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Auffahrunfall – Anscheinsbeweis – Bundesautobahneinfahrt

BGH, Az.: VI ZR 152/80, Urteil vom 06.04.1982

Auf die Rechtsmittel der Beklagten werden das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. April 1980 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts Essen vom 26. Juni 1979 teilweise geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.514,64 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 22. Dezember 1978 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens fallen dem Kläger zur Last.

Tatbestand

Der Fahrer H. befuhr am 14. Oktober 1978 mit einem Lastzug der Beklagten die Bundesautobahn in E. auf der rechten Fahrspur in Richtung D. Als er sich einer Anschlußstelle näherte, bogen vor ihm drei Personenkraftwagen, darunter der des Klägers, auf die Autobahn ein und wechselten vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur. Der erste Pkw, dessen Fahrer unbekannt geblieben ist, wurde plötzlich ohne ersichtlichen Grund bis zum Stillstand abgebremst. Dem nachfolgenden, von T. gefahrenen BMW und dem dahinter mit einem Alfa-Romeo fahrenden Kläger gelang es, ihre Fahrzeuge jeweils rechtzeitig anzuhalten. H. prallte indessen mit dem Lastzug auf den Pkw des Klägers auf und drückte ihn gegen den BMW. Die Anstoßstelle lag auf der rechten Fahrspur kurz vor oder hinter dem Ende der rechts davon verlaufenden Beschleunigungsspur.

Der Kläger verlangt von der Beklagten Ersatz seines durch den Unfall erlittenen Sachschadens in Höhe von 7.029,28 DM.

Die Beklagte, die nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils eine Mithaftung zur Hälfte anerkennt, bestreitet ein Verschulden ihres Fahrers H. und behauptet, der Kläger habe beim Einfahren in die Autobahn unter Verletzung des H. zustehenden Vorfahrtrechtes den Sicherheitsabstand zwischen den Fahrzeugen unzulässig verkürzt.

Beide Vorinstanzen haben der Klage voll stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Abweisung der über 3.514,64 DM hinausgehenden Klage.

Entscheidungsgründe

I.

Auffahrunfall - Anscheinsbeweis - Bundesautobahneinfahrt
Symbolfoto: Von Alistair Scott /Shutterstock.com

Das Berufungsgericht führt aus, der Unfallverlauf lasse sich im einzelnen nicht aufklären. Der Kläger habe wie die vor ihm fahrenden Pkw zunächst den Beschleunigungsstreifen benutzt und nach dem Einordnen auf der Bundesautobahn eine nicht mehr feststellbare Strecke auf der rechten Fahrspur zurückgelegt. Eine „nicht mehr zu ermittelnde Zeitspanne danach“, nachdem die Fahrzeuge einschließlich desjenigen des Klägers „nach einem ungeklärten Zeitraum von Sekunden zum Stillstand gekommen“ seien, sei der Lastzug der Beklagten auf den Pkw des Klägers „mit einer nicht mehr feststellbaren Auffahrgeschwindigkeit“ aufgefahren; es sei auf eine „jedenfalls nicht unerhebliche Aufprallintensität“ zu schließen.

Die feststehenden Gesamtumstände, so meint das Berufungsgericht sodann, begründeten den Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des auffahrenden Lastzugfahrers. Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger durch sein Überwechseln vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur der Bundesautobahn das dem Fahrer des Lastzuges zustehende Vorfahrtrecht verletzt habe, seien nicht gegeben; jedenfalls sei ein verkehrswidriges Verhalten des Klägers nicht feststellbar. Unter diesen Umständen trete die verbleibende Betriebsgefahr des „gezwungenermaßen stillstehenden Pkw’s“ ganz zurück.

II.

Dagegen wendet sich die Revision der Beklagten mit Recht. Die vom Berufungsgericht festgestellten Umstände rechtfertigen nicht dessen Annahme, der Beweis des ersten Anscheins spreche für ein schuldhaft verkehrswidriges Verhalten des Lastzugfahrers H. bei der Verursachung des Auffahrunfalles.

1. Freilich ist es ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, daß bei Unfällen durch Auffahren in der Regel der erste Anschein für das Verschulden des auffahrenden Verkehrsteilnehmers spricht. Da der Kraftfahrer verpflichtet ist, seine Fahrweise so einzurichten, daß er notfalls rechtzeitig anhalten kann, wenn ein Hindernis auf der Fahrbahn auftaucht (§ 3 Abs. 1 StVO), läßt die Erfahrung bei einem Aufprallen auf ein solches Hindernis zunächst den Schluß zu, daß die Ursache dafür in einer schuldhaften Verletzung dieser Verpflichtung zu sehen ist (Senatsurteil vom 20. Dezember 1963 – VI ZR 289/62 – VersR 1964, 263 m.w.Nachw. und ständig).

2. Das gilt aber, wie das Berufungsgericht an sich nicht verkennt, dann nicht, wenn Umstände feststehen (nicht etwa nur behauptet werden), die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensverlaufs ergeben. So liegt es entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts im Streitfall.

a) Der Lastzugfahrer H., der die rechte Fahrspur der Bundesautobahn befuhr, hatte gegenüber den in die Autobahn einfahrenden Kraftfahrern, also auch gegenüber dem Kläger, die Vorfahrt (§ 18 Abs. 3 StVO). Das gilt auch gegenüber Benutzern der Beschleunigungsspur. Es steht fest, daß sich der Auffahrunfall im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren des Klägers in die Bundesautobahn ereignet hat. Darauf weisen der Anstoßpunkt, der im Bereich des Endes der Beschleunigungsspur gelegen hat, und die unstreitige Tatsache hin, daß der Kläger kurz vorher aus der Autobahneinfahrt kommend die Beschleunigungsspur benutzt hat und auf die rechte Fahrspur der Bundesautobahn vor dem herannahenden Lastzug der Beklagten gewechselt ist.

b) Damit lag eine Verkehrssituation vor, die sich von derjenigen, die den Schluß auf ein Verschulden des Auffahrenden zuläßt, grundlegend unterscheidet. Das Hindernis, das der Pkw des Klägers für den Lastzugfahrer H. auf der Fahrbahn bildete, ist erst dadurch geschaffen worden, daß sich der Kläger im Bereich der Autobahneinfahrt vor ihn, der die Vorfahrt hatte, gesetzt hat. Behinderungen vorfahrtberechtigter Kraftfahrzeuge durch Fahrzeuge, die in die Autobahn einfahren, kommen immer wieder vor und schaffen typischerweise die Gefahr von Auffahrunfällen infolge von Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den die Autobahn als Schnellstraße mit erheblicher Geschwindigkeit befahrenden und den zunächst mit niedrigerer Geschwindigkeit auf die Autobahn einfahrenden Fahrzeugen. Deshalb kann, wenn sich wie hier nach den tatsächlichen Feststellungen ein Auffahrunfall im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der Einfahrt in die Autobahn ereignet, nicht mehr der Erfahrungssatz gelten, daß der Auffahrende diesen Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit verschuldet hat; denn mindestens ebenso nahe liegt der Schluß, daß dem Auffahrenden die Vorfahrt genommen worden ist. Dem steht das angeführte Senatsurteil vom 20. Dezember 1963, auf das sich das Berufungsgericht bezogen hat, nicht entgegen. Es betrifft, wie das Berufungsgericht selbst erkennt, einen anderen Sachverhalt, was die mögliche Ausräumung des Anscheinsbeweises anbelangt. Im dort entschiedenen Fall hatte sich der Auffahrunfall noch vor Erreichen einer Autobahneinfahrt ereignet, so daß die festgestellten Umstände nicht auf die ernsthafte Möglichkeit einer Vorfahrtverletzung bei der Einfahrt in die Autobahn hindeuteten.

3. Mithin war es im Streitfall Sache des Klägers, den vollen Beweis dafür zu erbringen, daß der Fahrer H. der Beklagten den Auffahrunfall nicht nur mitverursacht, sondern auch verschuldet hat. Dieser Beweis ist ihm nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht gelungen. Es ist vielmehr die Möglichkeit offen geblieben, daß der Kläger unter Verletzung des Vorfahrtrechts des H. sich bei der Einfahrt in die Autobahn mit seinem Pkw so kurz vor den Lastzug gesetzt hat, daß der Sicherheitsabstand nicht mehr ausreichte und von H. bis zum plötzlichen Abbremsen des Klägers nicht mehr ausreichend vergrößert werden konnte. Offen geblieben ist auch die Möglichkeit, daß H. zunächst auf die Beachtung seines Vorrechtes durch den Kläger vertrauen und dann, als dieser doch von der Beschleunigungsspur auf die rechte Fahrspur wechselte, auf das Abbremsen des Klägers nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Andererseits kann die Beklagte, wie sie einräumt, auch nicht den Nachweis erbringen, daß der Unfall für sie, weil der Fahrer H. jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat (§ 7 Abs. 2 StVG), ein unabwendbares Ereignis war. Sie haftet mithin für den Schaden des Klägers nach § 7 Abs. 1 StVG. Aber auch der Kläger hat als Halter und Fahrer seines Pkw’s den Schaden mitverursacht; auch er hat den Unabwendbarkeitsbeweis des § 7 Abs. 2 StVG nicht geführt. Die danach gemäß § 17 StVG vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt zu dem Ergebnis, daß die Beklagte allenfalls, wie von ihr eingeräumt, die Hälfte des Schadens zu tragen hat. Das folgt schon daraus, daß der Lastzug auf der geraden und übersichtlichen Fahrspur der Autobahn fuhr, ohne daß ein Fahrfehler des Fahrers H. nachzuweisen ist, während der Kläger, dem eine erhöhte Sorgfaltsverpflichtung nach § 18 Abs. 3 StVO oblag, durch das Einfahren auf die Autobahn objektiv die eigentliche Gefahr geschaffen hat. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist mithin die Berufung der Beklagten begründet und führt zur Abweisung der über 3.514,64 DM, die Hälfte des geltend gemachten Sachschadens, hinausgehenden Klage.

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