LG Saarbrücken, Az.: 13 S 69/19, Urteil vom 04.10.2019
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Saarlouis vom 22.02.2019 – Az. 29 C 47/17 (16) – abgeändert. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 3.105,17 € sowie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,64 € jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.12.2018 zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
3. Das Berufungsurteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger macht 50% seines Schadens geltend, den er bei einem Verkehrsunfall am 14.11.2016 auf der B … zwischen … und … kurz vor der Einmündung der Straße „…“ erlitten hat. Hierbei fuhr er mit seinem Kfz (Daimler-Benz 200 E, …) auf das vor ihm befindliche, von der Erstbeklagten gesteuerte und bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherte Kfz (BMW 116d, …) auf. Ca. 80m hinter der Unfallstelle in Fahrtrichtung …, in der die Unfallbeteiligten unterwegs waren, befindet sich ein Verkehrsschild, das die Geschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt. Der Kläger beziffert seinen Gesamtschaden auf (5.300 Euro Wiederbeschaffungsaufwand + 885,34 Euro Sachverständigenkosten + 25 Euro Unkostenpauschale =) 6.210,34 Euro, wovon er den hälftigen Betrag von 3.105,17 nebst außergerichtlichen Anwaltskosten und gesetzlichen Zinsen klagweise geltend macht mit der Behauptung, die Erstbeklagte habe ihr Fahrzeug zunächst von 70 auf 50 km/h verringert und dann ohne erkennbaren Grund auf freier Strecke zum Stillstand abgebremst. Die Beklagten sind dem entgegengetreten mit der Behauptung, der Kläger sei auf das mit 50 km/h fahrende Beklagtenfahrzeug aufgefahren, das erst danach bis zum Stillstand abgebremst habe.
Das Erstgericht hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen, weil ein Mitverschulden der Erstbeklagten in Form eines grundlosen starken Bremsens nicht nachgewiesen sei. Hiergegen wendet sich die Berufung des Klägers, mit der die Beweiswürdigung des Erstgerichts gerügt wird. Die Beklagten verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung.
II.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der rechtliche Ausgangspunkt des Amtsgerichts, dass sowohl die Beklagten als auch der Kläger grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7,17 Abs. 1,2,18 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte, ist zutreffend und wird von der Berufung nicht in Zweifel gezogen.
2. Das Erstgericht hat in die danach gebotene Haftungsabwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile auf Seiten der Erstbeklagten keinen Verkehrsverstoß eingestellt, weil nicht nachgewiesen sei, dass diese entgegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO ohne zwingenden Grund stark gebremst hatte. Hiergegen wendet sich die Berufung jedenfalls im Ergebnis mit Recht. Aufgrund der Anhörung beider Parteien in der Berufungsinstanz und mit Blick auf die gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Dipl. Ing. … ist die Kammer davon überzeugt, dass die Erstbeklagte auf freier Strecke ihr Fahrzeug (nahezu) bis zum Stillstand abgebremst hat, ohne dass hierfür ein erkennbarer Grund vorhanden war. Ob damit ein starkes Abbremsen verbunden war, wie dies § 4 Abs. 1 S. 2 StVO voraussetzt, kann letztlich dahinstehen. Denn in jedem Fall hat die Erstbeklagte damit den nachfolgenden Verkehr einer unnötigen Gefahr ausgesetzt und damit gegen ihre Verpflichtung aus § 1 Abs. 2 StVO verstoßen.
a) Die Erstbeklagte hat in ihrer Anhörung vor der Kammer, ebenso wie bereits zuvor vor dem Amtsgericht, erklärt, von 70 auf vorgeschriebene 50 km/h heruntergebremst zu haben. Zudem hat sie ausgeführt, dass sie jedenfalls keine bewusste Vollbremsung vorgenommen und allenfalls etwas ruckartig abgebremst habe, wobei sie durch den Knall des Unfalls so erschrocken gewesen sei, dass sie nachträglich eine Vollbremsung durchgeführt habe. Auf Nachfrage wollte sie jedoch nicht ausschließen, dass ihr Fahrzeug bereits im Zeitpunkt der Kollision gestanden hatte.
b) Ausweislich der polizeilichen Unfallaufnahme in den Ermittlungsakten hat die Erstbeklagte am Unfallort erklärt, dass plötzlich die Räder blockiert hätten, weshalb sie zum Stehen gekommen sei (Bl. 4 der Ermittlungsakte). Deshalb ist anschließend der Schlüssel sowie das Steuergerät des Fahrzeugs ausgelesen worden, um einen etwaigen technischen Defekt nachzugehen. Das Auslesen hat indes keine Auffälligkeiten ergeben, weshalb der ermittelnde Polizeibeamte, der Zeuge …, von einem Fahrfehler ausgeht. Dies hat er in seiner Vernehmung (GA 132) auch bestätigt.
c) Wie der Polizeibeamte ferner bestätigte, befindet sich das Geschwindigkeitsbegrenzungsschild in einer Entfernung von rd. 80 m vom Unfallort. Ein Abbremsen auf 50 km/h war daher hier noch nicht geboten.
d) Der Sachverständige Dipl. Ing. … kommt in seiner Begutachtung zu dem Ergebnis, dass das Beklagtenfahrzeug ausweislich des Splitterfeldes und der Wasserspur unmittelbar hinter dem Kollisionszeitpunkt zum Stillstand gekommen ist. Dies ist nur möglich, wenn es zuvor entweder stand oder sich in einer ganz langsamen Rollbewegung befand.
e) Vor diesem Hintergrund ist die Kammer davon überzeugt, dass das Beklagtenfahrzeug vor der Kollision bis zum Stillstand oder zumindest bis auf ein geringes Rollen abgebremst worden ist. Dass dies im Rahmen einer sog. Vollbremsung erfolgte, steht angesichts der Ausführungen des insgesamt glaubwürdigen Klägers in seiner erst- und zweitinstanzlichen Anhörung, sowie angesichts des verhältnismäßig geringen Zeitraums, der der Erstbeklagten nach Erkennen des 50er Schildes bis zum Kollisionsort verblieb, fest. Selbst wenn dies aber offen bleiben würde, wertet die Kammer bereits das bloße Abbremsen bis zum Stillstand auf freier Strecke außerorts, ohne dass auch nur ein im Ansatz erkennbarer Grund hierfür vorliegt, als ein Fahrmanöver, das den nachfolgenden Verkehr, der damit nicht rechnen muss, besonders gefährdet. Dieser Verstoß gegen das Gefährdungsverbot des § 1 Abs. 2 StVO hat sich im Unfall auch niedergeschlagen, als der Kläger, wie er nachvollziehbar darlegte, von dem Stillstand völlig überrascht wurde und deshalb auch nicht rechtzeitig das Bremsmanöver eingeleitet hatte. Dass für das Abbremsen des Beklagtenfahrzeuges ein technisches Versagen verantwortlich ist, wie dies die Erstbeklagte offenbar am Unfallort angenommen hatte, ist angesichts fehlender Anhaltspunkte für ein technisches Versagen fernliegend. Im Übrigen kann die Frage dahinstehen. Wer sein Fahrzeug ohne erkennbaren Grund abbremst und sich zur Entschuldigung auf technische Gründe beruft, hat diese nach allgemeinen Beweislastregeln darzulegen und zu beweisen. Hierfür hat die Beklagtenseite weder vorgetragen noch Beweis angeboten.
3. Obwohl die Erstbeklagte ohne zwingenden Grund stark gebremst hat, ist ein dem Kläger zuzurechnender Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO aufgrund unzureichenden Sicherheitsabstands zum vorausfahrenden Fahrzeug in die Abwägung einzustellen.
a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO muss der Abstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm angehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins (BGH, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 16.01.2007 – VI ZR 248/05, VersR 2007, 557; Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn. 146; Helle in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 4, Rn. 42, jeweils m.w.N.).
b) Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann nach allgemeinen Grundsätzen dadurch erschüttert werden, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (BGH, st. Rspr., vgl. Urteil vom 13.12.2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177; vom 16.01.2007 a.a.O. m.w.N.). Dies gilt etwa in Fällen, in denen der Nachfolgende auf ein vorausfahrendes Fahrzeug auffährt, weil dieses durch ein Fahrzeug verdeckt war, das erst im letzten Moment durch einen Fahrspurwechsel den Blick freigegeben hat, oder weil das vorausfahrende Kfz unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen kommt (BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, VersR 1987, 358).
c) Soweit dies in Rechtsprechung und Literatur auch in Betracht gezogen wird, wenn dem Auffahrenden der Nachweis gelingt, dass der Vorausfahrende sein Fahrzeug ohne zwingenden Grund stark abgebremst hat (vgl. OLG Frankfurt/M NJW 2007, 87; Burmann in Burmann ua, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018, StVO § 4 Rn. 24; Helle in: Freymann/Wellner, a.a.O., Rn. 51.1; König in Hentschel ua, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVO Rn. 37; Jaeger NJW 2017, 2628, jew. mwN; offen gelassen in BGH, Urt. v. 24.6.1969 – VI ZR 40/68, VersR 1969, 859), vermag dem die Kammer nicht zu folgen. Ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein nachfolgender Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren, weshalb der Anscheinsbeweis nicht dadurch erschüttert wird, dass das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt (BGH, Urt. v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, DAR 2008, 337). Das Gebot ausreichenden Sicherheitsabstandes dient dazu, dem nachfolgenden Kraftfahrer die Möglichkeit zu eröffnen, nach Ablauf der Reaktionszeit ein Auffahren zu verhindern, wenn das vorausfahrende Kfz aus irgend welchen Gründen – dies kann auch ein willkürliches Herabsetzen der Geschwindigkeit sein – seine Geschwindigkeit plötzlich vermindert (BGH, Urt. v. 30. März 1962 – 4 StR 12/62 –, BGHSt 17, 223). Auf den Grund des Abbremsens kommt es folglich nicht an, insbesondere setzt der Anscheinsbeweis ein verkehrsgerechtes Verhalten des Vorausfahrenden nicht voraus (vgl. BGH, Urt. v. 6.10. 1959 – VI ZR 191/58, NJW 1960, 99; König in Hentschel ua. aaO mwN). Mithin muss sich ein nachfolgender Kraftfahrer auch dann auf ein plötzliches Bremsen einrichten, wenn es ohne – für den Hinterherfahrenden erkennbaren – Anlass erfolgt, selbst wenn das Abbremsen verkehrswidrig ist und gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO verstößt (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2017, 2626;OLG Köln, B. v. 9.2.2017 – 19 U 155/16 –, juris, Wenker, jurisPR-VerkR 12/2013 Anm. 1; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 38 Rn. 87; BeckOK ZPO/Bacher, 29. Ed. 1.7.2018, ZPO § 284 Rn. 95.1, jew. mwN; offengelassen von OLG HammNJW-RR 2019, 283). Fährt folglich ein Kfz auf das vorausfahrende Fahrzeug auf, das durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, kann dies typischerweise nur darauf beruhen, dass der nachfolgende Fahrzeugführer nicht den gebotenen Abstand eingehalten oder unaufmerksam war, sofern nicht aufgrund anderer Umstände (zB vorausgehender Spurwechsel, vgl. BGH, Urt. v. 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16, DAR 2017, 196) der Unfall auch bei sorgfaltsgerechtem Verhalten des Auffahrenden eingetreten sein kann. Weil solche Umstände hier nicht gegeben sind – das Beklagtenfahrzeug hat auf freier Strecke grundlos (fast) bis zum Stillstand abgebremst – greift der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Klägers ein.
4. Im Rahmen der Abwägung beider Verursachungsbeiträge ist die vom Kläger geltend gemachte Haftungsteilung nicht zu beanstanden. Beim starken Bremsen ohne zwingenden Grund ist die Gefahr, die für den nachfolgenden Verkehr entsteht, gewichtig, so dass eine Mithaftung von 50% angemessen erscheint (vgl. die Nachweise bei Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn. 149). Nichts anderes gilt, wenn ein Abbremsen zum Stillstand außerorts auf freier Strecke ohne erkennbaren Grund erfolgt. Ausgehend von einem unstreitigen Gesamtschadensbetrag von 6.210,34 € ergibt sich damit ein Schadensersatzanspruch des Klägers in hälftiger Höhe von 3.105,17 €.
5. Daneben kann der Kläger nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB Ersatz seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten auf der Grundlage eines Gegenstandswerts von 3.105,17 € verlangen (BGH, Urteil vom 20.05.2014 – VI ZR 396/13, VersR 2014, 1100). Gemäß §§ 13, 14 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 VV RVG stehen ihm eine 1,3 Geschäftsgebühr (vgl. BGH, Urteil vom 27.05.2014 – VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 mwN) in Höhe von 327,60 € zzgl. 20 € Kostenpauschale und 66,04 € MwSt. = 413,64 € zu.
6. Die Zinsforderung ergibt sich aus Verzug (§ 284 ff. BGB).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708Nr. 10, 711,713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).