosten und auch hinsichtlich eines Restwerts von 350 € akzeptiert. Die Parteien sind übereinstimmend davon ausgegangen, dass in dem vom Sachverständigen errechneten Wiederbeschaffungswert von 6.550 € Mehrwertsteuer i.H.v. 19 % enthalten ist, so dass sich ein Netto-Wiederbeschaffungswert von 5.504,20 € ergibt. Dazu hinzuzufügen sind die unstreitigen Sachverständigenkosten i.H.v. 624,75 € sowie eine Unkostenpauschale i.H.v. 25 €. Dies ergibt einen Gesamtschaden der Klägerin von 6.153,95 €, von dem der Restwert abzuziehen ist.

Entgegen der Auffassung der Klägerin muss sie sich allerdings den Restwert anrechnen lassen, den sie durch den Verkauf ihres Fahrzeugs erzielt hat. Sie hatte das Fahrzeug am 29.10.201X für einen Preis von 500 € verkauft, der über der Schätzung des Sachverständigen lag. Da der Geschädigte am Unfall nicht verdienen soll, hat er sich die entsprechend erzielbaren Einsparungen anrechnen zu lassen, soweit diese im Rahmen des Üblichen erreicht werden konnten. Überobligatorische Aufwendungen sind dem Geschädigten nicht zuzumuten, vorliegend aber auch nicht erkennbar.

Das Landgericht hat hinsichtlich des Restwertes ein Sachverständigen-Gutachten eingeholt, nachdem die Beklagtenseite im Verfahren ein Restwertangebot i.H.v. 3.230 € vorgelegt hatte. Der Gerichtssachverständige ist zu einem Restwert gekommen, der im Mittel bei einem Betrag von 966,39 € lag, den das Landgericht zu Grunde gelegt und insoweit die Klage abgewiesen hat.

Dies hält der Berufung nicht stand.

Die Klägerin durfte sich vorliegend auf die Angaben des Sachverständigen verlassen, wonach ein Restwert von 350 € auf dem regionalen Markt erzielbar war. Sie konnte deshalb ihr Fahrzeug, da ihr zu diesem Zeitpunkt keine Restwertangebote vorlagen, zu dem erzielbaren Preis verkaufen, der vorliegend allerdings 500 € betrug.

Das Landgericht hätte vor einer Entscheidung dem Beweisangebot der Klägerin durch Anhörung des Schadenssachverständigen nachkommen und klären müssen, wie dieser zu der Bemessung des Restwerts gekommen ist.

Der Senat ist den Einwendungen nachgegangen, wonach das Schadensgutachten nicht den Anforderungen der Rechtsprechung genügte, weil der Sachverständige nicht, wie erforderlich, drei Restwertangebote aufgelistet und beigefügt hatte. Der Sachverständige B hat allerdings als sachverständiger Zeuge erklärt, dass er entsprechend den Anforderungen der Rechtsprechung mehrere Vergleichsangebote eingeholt hatte, und hat diese auch zu den Akten gereicht.

Anhaltspunkte dafür, dass die Restwertangebote nicht zutreffen könnten, sind vorliegend nicht ersichtlich und werden von den Parteien auch nicht vorgetragen.

Grundsätzlich darf sich der Geschädigte auf die Angaben des Schadenssachverständigen verlassen, wenn dieser ordnungsgemäß vorgegangen ist. Tatsächlich hatte der Sachverständige allerdings Vergleichsangebote nicht ausdrücklich benannt und auch dem Gutachten nicht beigefügt.

Dies bedeutet aber nicht, dass die Klägerin sich nicht auf das Gutachten verlassen durfte. Dass sie selbst mehr erzielt hat, als der Sachverständige als Höchstwert angegeben hat, ist angesichts der relativ geringen Differenz unschädlich.

Wenn sich ein Auftraggeber auf ein Gutachten verlässt, das zumindest formal nicht den Anforderungen der Rechtsprechung standhält, verletzt er nur dann seine Schadensminderungspflicht, wenn daraus für die Gegenseite kausal ein Schaden entstanden ist.

Wenn der Sachverständige tatsächlich, wie vorliegend, rechtsprechungskongruent vorgegangen ist und dies lediglich nicht ausreichend dokumentiert hat, fehlt es deshalb nach Auffassung des Senats an einer Grundlage, dem Geschädigten einen höheren als den erzielten Restwert anzurechnen.

Bei Anrechnung des erzielten Restwertes ergibt sich mithin ein bei vollständiger Haftung insgesamt ersatzfähiger Betrag von 5.653,31 €, von dem die Klägerin 50 % ersetzt erhält, mithin 2.826,65 €.

Um die Differenz zum bereits im angefochtenen Urteil titulierten Betrag von 2.593,56 € war deshalb das angefochtene Urteil abzuändern, wobei die Nebenforderungen aus den §§ 284, 288 BGB folgen. Hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten war angesichts des nur geringfügig erhöhten Streitwertes ohne Gebührensprung keine Abänderung erforderlich.

Die weiteren prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Anhaltspunkte für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 543) ZPO.

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