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Arbeitslosengeld und notwendige Heilbehandlungskosten

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen

Az.: L 4 KR 42/05 ER

Urteil vom 19.04.2005


Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Das Verfahren betrifft die Kompetenz der Bundesagentur für Arbeit zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit nach § 44a Zweites Sozialgesetzbuch (SGB II) iVm § 5 Abs. 1 Nr. 2a Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V).

Der Antragsteller erlitt am 27. Dezember 2004 einen embolischen Medialteilinfarkt links mit globaler Aphasie und Hemiparese rechts bei Verschluss der Aorta carotis interna links. Der Antragsteller wurde stationär in der Neurologischen Klinik des Klinikums Hannover, Nordstadt, behandelt. Seit dem 16. Februar 2005 befindet er sich in dem Reha-Zentrum Hagenhof, Langenhagen (vgl. Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen, Dr. C., vom 18. Februar 2005).

Der Antragsteller bezieht seit dem 13. Januar 2005 Arbeitslosengeld II (Bescheide der ARGE „JobCenter in der Region Hannover“ vom 18. und 20. Januar 2005). Mit Schreiben vom 2. Februar 2005 übersandte ihm die Antragsgegnerin die Krankenversichertenkarte. Mit Fax vom 4. Februar 2005 verweigerte die Antragsgegnerin gegenüber dem Klinikum Hannover, Nordstadt, die Kostenübernahme. Auch den Kostenübernahmeantrag vom 7. Januar 2005 für die Anschlussheilbehandlung lehnte die Antragsgegnerin ab.

Im Februar 2005 hat die Betreuerin des Antragstellers beim Sozialgericht (SG) Hannover beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Krankenhauskosten zu übernehmen und eine sofortige Kostenzusage für eine Anschlussheilbehandlung zu erteilen. Das SG hat dem Antrag mit Beschluss vom 14. Februar 2005 stattgegeben. Es hat die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für den derzeitigen Aufenthalt des Antragstellers im Krankenhaus zu übernehmen sowie eine sofortige Kostenzusage für eine Anschlussheilbehandlung in Langenhagen oder in Coppenbrügge zu geben. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, der Anordnungsgrund liege in der Eilbedürftigkeit der Krankenhausbehandlung und der Durchführung der Anschlussheilbehandlung. Ein Anordnungsanspruch sei ebenfalls gegeben. Der Antragsteller sei als Bezieher von Arbeitslosengeld II nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V kraft Gesetz versicherungspflichtiges Mitglied der Antragsgegnerin. Diese habe keine Befugnis, diesen Versicherungsstatus zu „stornieren“. Sofern sie meine, der Antragsteller beziehe wegen seines Gesundheitszustandes zu Unrecht Arbeitslosengeld II, so ändere das nichts an ihrer Leistungsverpflichtung, wie § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V belege.

Gegen den Beschluss des SG hat die Antragsgegnerin am 22. Februar 2005 Beschwerde eingelegt. Sie meint, es fehle bereits an einem Anordnungsanspruch. Denn bei dem Antragsteller habe im Zeitpunkt der Bewilligung von Arbeitslosengeld II eindeutig keine (Rest)Erwerbsfähigkeit mehr vorgelegen. Trotzdem habe die ARGE „JobCenter in der Region Hannover“ dem Antragsteller Leistungen bewilligt und damit seine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung begründet. Es könne jedoch nicht angehen, dass sich die ARGE „JobCenter in der Region Hannover“ keinerlei Kenntnisse über das Fehlen der Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers verschaffe und grob fahrlässig eine Leistungsbewilligung vornehme, an die sie – die Antragsgegnerin – gebunden sei. In Fällen, in denen sich sogar einem medizinischen Laien aufdränge, dass keine Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers mehr vorliege, sei der ARGE „JobCenter in der Region Hannover“ rechtswidriges Handeln vorzuwerfen. Dann aber müsse trotz der Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V eine Leistungspflicht der Krankenkassen entfallen. Im Übrigen fehle es auch an einem Anordnungsgrund. Irreparable Rechtsnachteile habe der Antragsteller nicht zu befürchten, weil für ihn jedenfalls der bisher zuständige Leistungsträger, das Sozialamt der Stadt Hannover, als Kostenträger einzutreten habe.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen vorgelegt.

II.

Die gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rdnr. 27 und 29). Der materielle Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Prüfung zu unterziehen (vgl. Meyer-Ladewig, aaO, Rdnr. 36).

Der Senat lässt offen, ob ein Anordnungsanspruch besteht und trifft insoweit eine Folgenabwägungsentscheidung

Kann über das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nur nach zeitaufwändiger Prüfung der Sach- und Rechtslage entschieden werden, so ist nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats in Ansehung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von einer Prüfung der Erfolgsaussicht eines Hauptsacheverfahrens abzusehen und die Entscheidung auf eine Folgenabwägung zu stützen. Voraussetzung ist, dass andernfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. u.a. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – L 4 KR 253/03 ER – unter Bezug auf Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – in NZS 2003, 253 f.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. März 2004 – 1 BvR 131/04 – in GesR 2004, 246 f.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Der Senat stimmt der Antragsgegnerin zwar in ihrer Kritik an der Bewilligung von Arbeitslosengeld II durch die ARGE „JobCenter in der Region Hannover“ zu. Zu Recht weist die Antragsgegnerin ferner darauf hin, dass das Gesetz keine Möglichkeit einer Korrektur von Fehlentscheidungen bei der Bewilligung von Arbeitslosengeld II und damit bei der Begründung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V vorsieht. Insbesondere bietet die Regelung in § 44a Satz 2 SGB II hier keine Hilfe. Ob und in welcher Weise bestehende Lücken durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen sind, bedarf einer intensiven Prüfung der Sach- und Rechtslage und kann aufgrund der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht entschieden werden.

Andererseits jedoch ist der Antragsteller dringend auf stationäre Behandlung angewiesen. Seine Behandlung kann ohne erhebliche Nachteile für seine Gesundheit nicht aufgeschoben oder abgebrochen werden. Gegenüber der Gefahr für Gesundheit und Leben des Antragstellers bei Abbruch der Behandlung müssen die finanziellen Belastungen der Antragsgegnerin zurücktreten.

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Die Behandlung des Antragstellers erlaubt weder Aufschub noch Unterbrechung. Soweit die Antragsgegnerin den Antragsteller auf die Sozialhilfe verweist, kann ihr nicht gefolgt werden. Es ist dem Antragsteller angesichts der Eilbedürftigkeit seiner Behandlung nicht zuzumuten, mit dem Sozialhilfeträger zu klären, ob dieser trotz der Versicherungspflicht des Antragstellers nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V für die Kosten der Krankenbehandlung zuständig ist. Der Streit zwischen den verschiedenen Leistungsträgern über ihre Zuständigkeiten darf in Ansehung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu Lasten eines dringend behandlungsbedürftigen Patienten gehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

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