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Arbeitsagentur darf Kontodaten von ALG II-Empfängern einsehen

Bundessozialgericht

Az.: B 14 AS 45/07 R

Vorinstanz:

Sozialgericht München, Az.: S 48 AS 972/06, Entscheidung vom 30.05.2007

Bayerisches Landessozialgericht, Az.: L 7 AS 190/07, Entscheidung vom 10.08.2007


Entscheidung:

I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 30. Mai 2007 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht den Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab dem 01.02.2006 versagt hat.

Der 1965 geborene Kläger stellte am 10.01.2006 den Antrag auf Fortzahlung des ihm von der Beklagten bis zum 31.01.2006 bewilligten Alg II. Mit Schreiben vom 11.01.2006 bat die Beklagte den Kläger unter Hinweis auf § 60 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I), bis spätestens 28.01.2006 eine Kontenübersicht, die Kontoauszüge der letzten drei Monate und die Steuerkarte für das Jahr 2006 vorzulegen. Sollte er bis zum genannten Termin diese Unterlagen nicht einreichen, werde die Geldleistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz versagt. Nachdem der Kläger die Unterlagen nicht vorgelegt hatte, versagte die Beklagte mit Bescheid vom 24.02.2006 die Leistungen ab dem 01.02.2006 vollständig. Zur Begründung führte sie u.a. aus: „Nachdem Sie bis heute die Unterlagen nicht vollständig vorgelegt und auch keine weitere Fristverlängerung beantragt haben, wird der Antrag wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt (§ 66 SGB I). In Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung der Haushaltsmittel sowie des Gleichheitsgrundsatzes war der Antrag – da keine ausreichenden Unterlagen von Ihnen bis zum genannten Termin vorgelegt wurden und die Bedürftigkeit daher nicht glaubhaft gemacht wurde – abzulehnen, da Ihr Inter- esse an einer ungeprüften Gewährung von Leistungen nach dem SGB II geringer zu bewerten ist als das Interesse der Allgemeinheit an der Rechtmäßigkeit der Hilfegewährung.“ Der vom Kläger nicht begründete Widerspruch vom 02.04.2006 – der Bescheid vom 24.02. 2006 war ihm am 04.03.2006 zugestellt worden – blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29.05.2006).

Zur Begründung der am 28.06.2006 zum Sozialgericht München (SG) erhobenen Klage berief sich der Kläger auf einen Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 22.08.2005 (L 7 AS 32/05 ER). Die Vorlage der Kontoauszüge sei nicht leistungserheblich und im Sinne des § 60 SGB I nicht erforderlich. Auch aus datenschutzrechtlichen Gründen liege keine Verletzung der Mitwirkungspflicht vor. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30.05.2007 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe die Vorlagepflicht aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB I i.V.m. § 67 a Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) verletzt. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB I habe derjenige, der Sozialleistungen beantrage, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen. Beweisurkunden in diesem Sinne seien auch Kontoauszüge. Die in den Kontoauszügen enthaltenen Daten würden über die Höhe der Ein- und Ausgänge, das Buchungsdatum, den Empfänger bzw. Absender der Buchung und im Regelfall auch über den Grund des Ein- bzw. Ausgangs der Zahlung Aufschluss geben. Nach § 67 a Abs. 1 Satz 1 SGB X sei das Erheben von Sozialdaten durch die in § 35 SGB I genannten Stellen zulässig, wenn ihre Kenntnisse zur Erfüllung einer Aufgabe der erhebenden Stelle nach dem SGB erforderlich sei. Die Vorlage dieser Beweisurkunden sei erforderlich und geeignet, um die Hilfebedürftigkeit des Klägers festzustellen zu können. Die Pflicht zur Vorlage von Kontoauszügen sei dabei nicht davon abhängig, dass ein konkreter Verdacht bestehe, dass der Betroffene falsche Angaben gemacht habe. § 65 SGB I, der Grenzen der Mitwirkungspflicht normiere, stehe der Vorlagepflicht nicht entgegen, weil dessen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Ein wichtiger Grund für die Weigerung sei weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Pflicht zur Vorlage von Kontoauszügen stehe auch nicht der Schutz der Sozialdaten entgegen. Der Kläger sei auf die Folgen seiner Weigerung schriftlich hingewiesen worden, Ermessensfehler seien nicht ersichtlich.

Der Kläger hat gegen den am 05.06.2007 zugestellten Gerichtsbescheid am 21.06.2007 Berufung eingelegt. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, das SG sei nicht darauf eingegangen, inwieweit die Vorlage der Kontoauszüge erforderlich sei.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 30.05. 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 24.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides Vom 29.05.2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ausführungen des SG im angefochtenen Urteil.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; denn streitig sind Geldleistungen von mehr als 500 EUR (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Zwar war die vom Kläger erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage unzulässig, weil gegen die Versagung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung grundsätzlich nur die reine Anfechtungsklage gegeben ist (BSG; Urteil vom 17.02.2004 – B 1 KR 4/02 R = SozR 4-1200 § 66 Nr. 1). Da das Gericht aber gemäß § 123 SGG nicht an die Fassung der Anträge gebunden ist, war der Klageantrag dahingehend auszulegen, dass nur eine reine Anfechtungsklage erhoben werden sollte.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet; denn das SG hat zutreffend entschieden, dass die Beklagte berechtigt war, das Alg II zu versagen. Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen für die Leistung nicht nachgewiesen sind, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert wird.

Um die Versagung der Leistungen zu vermeiden, war der Kläger gehalten, der Beklagten die Kontoauszüge der letzten drei Monate vorzulegen; denn gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen. Bei den Kontoauszügen handelt es sich um derartige Beweisurkunden (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.07.2006 – L 9 B 48/06 AS ER). Da der Kläger Alg II beantragt hat und diese Leistung gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II nur derjenige erhält, der hilfebedürftig ist, war die Beklagte berechtigt, die Kontoauszüge anzufordern, um die Hilfebedürftigkeit überprüfen zu können. Zutreffend hat bereits das SG ausgeführt, dass die Vorlage der Kontoauszüge geeignet ist, die Hilfebedürftigkeit festzustellen, weil aus den Kontoauszügen neben dem jeweiligen Kontostand auch die zurückliegenden Kontobewegungen ersichtlich sind. Nur so kann die Beklagte überprüfen, ob der Kläger Zuwendungen Dritter erhalten oder größere Beträge transferiert hat und welche sonstigen leistungserheblichen Transaktionen vorgenommen wurden. Die Vorlage der Kontoauszüge ist auch erforderlich, weil die Beklagte auf andere Weise die Einkommensverhältnisse in der Zeit vor der Antragstellung nicht überprüfen kann. Nur wenn die Kontoauszüge für die Zeit vor dem Beginn des Leistungsbezugs vorliegen, hat der Leistungsträger die Möglichkeit überprüfen zu können, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 4 Nr. 1 SGB II vorliegen, d.h. ob der Hilfebedürftige sein Einkommen oder Vermögen in der Absicht gemindert hat, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Alg II herbeizuführen. Wollte man den Leistungsträger darauf verweisen, den Angaben der Arbeitsuchenden ohne Nachweise zu vertrauen, wäre ein Leistungsmissbrauch nicht auszuschließen. Um feststellen zu können, ob der Arbeitsuchende Zuwendungen Dritter erhalten oder größere Beträge transferiert hat und welche sonstigen leistungserheblichen Transaktionen bisher vorgenommen wurden, sind Nachweise über die finanziellen Verhältnisse in den letzten Monaten notwendig. Die Verpflichtung zur Vorlage ist auch nicht durch § 65 SGB I ausgeschlossen; denn das Verlangen der Beklagten steht nicht in einem unangemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Vorlage der Kontoauszüge dem Kläger aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann; denn er hat keine Gründe für seine Weigerung geltend gemacht, die einen wichtigen Grund darstellen könnten. Die Beklagte konnte sich auch nicht durch einen geringeren Aufwand die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen.

Weder das Sozialgeheimnis noch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sprechen gegen die Pflicht zur Vorlage der Kontoauszüge. Da es sich bei den angeforderten Kontoauszügen um leistungserhebliche Tatsachen und Beweismittel im Sinne des § 60 Abs. 1 SGB I handelt, die zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufgaben der Sozialverwaltung erforderlich sind (§ 67 a SGB X), steht der Schutz der Sozialdaten aus §§ 35 SGB I, 67ff. SGB X dem Verlangen nicht entgegen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht verletzt; denn dieses Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird durch § 60 SGB I eingeschränkt. Grundrechte gelten nicht schrankenlos. Sie sind entweder durch die Grundrechte selbst oder durch einfach gesetzliche Regelungen beschränkt. Garantiert wird nur der Wesensgehalt. Dieser ist hier aber nicht verletzt, da die Daten nur im Rahmen der Bearbeitung des Leistungsantrags erhoben werden, für den sie erheblich sind. Einen Verdacht auf beabsichtigten Leistungsmissbrauch im Einzelfall, wie ihn das Hessische LSG im vom Kläger angeführten Beschluss vom 22.08.2005 (L 7 AS 32/05 ER) als Voraussetzung für das Verlangen der Vorlage für notwendig erachtet, hält der Senat nicht für erforderlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wurde zugelassen, weil nach Ansicht des Senats der Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung zukommt, ob und unter welchen Voraussetzungen die Leistungsträger die Vorlage der Kontoauszüge für vergangene Zeiträume verlangen können.

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