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Auffahren (dichtes) im Straßenverkehr mit Lichthupe und Hupe eine Nötigung

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

Az.: 2 BvR 932/06

Beschluss vom 29.03.2007


In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 14. März 2006 – 83 Ss 6/06 – hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 29. März 2007 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die Rechtsprechung der Strafgerichte, wonach dichtes Auffahren im Straßenverkehr unter Einsatz von Signalhorn und Lichthupe Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes darstellen kann, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

A.

I.

Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen.

Die gegen das Urteil des Strafrichters eingelegte Berufung blieb erfolglos. Sie wurde vom Landgericht verworfen. Die Berufungskammer machte dem Beschwerdeführer zum Vorwurf, mit seinem PKW innerorts über eine Strecke von knapp 300 Metern bei einer Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h bei dichtem Auffahren unter Einsatz der Lichthupe und – teilweise – auch des Signalhorns versucht zu haben, einen vor ihm fahrenden Verkehrsteilnehmer zu schnellerem Fahren oder einer Freigabe der Fahrbahn zu veranlassen.

Dieses Verhalten – so das Landgericht – stelle auf Grund seiner Dauer und Intensität und wegen der mit ihm verbundenen Gefährdung des Geschädigten eine Gewaltanwendung im Sinne des § 240 StGB dar.

Die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts blieb erfolglos. Sie wurde vom Oberlandesgericht unter Bestätigung der Rechtsauffassung der Strafkammer verworfen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde rügt im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG. Die Einwirkung auf einen Fahrzeugführer durch bedrängendes Auffahren sei allenfalls psychischer Zwang und damit unter Beachtung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit von Sitzblockaden keine Gewalt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setze Gewaltanwendung eine physische Einwirkung auf das Opfer voraus. Die Versuche der Strafgerichte, einem Drängeln im Straßenverkehr eine solche Körperlichkeit beizumessen, seien gekünstelt. Weder setze ein Fahrzeugführer bei einem derartigen Fahrverhalten in erheblichem Maße Körperkraft ein noch gehe die körperliche Reaktion des Betroffenen über das Empfinden von Angst – einem psychischen Phänomen – hinaus. Mit ihrer Auslegung des Gewaltbegriffs weiteten die Strafgerichte den Anwendungsbereich des § 240 StGB deshalb in unzulässiger Weise aus. Folge sei, dass ein Verkehrsteilnehmer nicht mehr erkennen könne, ob sein Fahrverhalten lediglich belästigend – und damit noch straflos – oder bereits strafbar sei. Die von den Gerichten teilweise zu Zwecken der Abgrenzung herangezogene „Intensität“ des Fahrverhaltens sei kein taugliches Unterscheidungskriterium. Der Begriff der Intensität sei seinerseits interpretationsbedürftig.

Ungeachtet der mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht tragfähigen Subsumtion eines bedrängenden Auffahrens unter den Gewaltbegriff habe der Beschwerdeführer schon deshalb nicht wegen versuchter Nötigung verurteilt werden dürfen, weil das ihm zur Last gelegte Verhalten im langsamen innerörtlichen Verkehr stattgefunden habe und deshalb gerade keine intensive Zwangszufügung gewesen sei.

B.

Zu der Verfassungsbeschwerde haben die Vorsitzende des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und die Generalbundesanwältin Stellung genommen.

Die Vorsitzende des 4. Strafsenats hat auf die ständige Rechtsprechung des von ihr geleiteten Spruchkörpers hingewiesen, wonach dichtes Auffahren zur Erzwingung eines Überholvorgangs jedenfalls dann nötigende Gewalt sei, wenn das Verkehrsgeschehen auf einer Autobahn stattfinde. Mit dichtem Auffahren im innerstädtischen Verkehr sei der Senat noch nicht befasst gewesen.

Die Generalbundesanwältin hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die von den Fachgerichten vorgenommene Qualifizierung des Verhaltens des Beschwerdeführers als Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes lasse einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht besorgen. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 10. Januar 1995 – BVerfGE 92, 1 ff. – entschieden, dass die bloße körperliche Anwesenheit an einem Ort keine nötigende Gewalt sei. Über dieses Stadium inaktiver Präsenz gehe ein drängelndes Auffahren im Straßenverkehr jedoch hinaus. Das dynamische Zufahren auf ein anderes Fahrzeug sei gegen das Opfer gerichtete Kraftentfaltung, die dieses unmittelbar physisch gefährde.

C.

Ein Grund zur Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

Die Rechtsprechung der Strafgerichte zur Nötigung im Straßenverkehr durch bedrängendes Auffahren steht im Einklang mit Art. 103 Abs. 2 GG. Dichtes, bedrängendes Auffahren auf den Vordermann kann – insbesondere bei gleichzeitigem Betätigen von Lichthupe und Signalhorn – Gewalt im Sinne des § 240 StGB sein und zwar auch dann, wenn es im innerörtlichen Verkehr stattfindet.

Die Interpretation des Gewaltbegriffs bei § 240 StGB obliegt allein den Strafgerichten als zuständigen Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich nach, ob die von den Strafgerichten vorgenommene Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Die strafrechtliche Rechtsprechung hat den Begriff der Gewalt unter Orientierung am allgemeinen Sprachverständnis zunächst restriktiv ausgelegt. Gewalt wurde als physische Einwirkung des Täters auf das Opfer zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands begriffen (vgl. RGSt 46, 403 <404>; 56, 87 <88>).

Von diesem Verständnis des Gewaltbegriffs lösten sich die Strafgerichte im Laufe der Zeit. Das Kriterium der physischen Einwirkung verlor an Bedeutung. Nicht nur an den Bereich der Tätlichkeit heranreichende Kraftentfaltungen sollten Anwendung von Gewalt sein. Gewaltausübung sollte auch in einem nur geringen körperlichen Kraftaufwand liegen können. Für die Annahme von Gewalt wurde nunmehr als entscheidend eine physische Zwangswirkung beim Opfer angesehen (vgl. BGHSt 1, 145 <147>; 8, 102 <103>; 23, 126 <127>). Dabei werteten die Gerichte auch geringfügige körperliche Reaktionen, wie etwa Nervenerregungen, als körperlich empfundenen Zwang (vgl. RGSt 60, 157 <158>).

Schließlich gaben die Strafgerichte die Beschränkung auf physisch wirkenden Zwang beim Opfer gänzlich auf. Gewalt – so die damalige strafgerichtliche Rechtsprechung – liege auch bei vom Nötigungsadressaten psychisch empfundenem Zwang von einigem Gewicht vor (vgl. BGHSt 23, 46 <54>).

In seiner Entscheidung vom 11. November 1986 ließ das Bundesverfassungsgericht diesen „weiten“, des Merkmals der körperlichen Zwangswirkung beraubten Gewaltbegriff im Ergebnis noch unbeanstandet, obwohl sich schon damals vier Richter gegen dessen Bestimmtheit aussprachen (vgl. BVerfGE 73, 206 ff.).

Mit seinen Beschlüssen vom 10. Januar 1995 (BVerfGE 92, 1 ff.) und 24. Oktober 2001 (BVerfGE 104, 92 ff.) hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG klargestellt, dass ein Täter Gewalt im Sinne des § 240 StGB nur anwendet, wenn er durch körperliche Kraftentfaltung Zwang auf sein Opfer ausübt und dieser Zwang nicht lediglich psychisch wirkt, sondern körperlich empfunden wird. Weitergehende Anforderungen an den Gewaltbegriff hat das Gericht nicht gestellt. So ist es, wie die Entscheidung vom Oktober 2001 zeigt, für die Annahme tatbestandlicher Gewalt bei der Nötigung aus verfassungsrechtlicher Sicht unter anderem nicht erforderlich, dass die Kraftentfaltung des Täters eine bestimmte Intensität besitzt. Geringfügige körperliche Energie, wie das Anbringen einer Metallkette an zwei Torpfosten, kann für die Annahme von Gewalt ausreichen (BVerfGE 104, a.a.O. <102 f.>).

Berücksichtigen die Strafgerichte, dass von Verfassungs wegen Gewalt physisch ausgeübter und physisch wirkender Zwang bedeutet, ist gegen eine Rechtsprechung grundsätzlich nichts zu erinnern, die bedrängendes Auffahren als tatbestandliches Unrecht im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB in der ersten Unrechtsvariante begreift, sofern es die genannten Kriterien erfüllt.

Dabei kann die Feststellung nötigender Gewalt stets nur für den Einzelfall erfolgen. Dies liegt darin begründet, dass pauschale Wertungen darüber, wann ein Verhalten im Straßenverkehr körperlichen Zwang auf einen anderen Verkehrsteilnehmer ausübt, schwerlich getroffen werden können. Hier wird es auf die Umstände des Einzelfalls ankommen. Hilfestellung bieten aber die von den Strafgerichten bereits entwickelten Maßstäbe zur Prüfung eines Unrechtsverhaltens nach § 240 StGB im Straßenverkehr. Von Bedeutung sein werden deshalb unter anderem die Dauer und Intensität des bedrängenden Auffahrens, die gefahrenen Geschwindigkeiten, die allgemeine Verkehrssituation zum Zeitpunkt des täterschaftlichen Handelns und ob der Täter bei dem Auffahrvorgang zugleich Signalhorn oder Lichthupe betätigt hat (vgl. OLG Stuttgart, DAR 1998, S. 153 <154>; OLG Hamm, DAR 1990, S. 392 <393>; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 1998, S. 58 f.).

All diese Faktoren lassen einzeln oder im Verbund Rückschlüsse auf die Auswirkungen des auf seine strafrechtliche Relevanz zu überprüfenden Verhaltens auf den Betroffenen zu. Werden diese Auswirkungen körperlich empfunden, führen sie also zu physisch merkbaren Angstreaktionen, liegt Zwang vor, der – auch gemessen an verfassungsrechtlichen Maßstäben – Gewalt sein kann (vgl. BGHSt 19, 263 <266>). Zwar ist das Angstempfinden der Menschen unterschiedlich und weichen deshalb auch ihre körperlichen Reaktionen auf bedrängendes Fahren voneinander ab. Dies ist jedoch kein Argument, das der Annahme nötigender Gewalt im Straßenverkehr unter Hinweis auf eine mangelnde Tatbestandsbestimmtheit des § 240 StGB entgegengehalten werden kann. Bei bedrängender Fahrweise muss ein Fahrzeugführer grundsätzlich damit rechnen, dass sein Verhalten zu Furchtreaktionen anderer Verkehrsteilnehmer führen kann.

Weniger problematisch im Zusammenhang mit nötigender Gewalt im Straßenverkehr als das Kriterium der physischen Zwangswirkung ist das Merkmal der körperlichen Kraftentfaltung beim Täter. Die den Auffahrvorgang ausmachende dynamische Bewegung des Kraftfahrzeugs lässt sich ohne Weiteres als Kraftentfaltung begreifen (vgl. OLG Stuttgart, NJW 1995, S. 2647 <2648>). Dies gilt ungeachtet der letztlich gefahrenen Geschwindigkeit. Da es nach den Maßstäben des Verfassungsrechts für das Vorliegen nötigender Gewalt auf das Ausmaß der vom Täter entfalteten Kraft nicht ankommt, ist es nicht ausgeschlossen, im Betätigen des Gaspedals das unrechtsrelevante Verhalten zu sehen (zu diesen Alternativen vgl. Maatz, NZV 2006, S. 337 <341>). Die Strafgerichte werden darüber zu entscheiden haben, welche Auffassung vorzugswürdig ist.

Da sich generelle Aussagen über die Wirkung bedrängenden Auffahrens auf den Vordermann verbieten, ist auch innerorts ein nötigendes Verhalten grundsätzlich möglich. Allerdings bedarf es hier wegen der im Regelfall niedrigeren gefahrenen Geschwindigkeiten einer besonders genauen Prüfung, ob Nötigungsunrecht – insbesondere in Abgrenzung zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit durch Unterschreiten des Sicherheitsabstands – vorliegt. Auch diese Prüfung obliegt jedoch den Fachgerichten und nicht dem Bundesverfassungsgericht. Dieses greift erst bei willkürlicher Rechtsanwendung ein.

Diese ist im Fall des Beschwerdeführers jedoch nicht ersichtlich. Das Landgericht hat die von Verfassungs wegen gebotenen Maßstäbe, nach denen sich beurteilt, ob ein Verhalten Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes darstellt, nicht verkannt. Insbesondere hat es berücksichtigt, dass es gerade im innerörtlichen Verkehr für die Frage, ob ein bedrängendes Auffahren eine Gewaltzufügung darstellt, auf die Umstände des Einzelfalls und dabei im Speziellen auf die Dauer und Intensität des vom Täter vermittelten Zwangs ankommt. Ob das Landgericht angesichts der geforderten Maßstäbe den von ihm festgestellten Sachverhalt im Ergebnis zutreffend unter den Tatbestand des § 240 StGB subsumiert hat, hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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