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Arbeitnehmerhaftung – grobe Fahrlässigkeit


Bundesarbeitsgericht

Az: 1 AZR 125/71

Urteil vom 18.01.1972


Anmerkung des Bearbeiters

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Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 25. Februar 1971 – 3 Sa 7/70 – aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!


Tatbestand

Der Beklagte war von Mitte 1967 bis Anfang 1969 als Kraftfahrzeugmechaniker beim Kläger, der eine Tankstelle betreibt, beschäftigt. Am 27. Januar 1969 erteilte der Kläger dem Beklagten morgens den Auftrag, die Ehefrau des Klägers, die ebenfalls in der Tankstelle arbeitet, von ihrer Wohnung abzuholen und sie zur Tankstelle zu bringen. Der Beklagte fuhr mit dem Opel Commodore des Klägers, der mit Gürtelreifen ausgerüstet war. In einer langgezogenen Rechtskurve geriet er bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h mit dem Fahrzeug auf der dort eisglatten Fahrbahn ins Schleudern und stieß mit einem entgegenkommenden Personenkraftwagen zusammen. Durch den Zusammenprall wurden die Insassen beider Fahrzeuge verletzt; an beiden Wagen entstand Totalschaden. – Der Beklagte wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldbuße von 200,00 DM verurteilt.

Mit der Klage macht der Kläger Ersatz des an seinem Fahrzeug entstandenen Schadens geltend. Er vertritt die Auffassung, der Beklagte habe den Unfall grob fahrlässig verursacht. Er sei vor Antritt der Fahrt ausdrücklich auf die glatte Fahrbahn hingewiesen und ermahnt worden, vorsichtig zu sein. Die vom Beklagten trotz dieser Warnung eingehaltene Geschwindigkeit von 80 km/h sei viel zu hoch gewesen. Außerdem habe der Beklagte nicht den Opel Commodore benutzen dürfen, sondern den bei der Tankstelle abgestellten Opel Kadett fahren sollen.

Der Kläger hat beantragt,

1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 7.610,00 DM nebst 7 % Zinsen seit dem 11. März 1969 zu bezahlen,

2. festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen weiteren Schaden zu ersetzen, der aus dem Unfall vom 27. Januar 1969 entstanden ist.

Der Beklagte hat um Klageabweisung gebeten. Er bestreitet, vom Kläger auf die eisglatte Fahrbahn hingewiesen worden zu sein. Er behauptet, er habe der Überzeugung sein dürfen, daß die Straße eisfrei und trocken wie bei seiner Fahrt zur Arbeitsstelle sei; die Unfallstelle habe er vorher nicht befahren. Die Ursache für den Unfall liege nicht in seiner Geschwindigkeit, sondern in der unzureichenden Bereifung des Opel Commodore. Mit Spikes-Reifen, die der Kläger besessen, aber nicht aufmontiert habe, wäre der Unfall vermieden worden. Außerdem habe ihm der Kläger einen Eilauftrag erteilt, indem er ihn aufgefordert habe, „g‘ schwind“ seine Frau abzuholen. Der Opel Commodore sei von ihm benutzt worden, weil sich der Opel Kadett nicht in fahrbereitem Zustand befunden habe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage in Höhe von 7.502,00 DM nebst Verzugszinsen und hinsichtlich des Feststellungsantrags stattgegeben. Die vom Beklagten gegen dieses Urteil eingelegte Berufung ist vom Landesarbeitsgericht zurückgewiesen worden. Hiergegen richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er seinen Klageabweisungsantrag aufrechterhält. – Der Kläger bittet um Zurückweisung der Revision.


Entscheidungsgründe

I. Das Landesarbeitsgericht leitet eine Haftung des Beklagten sowohl aus positiver Vertragsverletzung wie aus unerlaubter Handlung her. Es vertritt die Auffassung, daß der Schaden eingetreten sei, als der Beklagte eine gefahrgeneigte Tätigkeit verrichtet habe. Gleichwohl müsse der Beklagte, so meint das Landesarbeitsgericht, in voller Höhe haften, da ihn eine schwere Schuld (grobe Fahrlässigkeit) treffe. Der Beklagte sei vom Kläger vor Antritt der Fahrt gewarnt und auf die Glätte hingewiesen worden, so daß er damit hatte rechnen müssen. Angesichts dessen sei die vom Beklagten an der Unfallstelle gefahrene Geschwindigkeit viel zu hoch gewesen. So wie der Beklagte würde kein vernünftiger Fahrer gefahren sein. Der Beklagte habe unbeachtet gelassen, was jedem anderen eingeleuchtet hätte. Die Schuld des Beklagten sei nicht deswegen geringer, weil am Wagen keine Spikes-Reifen gewesen seien. Der Beklagte habe das gewußt, und er hätte sich darauf einrichten müssen. Er habe nicht bewiesen, daß ihm ein Eilauftrag erteilt worden sei. Er habe vielmehr die Worte des Klägers nur dahin verstehen können, daß er die Fahrt unverzüglich antreten solle. Ein Verschulden des Klägers an der Entstehung des Unfalls scheide aus. Das Fahrzeug sei ordnungsgemäß ausgestattet gewesen. Es sei nicht vorgeschrieben, Wagen mit Spikes-Reifen auszurüsten. Auch habe der Kläger den Beklagten vor der Glätte gewarnt.

II. Der Revision ist zuzugeben, daß aus den Ausführungen des angefochtenen Urteils nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zu erkennen ist, ob der Vorderrichter den Begriff der groben Fahrlässigkeit (schweren Schuld) zutreffend erkannt hat.

1. Das Landesarbeitsgericht stellt bei der Beurteilung des Verschuldensgrades tragend lediglich auf objektive Umstände ab; es schließt hieraus auf eine grobe Fahrlässigkeit des Beklagten. Diese Betrachtungsweise ist jedoch unzureichend.

a) Soweit es sich um den Begriff der Fahrlässigkeit schlechthin handelt, ist zwar auf objektive Umstände abzustellen, wobei aber auch hier die Frage zu berücksichtigen ist, ob der Schädiger bestimmten Gruppen (z.B. Altersgruppen, Berufsgruppen) angehört (BGHZ 39, 281 [283]; BGH, LM Nr. 2 zu § 276 [Be] BGB; BGH, NJW 70, 1038; Palandt, BGB, 31. Aufl., § 276 Anm. 4 b). Dagegen ist für das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit (schweren Schuld) eine auch subjektiv vorwerfbare Verhaltensweise erforderlich (BAG AP Nr. 42 [unter II 1 der Gründe] und 59 [unter 4 b der Gründe] zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BGHZ 10, 14 [17]; BGH, VersR 70, 620 [622]). Deshalb sind bei der Prüfung der Frage nach dem Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit auch subjektive, in der Individualität des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen. Geschieht das nicht, so zeigt das, daß der Rechtsbegriff der schweren Schuld (groben Fahrlässigkeit) verkannt ist.

Im Streitfall liegt eine Reihe von Umständen vor, die bei der Prüfung der Frage nach dem Grad des Verschuldens des Beklagten von dessen subjektivem Standpunkt aus der Berücksichtigung bedurft hätten. Das folgt zunächst einmal aus dem Alter des Beklagten, der zur Zeit des Unfalls noch nicht volljährig war. Das ergibt sich weiter daraus, daß der Beklagte zur Zeit des Unfalls noch nicht ein Jahr lang im Besitz des Führerscheins für Personenkraftwagen war. Nicht festgestellt ist vom Landesarbeitsgericht ferner, über welche Fahrpraxis der Beklagte zur Zeit des Unfalls verfügte; insbesondere ist nicht aufgeklärt, ob der Beklagte zur Zeit des Unfalls mit der Fahrweise eines so schweren Wagens wie eines Opel Commodore ausreichend vertraut war. All diese Umstände hätten bei der Beurteilung der Frage, welcher Verschuldensgrad dem Beklagten zuzurechnen ist, berücksichtigt werden müssen. Denn sie waren dem Kläger bekannt (vgl. dazu Palandt, aaO) oder hätten ihm doch mindestens bekannt sein müssen. Insoweit trifft den Arbeitgeber, der einen Jugendlichen einstellt und mit Kraftfahrzeugfahrten beauftragt, nämlich eine Erkundigungspflicht; das folgt aus seiner durch das jugendliche Alter des Arbeitnehmers verstärkten Fürsorgepflicht.

b) Das Landesarbeitsgericht hat zu alledem keine Feststellungen getroffen. Es ist auch nicht ersichtlich, daß es die vorerwähnten Umstände, die sich allerdings zum Teil aus den Strafakten ergeben, bei seiner Rechtsfindung berücksichtigt hat. Ausdrücklich hat es zu ihnen jedenfalls keine Stellung genommen. Deshalb ist es möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, daß es sie nicht beachtet hat, als es sich seine Ansicht zu der Frage bildete, ob dem Beklagten grobe Fahrlässigkeit zur Last zu legen sei. Es ist somit nicht ausgeschlossen, daß das Landesarbeitsgericht den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt hat. Das reicht aus, um eine Aufhebung des angefochtenen Urteils zu rechtfertigen. Denn es ist denkbar, daß das Landesarbeitsgericht, hätte es die vorerwähnten Umstände gewertet, zu der Auffassung gekommen wäre, den Beklagten treffe keine schwere Schuld (grobe Fahrlässigkeit).

Aus diesen Gründen kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Da, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, zu der Frage, ob der Beklagte grob fahrlässig gehandelt hat, noch weitere tatsächliche Feststellungen erforderlich sind, die nur in den Tatsacheninstanzen getroffen werden können, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden.

2. Das Landesarbeitsgericht wird sich erneut mit der Frage des Verschuldensgrades auseinandersetzen und dabei die vorerwähnten Umstände berücksichtigen müssen. Darüber hinaus wird es zu beachten haben, daß selbst bei Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit auf seiten des schädigenden Arbeitnehmers nicht in jedem Falle von dessen voller Haftung ausgegangen werden kann. Abgesehen von der Frage des Mitverschuldens des geschädigten Arbeitgebers (§ 254 BGB) kann sich dieser auch sonst nicht in allen Fällen darauf berufen, daß ihm sein Arbeitnehmer, weil er grob fahrlässig (mit schwerer Schuld) gehandelt habe, in vollem Umfang schadenersatzpflichtig sei. Es sind vielmehr Fälle denkbar, in denen sich der Arbeitgeber sein eigenes Verhalten, das dazu geführt hat, das Betriebsrisiko zu erhöhen, entgegenhalten lassen muß. Hat es der Arbeitgeber beispielsweise zugelassen, daß sein angestellter Fahrer die Fahrt trotz Ermüdung fortsetzt, so muß er in der Regel einen Teil des ihm von seinem Arbeitnehmer zugefügten Schadens auch dann selbst tragen, wenn den Arbeitnehmer der Vorwurf der schweren Schuld (groben Fahrlässigkeit) trifft. Der Senat hat schon früher darauf hingewiesen, daß es Fälle gibt, in denen sich ein Arbeitgeber, der einen Kraftfahrer beschäftigt, der erst seit kurzem im Besitz des Führerscheins ist, wie der Arbeitgeber weiß, die mangelnde Fahrpraxis des Arbeitnehmers entgegenhalten lassen muß, soweit ein vom Arbeitnehmer verursachter Schaden auf einen typischen Anfängerfehler zurückzuführen ist (BAG AP Nr. 59 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers [unter 4 b der Gründe]). In solchen Fällen kann sich der Arbeitgeber trotz grober Fahrlässigkeit seines Arbeitnehmers diesem gegenüber ebenfalls nicht mit Erfolg auf dessen alleinige Haftung berufen. Allgemein ist das dann der Fall, wenn der Arbeitgeber Umstände zu vertreten hat, deren Vorliegen den Schluß auf das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit rechtfertigt.

In diesem Zusammenhang könnte es im Streitfall auch von Bedeutung sein, ob der Kläger den Beklagten angewiesen oder es doch wissentlich geduldet hat, daß der Beklagte für die Unfallfahrt den schweren Opel Commodore nahm, etwa weil der Opel Kadett nicht fahrbereit war, oder ob die Benutzung des Opel Commodore durch den Beklagten gegen den erklärten Willen des Klägers geschehen ist. Kann ersteres festgestellt werden, so könnten haftungsbegründende Umstände vorliegen, die zu Lasten des Arbeitgebers gehen und es deshalb bewirken könnten, daß sich dieser insoweit auf ein schweres Verschulden des Arbeitnehmers nicht berufen kann (BAG AP Nr. 55 und 58 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers).

III. Mit Rücksicht darauf, daß schon aus den vorstehenden Gründen das angefochtene Urteil aufgehoben werden mußte, kommt es auf die weiteren Angriffe der Revision gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, insbesondere auf die in ihr erhobenen Verfahrensrügen, nicht mehr an.


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