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Urteil: Belästigungen durch den Nachbarn – Unterlassungsansprüche gerechtfertigt?

Im nachbarschaftlichen Zusammenleben kann es zu Herausforderungen kommen, die juristische Expertise erfordern. Ein solcher Fall, bei dem es um Belästigungen durch einen psychisch erkrankten Nachbarn und daraus resultierende Unterlassungsansprüche ging, wurde vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe unter dem Aktenzeichen 14 U 19/99 verhandelt. Das Urteil vom 09. Juni 2000 verdeutlicht die Komplexität solcher Angelegenheiten, bei denen neben rechtlichen auch ethische und gesellschaftliche Aspekte eine Rolle spielen.

Dr. Christian Gerd Kotz, mit seiner umfangreichen Erfahrung im Bereich des Nachbarrechts, ist der richtige Ansprechpartner, um in solch schwierigen Konstellationen individuelle Lösungen zu finden und die Rechte seiner Mandanten effektiv zu vertreten.

<h2>✔ Das Wichtigste in Kürze</h2><ul>
<li>Der Fall betraf Unterlassungsansprüche gegen Belästigungen durch einen psychisch erkrankten Nachbarn.</li>
<li>Kläger war eine Familie, die durch das Verhalten des Nachbarn in ihrem Wohnfrieden gestört wurde.</li>
<li>Das Gericht entschied zugunsten der Familie, indem es deren Unterlassungsansprüche anerkannte.</li>
<li>Die Entscheidung betont die Wichtigkeit des Schutzes der Rechte der Betroffenen.</li>
<li>Es zeigt auf, wie Gerichte einen fairen Ausgleich zwischen den Parteien unter Berücksichtigung aller Umstände suchen.</li>
</ul>
Beispielbild zum Thema Nachbarschaftsstreit (Quelle: KI Midjourney)
Beispielbild zum Thema Nachbarschaftsstreit (Quelle: KI Midjourney)

Hintergründe: Die Vorfälle, die zum Rechtsstreit führten

In diesem Fall kam es zu wiederholten Belästigungen durch einen psychisch erkrankten Nachbarn, die das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Kläger erheblich beeinträchtigten. Zu den Störungen gehörten lautes Schreien zu ungewöhnlichen Zeiten und beleidigende Äußerungen, die nicht nur die Ruhe störten, sondern auch ein Klima der Angst und Unsicherheit schufen.

Trotz der Erkrankung des Nachbarn fühlten sich die Kläger in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr sicher und sahen sich gezwungen, rechtliche Schritte einzuleiten, um die Situation zu adressieren und ihre Rechte zu schützen.

Rechtliche Fragen: Die Kernproblematik des Falls

Die rechtliche Auseinandersetzung in diesem Fall drehte sich primär um die Frage, inwiefern Unterlassungsansprüche gegen den störenden Nachbarn durchgesetzt werden können, insbesondere unter Berücksichtigung seiner psychischen Erkrankung. Die juristische Herausforderung lag darin, das Spannungsfeld zwischen dem Recht der Kläger auf ungestörte Nutzung ihres Eigentums und den Rechten eines psychisch erkrankten Nachbarn, der möglicherweise nicht vollständig für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, auszuloten.

Dabei mussten verschiedene rechtliche Aspekte berücksichtigt werden, darunter das Nachbarrecht, das Persönlichkeitsrecht und das Schutzbedürfnis der Betroffenen. Die Komplexität des Falles zeigt sich in der Notwendigkeit, eine ausgewogene Entscheidung zu treffen, die den Schutz der Kläger gewährleistet, ohne die Rechte des Beklagten unangemessen zu beschneiden.

Entscheidung des Gerichts: Eine ausgewogene Betrachtung

Das Gericht musste in diesem komplexen Fall eine Entscheidung treffen, die sowohl die Rechte der Kläger als auch die besondere Situation des Beklagten berücksichtigte. Die Herausforderung bestand darin, einen gerechten Ausgleich zu finden, der die Unterlassungsansprüche der Kläger gegen die Belästigungen durch den Nachbarn unterstützt, ohne die Rechte des psychisch erkrankten Nachbarn unangemessen zu beschneiden.

Das Gericht orientierte sich dabei an den geltenden Rechtsnormen und berücksichtigte die spezifischen Umstände des Falles, um eine Lösung zu finden, die den Schutz der Kläger sicherstellt und gleichzeitig einen angemessenen Umgang mit der Situation des Beklagten ermöglicht.

Bedeutung und Auswirkungen: Lehren aus dem Urteil

Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung eines ausgewogenen Rechtsschutzes in Fällen, in denen die Interessenkonflikte zwischen Nachbarn durch besondere Umstände wie psychische Erkrankungen verkompliziert werden. Es zeigt, wie das Gericht bemüht ist, eine gerechte Lösung zu finden, die sowohl den Schutzbedürfnissen der Kläger gerecht wird, als auch die Rechte des Beklagten achtet.

Für ähnliche Fälle bietet dieses Urteil wertvolle Einblicke in die rechtliche Handhabung von Nachbarschaftskonflikten und setzt Maßstäbe für die Beurteilung von Unterlassungsansprüchen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Beteiligten.

Abschluss: Wichtige Erkenntnisse aus dem Urteil

Das Gericht erkannte die Unterlassungsansprüche der Familie gegen ihren psychisch erkrankten Nachbarn an. Diese Entscheidung betont, wie wichtig es ist, die Rechte der Betroffenen zu schützen, und setzt ein bedeutsames Beispiel für den Umgang mit ähnlichen Fällen.

Sie zeigt auf, dass die Gerichte bemüht sind, ein faires Gleichgewicht zwischen dem Schutzbedürfnis der Kläger und den besonderen Umständen des Beklagten herzustellen, und unterstreicht die Rolle sorgfältiger juristischer Abwägung in Nachbarschaftskonflikten.

 

 

Oberlandesgericht Karlsruhe

Az.: 14 U 19/99

Urteil vom 09.06.2000

Vorinstanz: LG Freiburg – Az.: 2 O 286/98


Leitsätze

Beeinträchtigung der Benutzung eines Grundstücks durch das Verhalten eines das Nachbargrundstück bewohnenden Behinderten, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; §§ 242, 906 Abs. 1 Satz l, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB

1. Bei der Beurteilung, ob die Beeinträchtigung eines Grundstücks durch von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen als wesentlich im Sinne von § 906 Abs 1 BGB anzusehen ist, ist das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Anliegen zu berücksichtigen, Behinderten ein Leben frei von vermeidbaren Beschränkungen zu ermöglichen. Im nachbarlichen Zusammenleben ist daher ein erhöhtes Maß an Toleranzbereitschaft zu fordern. Die Grenze der Duldungspflicht ist erst dann erreicht, wenn dem Nachbarn die Belästigung billigerweise nicht mehr zumutbar ist

2. Einem Behinderten kann das Bewohnen des in seinem Eigentum stehenden Hausgrundstücks nur dann untersagt werden, wenn von ihm ausgehende, den Nachbarn billigerweise nicht mehr zumutbare Beeinträchtigungen nicht auf andere Weise abgewehrt werden können.

3.Sind die bei dem Behinderten auftretenden Krankheitssymptome, welche zu die Benutzung des Nachbargrundstücks beeinträchtigenden Einwirkungen führen, behandelbar, so verstieße die Verurteilung des Behinderten zur Unterlassung der weiteren Wohnbenutzung seines Grundstücks gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit


Urteil:

In Sachen wegen Beseitigung und Unterlassung hat das Oberlandesgericht Karlsruhe -14. Zivilsenat in Freiburg auf die mündliche Verhandlung vom 19. Mai 2000 für Recht erkannt:

1. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts vom 30.12.1998 – 2 0 286/98 – wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Kläger tragen die Kosten der Berufung.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Kläger können jedoch die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 16.000,00 DM abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten. Die Sicherheiten können jeweils durch selbstschuldnerische unbefristete Bürgschaft eines in Deutschland als Zoll- oder Steuerbürge zugelassenen Kreditinstituts erbracht werden.

4. Die Kläger sind mit mehr als 60.000,00 DM beschwert.

Tatbestand:

Die Parteien bewohnen in einer Siedlung, die aus Zeilen mehrerer aneinander-gebauter schmaler Reihenhäuser besteht, zwei unmittelbar benachbarte Häuser. Der Beklagte Nr. 1 ist zusammen mit seiner Schwester (Beklagte Nr. 2) Miteigentümer des von ihm seit seiner Kindheit bewohnten Hauses. Die Kläger haben ihr Haus Mitte 1997 gekauft und wohnen seitdem dort.

Der Beklagte Nr. 1 leidet bereits seit langer Zeit an einer psychischen Erkrankung, nämlich einer chronischen affektiven Psychose mit Neigung zu Affekthandlungen mit Triebdurchbrüchen auf dem Boden einer depressiven Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägtem Strukturdefizit und psychotischem Verarbeitungsmodus (Gutachten der Amtsärztin Dr. M. vom 04.05.1998, l 85/101) und steht unter Betreuung. Der Aufgabenkreis des Betreuers umfaßt die Vermögenssorge, die Aufenthaltsbestimmung und die Gesundheitsfürsorge (vgl. 1103).

Die Kläger haben vorgetragen, der Beklagte Nr. 1 terrorisiere die Nachbarschaft. Er lärme tagsüber und auch nachts, indem er Gegenstände herumwerfe, schreie, Selbstgespräche führe, Klopfgeräusche verursache und das Radio laut laufen lasse. Er spreche teilweise wirres Zeug, schimpfe unflätig und habe auch schon gedroht, die Häuser in der Nachbarschaft anzuzünden. Wegen der Einzelheiten wird auf die von den Klägern gefertigten Auflistungen für die Zeit vom 11.11.1997 bis zum 01.02.1998 (l 27/33), vom 05.03.1998 bis zum 14.06.1998 (l 35/37) und vom 10.07.1998 bis zum 15.07.1998 (l 53) sowie auf die Wiedergabe des Inhalts eines von den Klägern aufgenommenen Videofilms (l 11/15) verwiesen. Wenn der Beklagte Nr. 1 vor dem Haus – meist mit nacktem Oberkörper -herumlärme, traue sich die Klägerin Nr. 2 nicht mehr aus dem Haus. Sie sei schon derart psychisch belastet, daß sie sich in ärztliche Behandlung habe begeben müssen.

Die Kläger haben die Auffassung vertreten, aufgrund der Verhaltensweisen des Beklagten Nr. 1 hätten sie gegen diesen einen Anspruch, die Nutzung seines Hauses zu unterlassen. Weil der Beklagte Nr. 1 aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, eine Unterlassungsverpflichtung zu begreifen und ihr nachzukommen, sei sein Auszug aus dem Haus die einzige Möglichkeit, die Kläger vor weiteren vom Beklagten Nr. 1 ausgehenden Störungen zu schützen. Die Beklagte Nr. 2 als Miteigentümerin des Hauses habe dafür zu sorgen, daß der Beklagte Nr. 1 „verschwinde“ (vgl. l 51).

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Die Kläger haben beantragt,

1. den Beklagten Nr. 1 zu verurteilen, die Nutzung des Hausanwesens S.-weg in 0. zu unterlassen und

2. die Beklagte Nr. 2 zu verurteilen, die Nutzung des genannten Hausanwesens durch den Beklagten Nr. 1 einzustellen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie haben vorgetragen, der Beklagte Nr. 1 sei geschäftsunfähig. Daß er „seltsame Sachen mache“, werde nicht bestritten. Mit Nichtwissen bestritten würden allerdings die von den Klägern einzeln aufgezählten Verhaltensweisen des Beklagten Nr. 1, ferner, daß diese der Grund für die Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin Nr. 2 seien. Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, die Kläger müßten das Verhalten des Beklagten Nr. 1 dulden. Dessen Krankheit sei in der Nachbarschaft seit Jahren bekannt. Es sei Sache der Kläger gewesen, sich vor dem Kauf des Hauses über die unmittelbaren Nachbarn zu erkundigen.

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Klage unter Zugrundelegung des Vertrags der Kläger abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten, im Lichte von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach die spezifischen Belange von Behinderten zu berücksichtigen sind, sei von einem verständigen Durchschnittsmenschen im nachbarlichen Zusammenleben mit Behinderten eine erhöhte Toleranzbereitschaft zu verlangen. Dies führe dazu, daß die Kläger das Verhalten des Beklagten Nr. 1 hinzunehmen hätten.

Mit der Berufung verfolgen die Kläger ihre erstinstanzlichen Anträge weiter. Dabei wiederholen und aktualisieren sie ihren erstinstanzlichen Vortrag durch Auflistung weiterer Vorkommnisse. Auf Seiten 3 bis 6 der Berufungsschrift wird Bezug genommen. Sie meinen, auch unter Beachtung des Toleranzgebotes sei die Grenze dessen, was von ihnen zu dulden sei, überschritten. Die Klägerin Nr. 2 habe bereits nachhaltige gesundheitliche Schäden davongetragen. Die Kläger meinen schließlich, im Falle einer Duldungspflicht stehe ihnen jedenfalls ein Entschädigungsanspruch zu. Die Kläger haben in der mündlichen Berufungsverhandlung ausdrücklich erklärt, ihr Ziel in diesem Verfahren sei, eine Wohnnutzung durch den Beklagten Nr. 1 selbst im S.-weg in 0. vollständig zu unterbinden. Es werde nicht begehrt, daß einzelne störende Verhaltensweisen des Beklagten Nr. 1 unterbunden und unterlassen würden.

Die Kläger beantragen, Abänderung des angefochtenen Urteils dahin, daß die Beklagten gemäß den erstinstanzlichen Klageanträgen verurteilt werden, hilfsweise die Beklagten zu verurteilen, den Klägern als Gesamtschuldnern eine in das Ermessen des Gerichts gestellte ab 01.11.1997 mit 4 % zu verzinsende Entschädigung nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB zu bezahlen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das landgerichtliche Urteil und bestreiten, daß der Beklagte Nr. 1 sich in dem von den Klägern vorgetragenen Maße störend verhalten habe. Sie meinen zudem, die Anfälle des Beklagten Nr. 1 könnten durch gutes und bestimmtes Einreden auf ihn beendet werden. Fremdgefährdung gehe von ihm nicht aus, ansonsten würde er schon längst untergebracht worden sein. – Bei einem sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergebenden Toleranzgebot bestehe kein mit dem Hilfsantrag geltend gemachter Entschädigungsanspruch.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen Dr. R. K. sowie der Sachverständigen Dr. M.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die richterliche Niederschrift vom 19.05.2000 (II229/243) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Mit Recht hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

1. Nachdem die Kläger in der mündlichen Berufungsverhandlung ausdrücklich erklärt haben, daß ihr Klageziel nicht auf die Unterbindung bzw. Unterlassung einzelner störender Handlungen, sondern auf eine vollständige Unterlassung der Wohnnutzung des im Eigentum der beiden Beklagten stehenden Anwesens durch den Beklagten Nr. 1 gehe, kann dahingestellt bleiben, ob Unterlassung bzw. Unterbindung einzelner Störungshandlungen gegenüber der völligen Unterlassung der Wohnnutzung ein „minus“ oder aber ein „aliud“ darstellen und ob ein hierauf gerichteter Anspruch der Kläger besteht. Denn eine Verurteilung zur Unterlassung bzw. Verhinderung einzelner Störungshandlungen scheitert bereits an § 308 Abs. 2 Satz 1 ZPO, wonach nichts zugesprochen werden darf, was nicht beantragt ist (zur Anwendung dieses Grundsatzes auf Unterlassungsänträge vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 21. Aufl. 1999, Rnr. 4 zu § 308 m. w. N.).

2. Nach Auffassung der Kläger bestehen die von ihnen gegen die beiden Beklagten ausschließlich geltend gemachten umfassenden Ansprüche deshalb, weil ihr Ziel, weitere durch das Verhalten des Beklagten Nr. 1 verursachte Beeinträchtigungen des Gebrauchs ihres Grundstücks zu verhindern, allein dadurch erreicht werden kann, daß der Beklagte Nr. 1 die Wohnnutzung des in seinem und seiner Schwester Eigentum stehenden Grundstücks unterläßt. Darin vermag der Senat den Klägern indessen nicht zu folgen: Weder können sie vom Beklagten Nr. 1 die Unterlassung der Wohnnutzung des Grundstücks, noch können sie von der Beklagten Nr. 2 die Verhinderung einer derartigen Nutzung durch ihn verlangen.

a) Gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 906 BGB steht dem Grundstückseigentümer gegen den Störer in bezug auf Lärm- und sonstige Immissionen ein Unterlassungsanspruch insoweit zu, als er diese nicht zu dulden hat. Zu dulden hat er sie, soweit die Einwirkungen die Benutzung seines Grundstücks „nicht oder nur unwesentlich“ beeinträchtigen (§ 906 Abs. 1 Satz 1 BGB). Für die Frage, wann die Schwelle zur „Wesentlichkeit“ überschritten ist, ist nach der neueren Rechtsprechung des BGH (vgl. BGHZ 120, S. 239 ff., 255 [„Froschlärm“]; BGHZ 121, S. 248 ff., 255 [„Jugendzeltplatz“]; kritisch dazu etwa Staudinger/Roth, BGB, 13. Bearb. 1996, Rnr. 159 zu § 906; Jauernig, BGB, 9. Aufl. 1999, Rnr. 3 zu § 906) nicht mehr – wie bisher – das Empfinden des „normalen“, sondern das des „verständigen“ Durchschnittsmenschen maßgeblich, so daß bei der Beurteilung wertende Momente zu berücksichtigen sind. Im hier zu entscheidenden Fall ist in diesem Zusammenhang das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Anliegen zu berücksichtigen, Behinderten ein Leben frei von – vermeidbaren – Beschränkungen zu ermöglichen. Es führt dazu, daß im nachbarlichen Zusammenleben mit Behinderten ein erhöhtes Maß von Toleranzbereitschaft zu fordern ist. Die Grenze der Duldungspflicht ist erst dann erreicht, wenn dem Nachbarn die Belästigung „billigerweise nicht mehr zuzumuten ist“ (BGHZ 120, S. 239 ff., 255; in bezug auf Belästigungen, die von Behinderten ausgehen, eingehend OLG Köln, NJW 1998, S. 763 ff.).

b) Ob bei Anwendung dieser Grundsätze die vom Beklagten Nr. 1 ausgehenden Störungen das Maß dessen, was die Kläger hinzunehmen haben, überschreiten, kann dahingestellt bleiben. Dahingestellt bleiben kann auch, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen das Recht der Kläger, Beeinträchtigungen der Nutzung ihres Grundstücks abzuwehren, das grundgesetzlich geschützte (vgl. Art. 13 Abs. 1 und Art. 14 GG) Recht der Beklagten, das in ihrem Eigentum stehende Grundstück selbst zu Wohnzwecken zu nutzen (Beklagter Nr. 1) bzw. eine solche Nutzung durch den Miteigentümer zu dulden (Beklagte Nr. 2), zu verdrängen in der Lage ist. Ein hierauf gerichteter, von den Klägern ausdrücklich ausschließlich geltend gemachter Anspruch käme jedenfalls -wenn überhaupt – nur als letztes Mittel in Betracht. Er würde voraussetzen, daß den Klägern „billigerweise nicht mehr zumutbare“ vom Beklagten Nr. 1 ausgehende Beeinträchtigungen des Gebrauchs ihres Grundstücks einzig und allein dadurch abgewehrt werden können, daß der Beklagte Nr. 1 an der Wohnnutzung des von ihm bewohnten Grundstücks gehindert wird.

Eine derartige Situation ist aber nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Aufgrund des im Senatstermin vom 19.05.2000 mündlich erstatteten Gutachtens (II 231/237) der Sachverständigen Dr. R. M., Fachärztin für Psychiatrie, Sozialmedizin und weitere medizinische Gebiete, leidet der Beklagte Nr. 1 an einer Psychose mit extremer Ich-Schwäche, was zu einer Überflutung von äußeren Reizen und zu Erregungszuständen führt, die dann seine von den Klägern als störend empfundenen „merkwürdigen Verhaltensweisen“ zur Folge haben. Indessen ist diese Krankheit -wie die Sachverständige ebenfalls ausgeführt hat – gut behandelbar und zwar durch regelmäßige Gabe des Medikaments Fluanxol Depot 10 %, dessen Wirkung bis zu sechs Monate andauern kann, wobei die Maximalwirkung nach 14 Tagen endet. Das Medikament wird – wie die Sachverständige ebenfalls ausgeführt hat – vom Beklagten Nr. 1, was für andere Patienten durchaus nicht immer zutrifft, sehr gut vertragen und kann bei ihm ohne weiteres langfristig eingesetzt werden. Bei regelmäßiger Versorgung des Beklagten Nr. 1 mit dem genannten Medikament ist aus Sicht der Sachverständigen mit einer Dämpfung seiner von ihr als „bizarr“ bezeichneten Verhaltensweisen zu rechnen. Nach Ansicht der Sachverständigen liegt die hier in Rede stehende Problematik allein im nichtkooperativen Verhalten des Patienten sowie darin, daß die regelmäßige Versorgung mit dem Medikament nicht gewährleistet ist.

Diese dem Senat nachvollziehbaren Ausführungen der Sachverständigen stehen im Einklang mit der Aussage des Zeugen Dr. K (II 237/243), welcher der Hausarzt sowohl des Beklagten Nr. 1 als auch der Klägerin Nr. 2 ist. Der Senat hält die durch die Sachverständige erfolgte Beurteilung des Krankheitsbildes und der Behandelbarkeit für überzeugend und macht sie sich zu eigen.

Angesichts der demgemäß feststehenden Behandelbarkeit der Krankheit des Beklagten Nr. 1 verstieße eine Verurteilung der Beklagten, eine Wohnnutzung des in ihrem Eigentum stehenden Grundstücks durch ihn zu unterlassen bzw. zu verhindern, gegen den sich aus § 242 BGB ergebenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach dann, wenn auf eine Pflichtverletzung mehrere Reaktionen möglich sind, die mildere zu wählen ist (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 59. Aufl. 2000, Rnr. 54 zu § 242 m.w. N.). Dafür, daß der jetzige Berufsbetreuer des Beklagten Nr. 1, Herr M. B., in Zukunft nicht die für die erforderliche Behandlung des Betreuten geeigneten Maßnahmen ergreift, ist nichts ersichtlich, dies vor allem auch deshalb, weil der Erstbeklagte inzwischen nur noch mit Spritzen behandelt werden muß, während die – problematische – zusätzliche Einnahme von Tabletten nicht mehr vonnöten ist (vgl. Dr. Kohlhaas, II 241 vorl. Abs.).

3. Demgemäß hat das Landgericht die auf Unterlassung gerichtete Klage mit Recht als unbegründet zurückgewiesen. Ebenfalls mit Recht hat es einen von den Klägern hilfsweise geltend gemachten Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB verneint. Ein derartiger Ausgleichsanspruch besteht deshalb nicht, weil der von den Klägern in erster Linie geltend gemachte Unterlassungsanspruch – wie sich aus den Ausführungen zu oben 2. ergibt – nicht deshalb scheitert, weil die vom Beklagten Nr. 1 verursachten Einwirkungen auf ihr Grundstück als einer ortsüblichen Benutzung des von ihnen bewohnten Grundstücks entsprechend zu dulden wären.

Nach alledem war die Berufung der Kläger mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO als unbegründet zurückzuweisen. Die übrigen Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 708 Nr. 10, 711, 108, 546 Abs. 2 ZPO.

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