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Arbeitnehmerstrafanzeige gegenüber Arbeitgeber – Kündigung


LAG Sachsen

Az: 3 Sa 181/10

Urteil vom 21.01.2011


In dem Rechtsstreit hat das Sächsische Landesarbeitsgericht – Kammer 3 – auf die mündliche Verhandlung vom 21. Januar 2011 für R e c h t erkannt:

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 04.02.2010 – 14 Ca 2188/09 – wird auf Kosten des Beklagten z u r ü c k g e w i e s e n .

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer von dem Beklagten erklärten außerordentlichen Kündigung vom 30.04.2009 und eine hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung vom 23.10.2009.

Die am …1977 geborene, ledige, kinderlose und schwerbehinderte (GdB 70 %) Klägerin ist bei dem Beklagten und dort an der … – zunächst befristet – und seit 01.09.2005 unbefristet als Sachbearbeiterin bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von zuletzt 2.126,65 € beschäftigt.

Gemäß Arbeitsvertrag vom 10.04.2006 (Bl. 6/7 d. A.) war die Klägerin als vollbeschäftigte Arbeitnehmerin in die Vergütungsgruppe VI b der Anlage 1 a zum BAT-O eingruppiert.

Am 31.03.2009 wurde mit der Klägerin wegen Beschwerden ihrer unmittelbaren Vorgesetzten, betreffend die Arbeitsleistung und das Verhalten der Klägerin, ein Personalgespräch geführt. An dem Personalgespräch nahmen der Personaldezernent und Stellvertreter des Kanzlers, Herr Dr. …, die Gleichstellungsbeauftragte und unmittelbare Vorgesetzte der Klägerin, Frau Dr. …, der Sachgebietsleiter im Personaldezernat Herr Dr. …, die Schwerbehindertenvertrauensperson Herr Dr. … sowie als Vertrauenspersonen der Klägerin die Personalrätin Frau Dr. … und Frau … von der Gewerkschaft …, teil. In dem Gespräch fielen Äußerungen der Klägerin hinsichtlich des Verhaltens ihrer Vorgesetzten Frau Dr. …. Diese Äußerungen führten dazu, dass der Beklagte von einer nachhaltigen Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen der Klägerin und ihrem Arbeitgeber ausging.

Daraufhin kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 30.04.2009 außerordentlich mit sofortiger Wirkung (Bl. 5 d. A.).

Die Kündigung wurde damit begründet, dass die Klägerin in einem Gespräch am 31. März 2009 im Personaldezernat ihre Vorgesetzte in beleidigender und verleumderischer Weise einer ihr gegenüber begangenen Freiheitsberaubung und Tätlichkeit, also erheblicher Straftaten, bezichtigt habe.

Der außerordentlichen Kündigung waren zwei Abmahnungen des Beklagten vom 13.10.2006, der Klägerin zugegangen am gleichen Tag, bezüglich dessen Inhaltes auf Bl. 32/33 d. A. verwiesen wird, vorausgegangen.

Mit weiterem Schreiben vom 23.10.2009, der Klägerin zugegangen am gleichen Tag, sprach der Beklagte wegen des gleichen Vorfalls vom 31.03.2009 hilfsweise die ordentliche Kündigung der Klägerin zum 31.12.2009 aus (Bl. 36 d. A.).

Zuvor war der Personalrat mit Schreiben vom 08.04.2009 (Bl. 17/18 d. A.) zur außerordentlichen Kündigung und mit Schreiben vom 23.06.2009 (Bl. 65/66 d. A.) zur hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung der Klägerin angehört worden.

Während der Personalrat hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung Bedenken erhob (Bl. 19 d. A.), die seitens des Beklagten jedoch ausgeräumt werden konnten, erhob er bezüglich der hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung keine Bedenken (Bl. 168 d. A.).

Die ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats hinsichtlich der Kündigungen vom 08.04.2009 und vom 23.06.2009 wird seitens der Klägerin bestritten.

Vor Ausspruch beider Kündigungen wurde seitens des Beklagten beim Kommunalen Sozialverband Sachsen mit Schreiben vom 08.04.2009 Antrag auf Zustimmung zur fristlosen Kündigung der Klägerin (Bl. 24/25 d. A.) gemäß § 91 SGB IX und mit Schreiben vom 23.06.2009 Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung der Klägerin gemäß § 85 SGB IX gestellt.

Das Integrationsamt hat mit Schreiben vom 28.04.2009 (Bl. 26 bis 31 d. A.) die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin erteilt.

Das hiergegen von der Klägerin angestrengte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos, ein diesbezügliches Klageverfahren ist anhängig.

Mit Schreiben vom 08.10.2009 (Bl. 54 bis 62 d. A.) hat das Integrationsamt die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung der Klägerin erteilt. Diese wurde auf Widerspruch der Klägerin hin mit Widerspruchsbescheid vom 13.07.2010 aufgehoben (Bl. 236 bis 242 d. A.). Auch insoweit ist ein Klageverfahren seitens des Beklagten anhängig.

Die Klägerin hat gegen die Wirksamkeit beider Kündigungen Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Leipzig erhoben und deren Unwirksamkeit geltend gemacht.

Die Klägerin hat erstinstanzlich im Wesentlichen vorgetragen, die von dem Beklagten behaupteten Äußerungen seien so nicht gefallen. Zudem habe man hinsichtlich ihrer Behauptungen betreffend das Verhalten gegenüber ihrer Vorgesetzten ihre Schwerbebehinderung (eingeschränkte Sehfähigkeit) nicht hinreichend berücksichtigt.

Darüber hinaus hätte der Beklagte vor Ausspruch der Kündigung den Sachverhalt weiter aufklären müssen.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die fristlose Kündigung des Beklagten vom 30.04.2009 noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung des Beklagten vom 23.10.2009 beendet wird.

2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder zu 2. wird der Beklagte verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Sachbearbeiterin weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Kündigungen seien aufgrund des Verhaltens der Klägerin am 31.03.2009 gerechtfertigt. Die von der Klägerin in diesem Gespräch erhobenen Vorwürfe seien so schwerwiegend, dass eine weitere Zusammenarbeit unzumutbar sei. Soweit die Klägerin in dem Personalgespräch am 31.03.2009 behauptet habe, dass ihre Vorgesetzte ihr gegenüber im November 2008 eine Freiheitsberaubung und Tätlichkeit begangen habe, seien diese Behauptungen durch die von der Klägerin benannte Zeugin …/verheiratete …, nicht bestätigt worden. Damit habe die Klägerin ihre Vorgesetzte zu Unrecht einer erheblichen Straftat bezichtigt und tief und spürbar in deren Persönlichkeitsrecht eingegriffen.

Der Arbeitgeber sei verpflichtet, derartige Angriffe auf einen Mitarbeiter abzuwehren.

Im Falle einer bloßen Umsetzung der Klägerin bestünde eine Wiederholungsgefahr.

Aufgrund der Bezichtigungen mit einer Straftat sei das Vertrauensverhältnis zur Klägerin erheblich gestört. Die Klägerin habe auch keine Wege aufgezeigt, wie das Vertrauensverhältnis wieder hergestellt werden könne.

Nach erstinstanzlich durchgeführter Beweisaufnahme durch die uneidliche Vernehmung der Zeugen …, Dr. …, Dr. … sowie … gemäß Beschlüsse vom 04.02.2010, wegen dessen Ergebnisses auf die Sitzungsniederschrift vom 04.02.2010 Bezug genommen wird (Bl. 86 bis 90 d. A.), hat das Arbeitsgericht der Klage in vollem Umfang stattgegeben.

Zur Begründung hat das Arbeitsgericht – zusammengefasst – ausgeführt:

Im Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zwar für die Kammer fest, dass die Klägerin im Personalgespräch vom 31.03.2009 ihre Vorgesetzte bezichtigt habe, ihr gegenüber Handgreiflichkeiten, körperliche Übergriffe und Nötigungen begangen zu haben, die sie zur Anzeige bringen wolle. Welche Worte die Klägerin genau gebraucht habe, könne dahinstehen. Die Klägerin habe sinngemäß geäußert, dass es zu körperlichen Übergriffen gekommen sei und dass sie das als Nötigung empfunden habe und Strafanzeige erstatten wolle. Sie habe dies anlässlich eines Personalgesprächs, das in großer Runde vorbereitet gewesen sei und sich mit den Leistungen der Klägerin befasst habe – getan. Zudem habe sie sich auf Vorfälle bezogen, die ca. fünf Monate zurückgelegen hätten. Ein solches Verhalten sei grundsätzlich geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, da es grundsätzlich geeignet sei, das Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragsparteien irreparabel zu zerstören.

Gleichwohl sei die Kammer unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles (die Klägerin ist schwerbehindert, sie befand sich bei dem „großen Personalgespräch“ in einer immensen Drucksituation, es gab keine Aufklärungsversuche in dem Personalgespräch seitens des Beklagten) der Auffassung, dass vorliegend unter Berücksichtigung des ultima-ratio- Prinzips es zunächst geboten gewesen wäre, mit der Klägerin den Sachverhalt umfassend und tatsächlich aufzuklären und ihr gegebenenfalls eine Vertrauensperson zu benennen, an die sie sich hätte wenden können, wenn nach ihrer Auffassung ein Wiederholungsfall vorliege und ihr eine Abmahnung zu erteilen. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sei die Kammer daher der Auffassung, dass eine außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt sei.

Auch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung vom 23.10.2009 sei sozial nicht gerechtfertigt, da auch für die ordentliche Kündigung das ultima-ratio-Prinzip gelte und die Kammer unter Würdigung der Gesamtsituation der Auffassung sei, dass auch die ordentliche Kündigung unter Abwägung aller Gesamtumstände nicht gerechtfertigt sei, d. h. auch hätte hier zuvor ein klärendes Gespräch und die Erteilung einer Abmahnung erfolgen müssen.

Gegen das am 19.03.2010 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 04.02.2010 hat der Beklagte am 29.03.2010 Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 21.06.2010 verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 18.06.2010 wie folgt begründet:

Zu berücksichtigen sei hier, dass die Klägerin selbst nachdem sie Kenntnis davon erlangt habe, dass die von ihr als Zeugin benannte Frau …/verheiratete … ihre Sachverhaltsdarstellung nicht bestätigt habe, an der Behauptung festhalte, ihre Vorgesetzte habe sie mit beiden Händen in den Armbeugen ergriffen, festgehalten und in den Stuhl zurückgedrückt. Dieses Beharren auf ihrer Version des Sachverhalts belege, dass das Verhalten der Klägerin weder im Zusammenhang mit der im Rahmen des Leistungsgespräches möglicherweise entstandenen Drucksituation noch im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung der Klägerin stehen könne.

Der einzige Vorwurf, der dem Beklagten in Bezug auf die Sachaufklärung gemacht werden könne, wäre, dass er die Klägerin vor Kündigungsausspruch nicht nochmals mit dem Ergebnis des Gespräches mit Frau … konfrontiert habe. Da die Klägerin jedoch ungeachtet der Darstellung durch Frau …/… an der Behauptung der Nötigung auch im Prozess festhalte, sei nicht anzunehmen, dass eine frühere Information ein anderes Ergebnis gezeigt hätte.

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Darüber hinaus sei vorliegend eine vorherige Abmahnung der Klägerin entbehrlich gewesen, da die von der Klägerin begangene Pflichtverletzung sich auch auf den Vertrauensbereich auswirke. Straftatbezichtigungen seien gewichtige Anschuldigungen, die grundsätzlich geeignet seien, das Vertrauen des Bezichtigten in Integrität und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit demjenigen, der die Bezichtigung ausspricht, zu zerstören. Frau Dr. … habe sich (zu Recht) durch den Vorwurf der Nötigung in ihrem Persönlichkeitsrecht tief verletzt gefühlt. Als Dienstvorgesetzte der Klägerin sei sie darauf angewiesen, von den ihr unterstellten Mitarbeitern geachtet zu werden. Eine im Licht strafbarer Handlungen stehender Vorgesetzte könne den nötigen Respekt seiner Mitarbeiter nicht mehr erwarten, seine Führungskraft werde insgesamt in Frage gestellt.

Dem Ausspruch der Kündigung seien mehrere Personalgespräche und eine verhaltensbedingte Umsetzung der Klägerin vorausgegangen. Die Klägerin habe in der Vergangenheit wiederholt und ungeachtet Ermahnungen durch Vorgesetzte und Kollegen erhebliche Defizite im Umgang mit Dritten (Kollegen und Studenten) erkennen lassen. Unüberbrückbare Differenzen zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten Herrn Dr. … hätten bereits die Umsetzung vom zentralen Prüfungsamt zur Gleichstellungsbeauftragten bedingt. Hier sei es erneut zu einer – maßgeblich durch das Verhalten der Klägerin veranlassten – Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zur Dienstvorgesetzten gekommen. Eine nochmalige Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz erscheine daher weder erfolgversprechend, noch dem Beklagten zumutbar.

Überdies habe zum fraglichen Zeitpunkt kein freier Arbeitsplatz zur Verfügung gestanden, auf den die Klägerin hätte umgesetzt werden können.

Auch die ordentliche Kündigung vom 23.10.2009 sei sozial gerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Die Klägerin habe mit ihren Äußerungen in Bezug auf ihre Dienstvorgesetzte schuldhaft irreparable Störungen im Vertrauensbereich verursacht. Aufgrund dieser gravierenden Störungen im Vertrauensbereich und nach den bereits im Rahmen der außerordentlichen Kündigung erörternden Grundsätzen sei der vorherige Ausspruch einer einschlägigen Abmahnung entbehrlich.

Die Kündigung sei auch verhältnismäßig gewesen, d. h. orientiert am Grundsatz der Kündigung als ultima ratio sei dem Beklagten eine Weiterbeschäftigung der Klägerin über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus nicht zumutbar gewesen.

Die Klägerin sei bereits auf verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt gewesen und habe verhaltensbedingt umgesetzt werden müssen. Dass eine erneute Ver- oder Umsetzung langfristig eine reibungslose Zusammenarbeit ermöglicht hätte, könne nicht prognostiziert werden. Defizite im Verhalten der Klägerin gegenüber Kollegen und Studenten seien unabhängig vom konkreten Arbeitsplatz festzustellen gewesen. Diese Tatsache und die gravierenden Verletzungen im Vertrauensbereich würden für die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung der Klägerin sprechen.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 04.02.2010, 14 Ca 2188/09, auf Kosten der Klägerin abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das mit der Berufung angefochtene Urteil und trägt im Wesentlichen vor, der von dem Beklagten erhobene Vorwurf einer „Straftatbezichtigung“ als solche, sei vorliegend kein Kündigungsgrund. Denn die Bezichtigung mit einer Straftat gegenüber Frau Dr. … im Gespräch vom 31.03.2009 sei weder in beleidigender noch in verleumderischer Weise erfolgt, zumal unstreitig seitens der Klägerin eine Strafanzeige auch nicht erstattet worden sei.

Zutreffend habe das Arbeitsgericht bemerkt, dass eine vorherige Aufklärung des Sachverhaltes notwendig gewesen wäre. Dies ergebe sich schon aus dem Kündigungsvorwurf, der nicht einfach eine Tathandlung beschreibe, sondern vielmehr ausdrücklich strafrechtliche Tatbestandsmerkmale nenne. Bei der Klägerin sei auch der Eindruck erweckt worden, der Vorgang werde ohne ihre weitere Mitwirkung nicht abgeschlossen werden. Dass die tatsächliche Handhabung eine andere war, sei als Verstoß gegen die Fürsorgepflicht zu betrachten.

Die „Prognose“ des Beklagten, selbst bei tatsächlich erfolgten Tätlichkeiten würde es bei einer von der Klägerin vorgenommenen Verknüpfung, auf Kritik an ihren Leistungen mit der Androhung einer Strafanzeige zu reagieren, bleiben, erschließe sich der Klägerin nicht ohne weiteres. Es gehöre nicht zu den von der Klägerin verlangten Arbeitsleistungen, Tätlichkeiten zu begehen. Sie wünsche auch nicht, dass solche ihr gegenüber begangen werden. Auch sei nicht ersichtlich, warum der Beklagte bei jeder künftigen Leistungsbeurteilung der Klägerin mit einer „ähnlichen Reaktion“ rechnen wolle, weil der Vorfall erst fünf Monate später zur Sprache gekommen sei. Es gebe in solchen Angelegenheiten keine Ausschlussfristen. Wie der Beklagte dazu komme, „Leistungsbeurteilungen“ und „ähnliche Reaktionen“ zu verknüpfen, erschließe sich nicht. Um eine Leistungsbeurteilung im zeugnisrechtlichen Sinne sei es gar nicht gegangen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vortrages der Klägerin in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht im Übrigen wird auf die Schriftsätze vom 23.08.2010 (Bl. 180 bis 191 d. A. nebst Anlagen) und vom 07.01.2011 (Bl. 232 bis 235 d. A. nebst Anlagen) Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Berufungsverfahren wird auf den Inhalt der von den Parteien zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht waren, sowie auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die statthafte Berufung (§ 64 Abs. 1 und Abs. 2 ArbGG) ist sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1 und 2, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO). Das hiernach insgesamt zulässige Rechtsmittel hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.

II. Die Klage ist begründet.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist weder durch die außerordentliche Kündigung vom 30.04.2009 noch durch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung vom 23.10.2009 aufgelöst worden.

1. Die außerordentliche Kündigung vom 30.09.2009 erweist sich in Ermangelung eines wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB unwirksam.

a) Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB ist nach der gesetzlichen Definition gegeben, wenn Tatsachen vorliegen, die es dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile unzumutbar machen, das Arbeitsverhältnis für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortzusetzen. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt – ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles – (überhaupt) geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden. Sodann ist zu untersuchen, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist, d. h. ob es dem Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis bis zu dem gemäß § 626 Abs. 1 BGB relevanten Zeitpunkt fortsetzen.

Dem Sinn und Zweck des wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses entspricht es, dass auch bei einem abstrakt durchaus erheblichen Verhalten doch noch in jedem konkreten Einzelfalle eine Abwägung aller für und gegen die Lösung des Arbeitsverhältnisses sprechenden Gründe erfolgt (BAG vom 23.01.1963 -2 AZR 278/62 = AP Nr. 8 zu § 124 a Gewerbeordnung). Bei der Prüfung des wichtigen Grundes kommt es nicht darauf an, wie ein bestimmtes Verhalten strafrechtlich zu würdigen ist, sondern darauf, ob der Gesamtsachverhalt die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht (BAG vom 27.01.1977 – 2 ABR 77/96 – AP Nr. 7 zu § 103 BetrVG 1972; BAG AP Nr. 13 zu § 626 BGB).

Zweck einer Kündigung wegen einer Vertragsverletzung darf regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein. Die Kündigung dient der Vermeidung des Risikos weiterer Vertragsverletzungen (BAG vom 23.06.2009 – 2 AZR 103/08 – zitiert nach Juris). Das ist unter dem Gesichtspunkt einer negativen Zukunftsprognose zu betrachten.

Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung und Einzelfallprüfung sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten.

Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital“ ebenso wie ggfs. die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes. Eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertrauensstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens ausreichen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken (BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – zitiert nach juris).

Beruht eine Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (Schlachter, NZA 2005, 433, 436). Die Abmahnung dient der Objektivierung der Prognose.

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen liegt im Streitfall ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB nicht vor.

Die durch die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme bestätigte Äußerung der Klägerin gegenüber ihrer Vorgesetzten Frau Dr. …, diese habe ihr gegenüber Handgreiflichkeiten, körperliche Übergriffe und Nötigungen begangen, die sie zur Anzeige bringen wolle, vermag den Ausspruch der streitbefangenen außerordentlichen Kündigung hier jedoch nicht zu rechtfertigen.

Es ist allgemein anerkannt, dass eine vom Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber erstattete Anzeige einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen kann (vgl. BAG vom 04.07.1991, AZ. 2 AZR 80/91). Im Streitfall ist eine Strafanzeige seitens der Klägerin indessen nicht erfolgt. Allerdings kann auch die bloße Drohung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, eine Strafanzeige zu erstatten, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB bilden (vgl. LAG Köln vom 10.06.1994, AZ: 13 Sa 237/94). In all diesen Fällen muss sich jedoch die erforderliche Zumutbarkeitsprüfung auf alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles erstrecken und diese vollständig und widerspruchsfrei gegeneinander abwägen (BAG vom 04.07.1991, AZ: 2 AZR 80/91 m. w. N.).

Selbst wenn man im Streitfall die Äußerung der Klägerin vom 31.03.2009 an sich für geeignet erachtet, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB zu bilden, so führt jedenfalls die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles und die Abwägung der beiderseitigen Interessen zu dem Ergebnis, dass es dem Beklagten nicht unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fortzusetzen.

aa) Zwar ist zugunsten des Beklagten zu berücksichtigen, dass eine Äußerung, wie von der Klägerin am 31.03.2009 getätigt und von den erstinstanzlich vernommenen Zeugen bestätigt, die da lautet: „Es sei seitens der Vorgesetzten Frau Dr. … zu Handgreiflichkeiten, körperlichen Übergriffen und Nötigungen gekommen und sie wolle deswegen Anzeige erstatten“, das Vertrauensverhältnis zwischen den Arbeitsvertragsparteien tangiert und wohl auch beeinträchtigt hat.

bb) Zugunsten der Klägerin spricht jedoch der Umstand, dass für die Klägerin bei diesem „großen Personalgespräch“ eine immense Drucksituation herrschte und es keine Versuche in dem Personalgespräch vom 31.03.2009 seitens des Beklagten gab, den vorgeworfenen Lebensverhalt tatsächlich aufzuklären, obwohl dies der Zeuge … angeregt hatte.

Hieraus und nicht zuletzt aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21.01.2011 und den dortigen Einlassungen der Klägerin wird deutlich, dass es der Klägerin in erster Linie nicht darum ging, gegenüber ihrer Vorgesetzten Strafanzeige zu erstatten, sondern sie sich gegen die Kritik des Beklagten bezüglich ihres Verhaltens und ihrer Arbeitsleistungen zur Wehr setzen wollte, mag auch die von der Klägerin getroffene Wahl der Mittel „Drohen mit einer Strafanzeige“ hier „unglücklich“ bzw. unverhältnismäßig gewesen seien; sie ist jedoch aufgrund der besonderen Verfassung der Klägerin – sie ist zu 70 % schwerbehindert und nicht zuletzt deswegen empfindlicher bzw. sensibler als ein sog. gesunder, „normaler“ bzw. nicht gehandicapter Arbeitnehmer – durchaus nachvollziehbar.

Die Ankündigung einer Strafanzeige erscheint daher in diesem Zusammenhang wohl eher als untauglicher Versuch der Klägerin, von dem Vorwurf der Schlechtleistung abzulenken.

cc) Auch der Umstand, dass die Klägerin im November 2008 laut Aussage der Zeugin … lediglich seitens der Vorgesetzten Frau Dr. … an der Schulter berührt worden sei und ihr gesagt worden sei, „bitte bleiben Sie sitzen“, die Klägerin dies jedoch unstreitig aufgrund ihrer Sehbehinderung als Handgreiflichkeit bzw. Nötigung aufgefasst hat, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn eine Drohung mit einer Anzeige in beleidigender oder verleumderischer Weise seitens der Klägerin erfolgte vorliegend gerade nicht.

dd) Hinzukommt, dass der Beklagte die Klägerin vor Kündigungsausspruch nicht nochmals mit dem Ergebnis des Gespräches mit Frau …/verheiratete … konfrontiert hat.

Der verbleibende Vorwurf des Beklagten, die Klägerin beharre trotz der Aussage der Zeugin … auf ihrer Version des Sachverhalts „im November 2008 habe ihre Dienstvorgesetzte sie mit beiden Händen in den Armbeugen ergriffen, festgehalten und sie in den Stuhl zurückgedrückt“ bis zuletzt auf ihrer Version, rechtfertigt die außerordentliche Kündigung vom 30.04.2009 ebenfalls nicht, da es – wie das Arbeitsgericht richtig ausführt – unter Berücksichtigung des ultima-ratio-Prinzips es zunächst geboten gewesen wäre, mit der Klägerin den Sachverhalt umfassend und tatsächlich aufzuklären und ihr gegebenenfalls eine Vertrauensperson zu benennen, an die sie sich wenden kann.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das in Aussichtstellen einer Anzeigeerstattung hier seitens der Klägerin wegen eines fünf Monate zurückliegenden Sachverhaltes erfolgte.

c) Die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses stellt hier keine angemessene Reaktion auf die von dem Beklagten behauptete Pflichtverletzung der Klägerin und eine dadurch eingetretene Vertragsstörung dar. Eine Abmahnung wäre vorliegend als milderes Mittel gegenüber der Kündigung angemessen und ausreichend gewesen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.

Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine fristlose Kündigung nicht gerechtfertigt, wenn es mildere Mittel gibt, eine Vertragsstörung zu ahnden. Dieser Aspekt hat grundsätzlich durch die Regelung des § 314 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 323 Abs. 2 BGB eine gesetzgeberische Bestätigung erfahren (vgl. BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09). Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes deshalb nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG, Urteil vom 23. Juni 2009 – 2 AZR 103/08).

Obwohl die Klägerin hier tatsächlich nachweisbar gegenüber ihrer Vorgesetzten Frau Dr. … mit einer Strafanzeige gedroht hat, wäre vorliegend angesichts der obigen Ausführungen allenfalls eine Abmahnung der Klägerin notwendig, aber auch ausreichend gewesen.

Eine vorherige Abmahnung ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder wenn es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne Weiteres erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. Selbst bei Störungen des Vertrauensbereiches durch Eigentums- und Vermögensdelikte kann es danach Fälle geben, in denen eine Abmahnung nicht ohne Weiteres entbehrlich erscheint (BAG vom 23.06.2009 – 2 AZR 103/08 – zitiert nach Juris, Rz. 33). Mangels Drohung mit einer Strafanzeige in beleidigender und verleumderischer Art und Weise ist aber eine schwere Pflichtverletzung der Klägerin vorliegend schon nicht feststellbar. Bei dem vorgeworfenen Verhalten handelt es sich zudem gerade um ein steuerbares Verhalten. Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin ihr künftiges Verhalten nicht geändert hätte. Das gilt nach der Überzeugung der Kammer trotz der Existenz der nicht einschlägigen abmahnenden Schreiben des Beklagten vom 13.10.2006. An die Pflichten aus §§ 37 a Abs. 1 BAT-O und 8 Abs. 1 BAT-O hat die Klägerin sich nach diesen Schreiben auch gehalten.

aa) Der Beklagte kann das Erfordernis einer Abmahnung hin auch nicht damit verneinen, dass die Klägerin bereits im Jahre 2006 mehrmals negativ aufgefallen sei („rüder Umgangston der Klägerin im Personalgespräch vom 16.08.2006; Auseinandersetzung der Klägerin mit Studenten am 07.09.2006 und am 12.09.2006).

Auch diese behaupteten Pflichtverletzungen sind streitig. Abgesehen davon, hätten sie auch zunächst abgemahnt werden müssen, um überhaupt im Wiederholungsfall einen Kündigungsgrund ergeben zu können. Zudem sind diese behaupteten Pflichtverletzungen im Verhältnis zu der hier vorgeworfenen Bezichtigung einer erheblichen Straftat der Vorgesetzten, die sich auf den Vertrauensbereich auswirkt, nicht einschlägig. Sie sind nach Überzeugung der Kammer ungeeignet, das Fehlen einer Abmahnung aus Anlass der behaupteten Pflichtverletzungen aus dem Jahre 2006, die auch den Vertrauensbereich tangieren, aufzuwiegen.

bb) Der Beklagte kann auch nicht damit gehört werden, dass, nachdem die Bezichtigung im Rahmen eines Gesprächs über Leistungsmängel der Klägerin als Abwehrmittel eingesetzt wurde, die Vorgesetzte künftig bei der Ausübung jeglicher Kritik gegenüber der Klägerin mit ähnlichem Verhalten rechnen müsse. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin gegebenenfalls nach einer Abmahnung oder einem klarstellenden Gespräch künftig ihre Vorgesetzte weiterhin einer Straftat bezichtigen werde bzw. bei Ausübung jeglicher Kritik seitens ihrer Vorgesetzten mit ähnlichem Verhalten reagieren werde.

Im Gegenteil, nicht zuletzt auch wegen der Vorkommnisse aus dem Jahre 2006, die seitens des Beklagten lediglich in einem Fall abgemahnt wurden, wäre unter Berücksichtigung der Gesamtumstände (vgl. oben unter II. 1.. b)), der gesundheitlichen Position der Klägerin und angesichts der Drucksituation der Klägerin in dem Personalgespräch vom 31.03.2009 lediglich eine Abmahnung als angemessene Reaktion gerechtfertigt gewesen. Sie hätte ausgereicht, um durch Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses das künftige Verhalten der Klägerin positiv zu beeinflussen.

cc) Soweit der Beklagte das Erfordernis einer Abmahnung damit verneint, dass die Klägerin wegen eines fünf Monate zurückliegenden Sachverhaltes die Anzeigenerstattung gegenüber ihrer Vorgesetzten in Aussicht gestellt hatte und der Beklagte bei jeder künftigen Leistungsbeurteilung der Klägerin mit einer ähnlichen Reaktion rechnen müsse, kann er auch damit nicht gehört werden.

Gerade wegen des lange zurückliegenden Vorfalls wäre es zunächst geboten gewesen, mit der Klägerin den Sachverhalt umfassend und tatsächlich aufzuklären und die Klägerin nicht nur darauf zu verweisen, selbst den behaupteten Vorwurf schriftlich niederzulegen. Der Beklagte kann sich aufgrund seiner Fürsorgepflicht in einer solchen Situation seiner ebenfalls bestehenden Aufklärungspflicht nicht so ohne weiteres entziehen.

dd) Schließlich spricht gegen das Erfordernis eine Abmahnung auch nicht der Umstand, dass die Äußerung der Klägerin im Rahmen eines größeren Gesprächskreises erfolgte. Zwar waren bei diesem Gespräch verschiedene Mitarbeiter der Beklagten in leitender Position anwesend, nicht jedoch „normale“ Mitarbeiter des Beklagten, so dass das Gespräch nicht an die Mitarbeiteröffentlichkeit gelangen konnte.

Von einer Bloßstellung der Vorgesetzten in aller Öffentlichkeit und das Entstehen irreparabler Schäden, wie des Verlustes ihrer Stellung als Respektperson, wie der Beklagte meint, kann daher keine Rede sein.

Nicht zuletzt wegen der Äußerung der Klägerin in eingeschränkter öffentlicher Gesprächsrunde wäre hier zunächst eine einschlägige Abmahnung der Klägerin notwendig, aber auch ausreichend gewesen.

Die Kammer verkennt nicht, dass sich der Umgang mit der Klägerin für den Beklagten als besonders schwierig darstellt und auch die seitens des Beklagten vor der fristlosen Kündigung erfolgten Um- bzw. Versetzungen der Klägerin hier nicht erfolgversprechend waren. Will jedoch der Beklagte eine Handlung der hier vorgeworfenen Art für eine fristlose Kündigung ausreichen lassen, hätte er, da es sich um ein steuerbares Verhalten der Klägerin handelt, dies vorher jedenfalls im Wege einer Abmahnung verdeutlichen müssen, zumal die Klägerin zuvor seitens des Beklagten nicht einschlägig abgemahnt wurde. Der in der Abmahnung vom 13.10.2006 vorgeworfene Vorfall mit einer Studentin mag zwar die schwierigen Umfangsformen der Klägerin belegen, der Ablauf dieses Vorfalles im Einzelnen ist jedoch seitens der Klägerin bestritten, so dass die Abmahnung hier nicht einschlägig ist. Trotz der Existenz dieses Abmahnungsschreibens war daher eine erneute Abmahnung unerlässlich.

Der Beklagte verkennt, dass Zweck einer Abmahnung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragspflichtverletzung sein darf.

ee) Die Kammer kann auch unter Berücksichtigung des Tatsachenvortrags des Beklagten nicht zuletzt auch aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21.01.2011 keine mangelnde Einsichtsfähigkeit der Klägerin in Bezug auf den hier erhobenen Kündigungsvorwurf feststellen.

Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses keine angemessene Reaktion auf die von dem Beklagten behauptete Pflichtverletzung und dadurch eingetretene Vertragsstörung darstellt. Eine Abmahnung wäre als milderes Mittel gegenüber der Kündigung angemessen und ausreichend gewesen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.

Selbst unterstellt bei der Klägerin sein erhebliches Defizit im Umgang mit Dritten (Kollegen und Studenten) zu erkennen, spricht nichts dagegen, dass ihr künftiges Verhalten durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann.

Die Kammer gewichtet im Rahmen der Interessenabwägung letztendlich auch, dass die Klägerin zu 70 Prozent schwerbehindert ist und zumindest ein möglicher Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigungsgrund nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. oben unter II. 1 b, bb).

Aus den genannten Gründen liegt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sowie unter Abwägung der Interessen beider Parteien keine Handlung der Klägerin vor, die es dem Beklagten als Arbeitgeber unzumutbar macht, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fortzusetzen. Vorliegend konnte nicht auf eine Abmahnung verzichtet werden.

Nach alledem ist daher die streitbefangene außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 30.04.2009 unwirksam und stellt keine angemessene Reaktion des Beklagten dar.

2. Auch die vorsorglich ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 23.10.2009 ist aus den oben genannten Gründen unwirksam. Auch insoweit hätte, selbst unterstellt, es sei ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG feststellbar, zuvor ein klärendes Gespräch und die Erteilung einer Abmahnung erfolgen müssen.

3. Es kann daher auch dahingestellt bleiben, ob die Personalratsanhörung vorliegend ordnungsgemäß war.

4. Nach alledem war der Kündigungsschutzantrag der Klägerin begründet. Die Kündigungen des Beklagten vom 30.04.2009 und vom 23.10.2009 haben das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht wirksam beendet. Sie waren rechtswidrig. Der Klage ist daher zu Recht stattgegeben worden. Die Berufung des Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Der Beklagte hat die Kosten der von ihm ohne Erfolg eingelegten Berufung zu tragen.

Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor, so dass die Revision nicht zuzulassen war. Vorliegend handelt es sich ausschließlich um eine Einzelfallentscheidung.

Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG wird hingewiesen.

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