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Arbeitslosengeldbescheid: Arbeitsloser muss diesen auf Richtigkeit prüfen

Hessisches Landessozialgericht

Az.: L 9 AL 163/05

Urteil vom 10.04.2006

Vorinstanz: Sozialgericht Marburg, Az.: S 8 AL 64/04


Leitsätze:

1. Die Obliegenheit eines Bescheidempfängers zur Kenntnisnahme eines ihm bekannt gegebenen begünstigenden Verwaltungsakts umfasst regelmäßig die Leistungshöhe als Kern des Verfügungssatzes des Verwaltungsakts, welcher nicht lediglich gedankenlos gelesen werden darf (Anschluss an BSG vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R).

2. Die augenfällig fehlerhafte Höhe des Leistungsbetrags bei rechtswidrigem Leistungssatz kann als Tatsache auf Laienebene Anknüpfungspunkt für sich aufdrängende vertrauensschädliche Richtigkeitsüberlegungen sein, welche nicht bei der unbestimmten Vorstellung enden dürfen, es werde schon stimmen (Anschluss an BSG vom 21. Mai 1974 – 7 RKg 8/73).

3. Im Einzelfall ist einem 34 Jahre alten Handwerksmeister eine besonders schwere Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen, wenn er eine Leistungserhöhung um mehr als 60 % gegenüber dem vorherigen Leistungsbezug bei im Übrigen wesentlich unverändert gebliebenen Verhältnissen nicht bemerkt hat.


Tatbestand:

Streitgegenstand ist die teilweise Aufhebung der Arbeitslosengeldbewilligungen für die Leistungszeiträume 21. Mai 2002 – 31. August 2002 wegen Leistungsgruppenzuordnung sowie die darauf bezogene Erstattungsforderung in Höhe von 1.180,38 €.

Der 1970 geborene Kläger erlernte den Beruf des Malers und Lackierers, übte den erlernten Beruf aus, qualifizierte sich als Meister im Maler- und Lackiererhandwerk und war zuletzt als Mobilitätsassistent beschäftigt. Er bezog in der Zeit 7. März 2001 – 28. Oktober 2001 wöchentliches Arbeitslosengeld in Höhe von 251,86 DM nach Leistungsgruppe D und in der Zeit 29. Oktober 2001 – 16. April 2002 wöchentliches Unterhaltsgeld in Höhe von 130,20 Euro gleichfalls nach Leistungsgruppe D.

Er beantragte am 23. Mai 2002 bei der Beklagten die Gewährung von Arbeitslosengeld und informierte dabei die Beklagte über die Eintragung der Lohnsteuerklasse V auf seiner Lohnsteuerkarte 2002. Die Beklagte gewährte dem Kläger durch Bescheid vom 19. Juni 2002 ab 21. Mai 2002 in Höhe von 210,42 € wöchentlichem Leistungssatz nach Leistungsgruppe C. Die Beklagte überprüfte im April 2003 die Richtigkeit ihrer Entscheidung und hörte den Kläger dazu an, dass ihm Leistung ab 21. Mai 2002 lediglich nach der Leistungsgruppe D, nicht nach der Leistungsgruppe C zugestanden habe; der Kläger nahm dazu keine Stellung.

Die Beklagte hob durch Bescheid vom 16. Juni 2003 die Arbeitslosengeldbewilligung für die Zeiträume: 21. Mai 2002 – 31. August 2002, 19. Dezember 2002 – 31. Dezember 2002, 1. Januar 2003 – 8. Januar 2003 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) teilweise insoweit auf, als die Leistung nach der Leistungsgruppe C anstatt nach der Leistungsgruppe D im ersten Leistungszeitraum und im Übrigen nach der Leistungsgruppe C anstatt nach der Leistungsgruppe A bewilligt wurde. Den Steuerklassenwechsel habe der Leistungsempfänger nicht rechtzeitig mitgeteilt. Die zu Unrecht bezogenen Leistungen seien nach § 50 SGB X in Höhe von 1.284,33 € zu erstatten. – Der Kläger erhob dagegen Widerspruch mit der Begründung, er habe seinerzeit seine Lohnsteuerkarte vorgelegt.

Die Beklagte hörte den Widerspruchsführer nunmehr dazu an, warum er nicht erkannt habe, dass das Arbeitslosengeld ab 22. Mai 2002 mit 210,42 € fast doppelt so hoch wie das Arbeitslosengeld ab 7. März 2001 mit 251,86 DM gewesen sei. – Der Kläger erklärte dazu: Für ihn sei nicht nachvollziehbar, weshalb er die Richtigkeit der Leistungsberechnung hätte in Frage stellen und anhand des Merkblatts für Arbeitslose überprüfen sollen. – Die Beklagte gab dem Widerspruch in Bezug auf den Zeitraum 19. Dezember 2002 – 8. Januar 2003 durch Widerspruchsbescheid vom 31. Dezember 2003 statt und wies den Widerspruch im Übrigen in Bezug auf den Zeitraum 21. Mai 2002 – 31. August 2002 als unbegründet zurück. Die teilweise Rechtswidrigkeit der Arbeitslosengeldbewilligung gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) beruhe darauf, dass die Leistung nach Leistungsgruppe C entsprechend Lohnsteuerklasse III bewilligt worden sei und lediglich nach Leistungsgruppe D entsprechend Lohnsteuerklasse V zugestanden habe. Die Zuordnung eines Arbeitslosen zur Leistungsgruppe richte sich gemäß § 137 Abs. 3 Satz 1 SGB III nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden sei, auf seiner Lohnsteuerkarte eingetragen sei. Auf der Lohnsteuerkarte des Widerspruchsführers sei zu Beginn des Jahres 2002 die Steuerklasse V eingetragen gewesen; dem entspreche gemäß § 137 Abs. 2 Nr. 4 SGB III die Leistungsgruppe D. Die daraus folgende Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes hätte der Widerspruchsführer erkennen müssen. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt sei mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt habe oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Grob fahrlässig in diesem Sinne handele, wer in besonders schwerem Maße die erforderliche Sorgfaltspflicht verletze, wer einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstelle, also nicht beachte, was jedem einleuchten müsse. Dies sei in der Regel der Fall, wenn eindeutige Hinweise in Vordrucken, Merkblättern sowie mündliche Belehrungen nicht beachtet worden seien. Vorliegend seien eindeutige und für den Widerspruchsführer erkennbare Anhaltspunke für eine Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes gegeben gewesen; denn der Widerspruchsführer habe nicht zum ersten Mal Leistungen beantragt und bezogen, weshalb von seiner Kenntnis der Bedeutung der Lohnsteuerklasse auszugehen sei. Aus dem Merkblatt für Arbeitslose, dessen Empfang und Kenntnisnahme er bestätigt habe, ergebe sich die Abhängigkeit der für die Leistungsberechnung maßgebenden Leistungsgruppe von der Lohnsteuerklasse. Des Weiteren sei die Höhe des ab 21. Mai 2002 bewilligten Arbeitslosengeldes mit 210,42 € wöchentlich fast doppelt so hoch gewesen wie die Höhe des zu Anspruchsbeginn ab 7. März 2001 bezogenen Arbeitslosengeldes mit 251,86 DM wöchentlich und des ab 16. April 2002 bezogenen Unterhaltsgeldes mit 130,20 € wöchentlich. Der Unterschiedsbetrag von mehr als 80,– € wöchentlich habe dem Widerspruchsführer geradezu „ins Auge springen“ müssen. Danach müsse ihm eine besondere Sorgfaltspflichtverletzung vorgehalten werden. Der Widerspruchsführer sei gem. § 50 Abs. 1 SGB X erstattungspflichtig in Höhe von 1.180,38 € überzahlte Leistung.

Der Kläger hat am 29. Januar 2004 Klage vor dem Sozialgericht Marburg erhoben, sich gegen die ihn belastende Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung gewandt und zur Begründung anwaltlich vortragen lassen: Er habe nach korrekter Mitwirkung seinerseits auf die Richtigkeit des Bewilligungsbescheides vertrauen dürfen und die erbrachten Leistungen verbraucht. Er habe die Fehlerhaftigkeit der Arbeitslosengeldbewilligung ab 21. Mai 2002 nicht infolge grober Fahrlässigkeit verkannt. Unter Beachtung einschlägiger Rechtsprechung sei er lediglich verpflichtet, den Bewilligungsbescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen; er sei nicht verpflichtet, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Allein aus der Angabe einer Leistungsgruppe und eines Leistungssatzes dränge sich ein Berechnungsfehler nicht auf. In dem Bescheid seien die Berechnungsgrundlagen nicht dargelegt, sondern lediglich ein Pauschalsatz unter Hinweis auf die geltende Rechtsverordnung angegeben. Der Berechnungsfehler habe ihm aufgrund seiner Erkenntnismöglichkeiten nicht geradezu ins Auge springen müssen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat daran festgehalten, dass dem Kläger die Fehlerhaftigkeit der Leistungsbewilligung aufgrund seiner subjektiven Erkenntnismöglichkeiten doch hätte ins Auge springen müssen; denn er habe durch Bewilligungsbescheid vom 19. Juni 2002 ab 21. Mai 2002 Arbeitslosengeld mit einem deutlich erhöhten Leistungssatz (nach der Leistungsgruppe C) erhalten, obschon keine Veränderung in der Lohnsteuerklasse eingetreten sei. Sowohl zu Beginn des Jahres 2001 wie zu Beginn des Jahres 2002 sei nämlich auf seiner Lohnsteuerkarte die Steuerklasse V eingetragen gewesen. Bei Beachtung des ihm am 19. Februar 2001 sowie am 21. Mai 2002 ausgehändigten Merkblatts 1 für Arbeitslose (Seite 29: „Die Bedeutung der Lohnsteuerklasse“), wonach Lohnsteuerklasse V mit Leistungsgruppe D und Lohnsteuerklasse III mit Leistungsgruppe C korreliere, seien die Anhaltspunke für eine Fehlerhaftigkeit der Leistungsbewilligung eindeutig gewesen.

Das Sozialgericht Marburg hat durch Urteil vom 27. April 2005 die Klage abgewiesen und die Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass dem Kläger zu Recht grobe Fahrlässigkeit i.S.v. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vorgeworfen worden sei. Der Kläger könne sich als durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt Begünstigter nicht auf Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsaktes berufen, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe, indem er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht gekannt habe. Ihm hätte der enorme Unterschied in der Höhe des bis 16. April 2002 bezogenen Unterhaltsgeldes von 520,80 € monatlich einerseits und des ab 21. Mai 2002 bezogenen Arbeitslosengeldes von 841,68 € monatlich andererseits auffallen müssen; er hätte diese Tatsache der Beklagten mitteilen müssen, damit diese eine Überprüfung des Leistungssatzes vornehme. Die zu Unrecht bezogene Leistung sei nach § 50 SGB X in Höhe von 1.180,38 € zu erstatten.

Der Kläger hat gegen das ihm am 13. Juni 2005 zugestellte Urteil am 12. Juli 2005 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt, mit der er sich sowohl gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 27. April 2005 wie gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Dezember 2003 wendet. Zur Begründung lässt er anwaltlich sein erstinstanzliches Vorbringen vertiefen: Er habe als Leistungsempfänger auf die Richtigkeit des Arbeitslosengeld-Bewilligungsbescheides vertrauen können und sei nicht verpflichtet gewesen, den Bescheid anhand der abstrakten Erläuterungen über die Voraussetzungen eines Anspruchs im Merkblatt für Arbeitslose des Näheren auf seine Richtigkeit zu überprüfen (Bezugnahme auf Bundessozialgericht – BSG – SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Eine Sorgfaltspflichtverletzung i.S.v. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X sei lediglich dann zu bejahen, wenn schon einfache, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt worden seien, mithin nicht beachtet worden sei, was in dem zu beurteilenden Fall jedem hätte einleuchten müssen (Bezugnahme auf BSGE 62, 103). Das sei regelmäßig nicht der Fall, wenn lediglich Hinweise in Vordrucken und Merkblättern nicht beachtet würden. Er habe den Bewilligungsbescheid zur Kenntnis genommen. Aus unterschiedlichen Leistungsgruppen habe er ungeachtet seines Bildungsstandes nicht auf die Höhe des Arbeitslosengeldes schließen können. Damit habe sich die Rechtswidrigkeit weder aus dem Bescheid noch aus einem Vergleich von Bewilligungsbescheiden ergeben. Im Übrigen habe es nach der leistungslosen Zeit 16. April 2002 – 21. Mai 2002 durchaus nahe gelegen, dass die erneute Bewilligung von Arbeitslosengeld in anderer Höhe erfolgt sei. – Ergänzend hat er in der mündlichen Verhandlung am 10. April 2006 dargelegt: Nach Zugang des Bewilligungsbescheides vom 19. Juni 2002 sei ihm in Bezug auf die Höhe der bewilligten Leistung nichts aufgefallen, er sei weder erfreut, noch nicht erfreut gewesen, sondern habe den Bescheid – wie die übrigen Bescheide – abgeheftet. Er habe keinen Vergleich mit früheren Bescheiden angestellt und hätte auch nicht bemerkt, wenn es 50,00 € weniger gewesen wären. Er könne auch nicht sagen, ob das von ihm bezogene Unterhaltsgeld seinerzeit höher ausgefallen sei als das zuvor bezogene Arbeitslosengeld. Er habe damals kein Gefühl von Existenz- oder Geldnot gehabt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 27. April 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Dezember 2003 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte vertritt weiterhin die Auffassung, der Kläger habe die ihm obliegende Sorgfaltspflicht in so erheblichem Maße verletzt, dass er sich auf Vertrauen in den Bewilligungsbescheid nicht berufen könne; denn es sei nicht glaubhaft, dass ihm die um mehr als 60 % erhöhte Leistungszahlung ab 21. Mai 2002 mit Bescheid vom 19. Juni 2002 nicht aufgefallen sei, habe sich doch seine Lohnsteuerklasse V seit der Bewilligung des Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 7. März 2001 bis 28. Oktober 2001 und auch seit Bewilligung des Unterhaltsgeldes für die Zeit vom 29. Oktober 2001 bis 16. April 2002 nicht geändert. Deshalb sei dem Kläger deutlich erkennbar gewesen, dass die Arbeitslosengeldbewilligung ab 21. Mai 2002 fälschlicherweise auf der Leistungsgruppe C anstelle der richtigen und in der Vergangenheit den Leistungsbewilligungen zugrunde gelegten Leistungsgruppe D beruhe. Darüber hinaus sei dem Bewilligungsbescheid ein Hinweis auf den Zusammenhang von Steuerklasse und Leistungsgruppe beigefügt und dem Merkblatt für Arbeitslose sei dieser Zusammenhang gleichfalls zu entnehmen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann nach § 155 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einverständnis mit den Beteiligten durch den bestellten Berichterstatter entscheiden; vorliegend haben beide Beteiligte das entsprechende Einverständnis erklärt (Kläger: mit Schreiben vom 7. Februar 2006; Beklagte: mit Schreiben vom 3. Februar 2006).

Die an sich statthafte Berufung (§ 143 SGG) ist unter Beachtung des Wertes des Beschwerdegegenstandes von über 500,00 € (hier: 1.180.38 Euro) nicht beschränkt (§ 144 Abs. 1 SGG) und auch zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG), eingelegt.

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 27. April 2005 ist nicht aufzuheben, weil es nicht rechtsfehlerhaft ist; das Sozialgericht hat die Klage vielmehr zutreffend abgewiesen. – Der Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2003 und des Bescheides vom 31. Dezember 2003 ist nicht rechtswidrig und war deshalb nicht aufzuheben.

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Die teilweise Rücknahme der Leistungsbewilligung mit Verfügung vom 18. Juni 2002 für den Leistungszeitraum 21. Mai 2002 – 31. August 2002 durch den angefochtenen Bescheid ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden; denn die ursprüngliche Leistungsgewährung begünstigte den Kläger teilweise rechtswidrig. Das Arbeitslosengeld beträgt gemäß § 129 SGB III nach dem erhöhten Leistungssatz 67 % und nach dem allgemeinen Leistungssatz 60 % des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Das Leistungsentgelt ist nach § 136 SGB III das um die gesetzlichen Entgeltabzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderte Bemessungsentgelt (Abs. 1). Entgeltabzüge sind Steuern, die Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitsförderung sowie die sonstigen gewöhnlich anfallenden Abzüge. Dabei ist für die Lohnsteuer die Steuer zu Grunde zu legen, die sich nach der für den Arbeitslosen maßgeblichen Leistungsgruppe ergibt (Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 1). Der gewöhnliche Lohnsteuerabzug ist in der Leistungsgruppe D die Steuer nach der Lohnsteuertabelle für die Lohnsteuerklasse V (Abs. 3 Satz 1 Nr. 4). Die als gewöhnlicher Abzug zu Grunde zu legende Steuer richtet sich gemäß § 137 SGB III nach der Leistungsgruppe, der der Arbeitslose zu zuordnen ist (Abs. 1). Die Zuordnung richtet sich nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist, auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragen war (Abs. 3 Satz 1). Zuzuordnen sind Arbeitnehmer, auf deren Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse V eingetragen ist, der Leistungsgruppe D (Abs. 2 Nr. 4).

Ausgehend von einem gerundeten Bemessungsentgelt von 400 € wöchentlich sowie der Maßgeblichkeit der Lohnsteuerklasse V, deren Eintragung auf der Lohnsteuerkarte des Klägers zu Beginn des Jahres 2002 zwischen den Beteiligten und für das Gericht nicht zweifelhaft ist, ergibt sich aus der Tabelle in Anlage 2 zur SGB III Leistungsentgeltverordnung 2002 vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I Seite 4036) in der Spalte zur Leistungsgruppe D als erhöhter Leistungssatz 130,20 € wöchentlich und in der Spalte zur Leistungsgruppe C als erhöhter Leistungssatz 210,42 € wöchentlich. Die Differenz zwischen den Leistungsbeträgen beträgt 11,46 € pro Tag (30,06 € – 18,60 € täglicher Leistungssatz) und die Multiplikation mit 103 Leistungstagen (Leistungszeitraum 21. Mai 2002 – 31. August 2002) ergibt die von der Beklagten so richtig errechnete Überzahlung von 1.180,38 €.

Liegen die in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vor, ist dieser gem. § 330 Abs. 2 SGB III auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die genannte Vorschrift bestimmt, dass sich der durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt Begünstigte u. a. nicht auf Vertrauen berufen kann, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Die Vorschrift beruht auf dem Gedanken, dass derjenige, der die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes kennt oder ohne Mühe erkennen könnte, auch mit seiner Rücknahme rechnen muss. Danach setzt die Durchbrechung des Vertrauensschutzes die Kenntnis oder das Kennen-Müssen der Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes aufgrund einer Parallelwertung in der Laiensphäre im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes voraus (von Wulffen, SGB X, Kommentar, 4. Auflage, § 45 Rdnr. 23). Die Rechtswidrigkeit muss sich in erster Linie unmittelbar aus dem Verwaltungsakt selbst ohne die Notwendigkeit weiterer Nachforschungen ergeben. Eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich geregelt ist (BSG vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R). Findet die Zuordnung von Tatsachen zu gesetzlichen Merkmalen (Subsumtion) keine zusammenhängende Darstellung in der Bescheidbegründung, wird eine grobe Fahrlässigkeit bei komplizierten Berechnungen oder Bestimmungen des Inhalts eines Verwaltungsaktes durch Schlüsselzeichen regelmäßig nicht in Betracht kommen (BSG vom 17. April 1964 – 10 RV 1299/81). Dem Leistungsempfänger, der die Fehlerhaftigkeit nicht aus der Bescheidbegründung erkennen kann, wird grobe Fahrlässigkeit vielmehr nur dann vorzuwerfen sein, wenn der Fehler ihm bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu „in die Augen springt“, beispielsweise wenn die bewilligte Lohnersatzleistung offensichtlich außer Verhältnis zu dem zugrunde liegenden Arbeitsentgelt stünde (BSG vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R). Wenn Hinweise in Formularen, Schreiben und Verwaltungsakten überhaupt nicht gelesen werden, kann dies auch vorwerfbar sein (vgl. BSG vom 17. März 1981 – 7 RAr 30/80); Merkblattausführungen zur Abhängigkeit der Höhe der Lohnersatzleistung von dem zuletzt durchschnittlich erzielten versicherungspflichtigen Arbeitsentgelt müssen beachtet werden (BSG vom 21. Mai 1974 – 7 RKg 8/73). Dies gilt nicht, wenn der Begünstigte den Inhalt eines Merkblatts etc. oder einzelne hieran anknüpfende Fragen nicht verstanden hat oder nicht hat verstehen können (vgl. Grüner, SGB X, Kommentar, Loseblatt, 69. Ergänzung, § 45 Anm. 3). Das Maß der erforderlichen Sorgfalt richtet sich nach der persönlichen Einsichts- und Kritikfähigkeit des Begünstigten unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles (ständige Rechtsprechung; Hauck/Haines, SGB X, Kommentar, Loseblatt, 32. Lieferung, § 45 Rdnr. 42 m.w.N.). Grobe Fahrlässigkeit ist zu bejahen, wenn der Betroffene schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (ständige Rechtsprechung; BSG vom 8. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R).

Beispiele aus der Rechtsprechung: Einem Leistungsempfänger, der die Differenz zwischen 360 DM bewilligter und 560 DM ausgezahlter Sozialhilfe nicht erkannte, wurde vorgeworfen, dass er vor der Tatsache der Überzahlung gleichsam „die Augen verschlossen“ habe (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 14.05.1990 – 6 S 1132/88). Die Differenz zwischen dem tatsächlich erzielten Monatsentgelt von 2.073,00 DM brutto und dem im Bescheid irrtümlich zugrunde gelegten Wochenentgelt von 1.980,00 DM wurde einem Leistungsempfänger als augenfällig überhöhtes Bemessungsentgelt vorgehalten (Bayerisches Landessozialgericht vom 29. Juli 2004 – L 9 AL 381/02). Die Differenz zwischen der bewilligten Leistung von 41,30 € wöchentlich und der überwiesenen Leistung von 270,22 € monatlich hätte einem Leistungsempfänger Anlass zu Richtigkeitsüberlegungen sein müssen (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht vom 24. Juni 2005 – L 3 AL 103/04). Einer Leistungsempfängerin wurde zu Gute gehalten, dass sie nach Verringerung der wöchentlichen Arbeitslosengeldleistung von 278,11 DM auf eine Arbeitslosenhilfeleistung von 245,70 DM darauf habe vertrauen dürfen, dass das anzurechnende Partner-Einkommen von 195,82 DM auch bereits berücksichtigt sei (Bayerisches Landessozialgericht vom 30. April 2004 – L 8 AL 18/03).

Von den eingeführten Rechtsprechungsgrundsätzen ausgehend, ist dem Kläger in dem anhängigen Rechtsstreit vorzuwerfen, dass er die erforderliche Sorgfalt im Umgang mit dem Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 19. Juni 2002 in einem besonders schweren Maße verletzt hat. Gegenstand der Bewertung ist der gesetzliche Vertrauensschutz zugunsten eines rechtswidrig begünstigten Leistungsempfängers, der auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut und dessen Vertrauen schutzwürdig ist (vgl. § 45 Abs. 2 satz 1 und 2 SGB X). Den subjektiven Erkenntnismöglichkeiten des betroffenen Leistungsempfängers entspricht der subjektive Sorgfaltsmaßstab, an dem sein Verhalten zu messen ist. Vorliegend ist der Kläger in Bezug auf die Kenntnisnahme des Bewilligungsbescheides vom 19. Juni 2002 deutlich unter seinen Erkenntnismöglichkeiten geblieben. Gegenstand seiner Obliegenheit zur Kenntnisnahme war primär der darin festgesetzte Arbeitslosengeldbetrag von 210,42 Euro wöchentlich. Dieser inhaltliche Kern des Verfügungssatzes des Verwaltungsakts trifft zusammen mit dem lebenspraktischen Interesse jedes Leistungsempfängers an der Leistungshöhe als der finanziellen Grundlage für die Sicherung seines Lebensunterhalts in Zeiten eines – im Verhältnis zum Erwerbseinkommen reduzierten – Sozialleistungsbezugs. Es ist kein überzeugender Grund ersichtlich, weshalb dem Kläger als damals 32 Jahre altem Handwerksmeister gegen die Lebenserfahrung ein unterdurchschnittliches Interesse an seinem Einkommen zuzubilligen wäre. Hinzukommt seine Erfahrung mit Verwaltungsverfahren der Beklagten in Leistungsangelegenheiten seit 19. Februar 2001 (Zeitpunkt der erstmaligen Arbeitslosengeldbeantragung). Wenn der Kläger vor diesem Hintergrund den Bewilligungsbescheid vom 19. Juni 2002 nicht „studierte“, sondern – wie die von ihm beispielhaft genannten Kontoauszüge – lediglich „abheftete“ (vgl. seine Erklärung in der mündlichen Verhandlung am 10. April 2006), fehlte es bereits an dem von ihm zu erwartenden Minimum einer Kenntnisnahme; denn wer überhaupt nicht oder nur gedankenlos liest oder sich mit der unbestimmten Vorstellung, es werde schon stimmen, begnügt, handelt grob fahrlässig (BSG vom 21. Mai 1974 – 7 RKg 8/73). Bei einer Kenntnisnahme mit dem gebotenen Interesse und der aufzubringenden Aufmerksamkeit hätte sich dem Kläger aus der Erinnerung ein Vergleich mit den zuvor empfangenen Leistungen aufgedrängt. Die Zeitspanne von neun Wochen zwischen dem Ende des vorausgegangenen Leistungsbezugs am 16. April 2002 und dem Zugang des Bewilligungsbescheides vom 19. Juni 2002 ist nicht derart lang, dass die Größenordnung des letzten Leistungsbezugs bereits dem Vergessen gänzlich anheim gefallen sein durfte. Jedenfalls eine relative Leistungserhöhung um 61,6 % oder absolut 80,22 Euro wöchentlich (210,42 Euro ./. 130,20 Euro) hätte ihm auffallen müssen, – zumal bei überschlägiger Hochrechnung auf den jeweiligen Monatsbetrag war diese augenfällig. Als Hilfsgröße für einen Vergleich sind hier zusätzlich die monatlichen Fixkosten (Miete etc.) vorstellbar. Danach hatte der Kläger hinreichend deutliche und gewichtige Anhaltspunkte für Richtigkeitsüberlegungen zur bewilligten Leistungshöhe in der Laiensphäre. Das klägerseitig in diesem Verfahren stark herausgestellte Desinteresse an der bewilligten Leistungshöhe stellt ein besonders sorgloses Verhalten dar, welches das Maß grober Fahrlässigkeit erreicht.

Danach hat der Kläger der Beklagten gemäß § 50 Abs. 1 SGB X den nach Aufhebung der Leistungsbewilligung insoweit zu Unrecht empfangenen Arbeitslosengeldbetrag von 1.180,38 Euro, dessen Verbrauch er nicht dargelegt hat, zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen der Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

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