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Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit?

Arbeitsgericht Kiel

Az.: 1 Ca 2113 d/01

Verkündet am 08.11.2001


In dem Rechtsstreit hat die 1. Kammer des Arbeitsgerichts Kiel auf die mündliche Verhandlung vom 08.11.2001 für Recht erkannt:

1. Es wird festgestellt, dass die von der Beklagten gegenüber dem Kläger in seiner vertraglich geschuldeten Tätigkeit angeordneten Bereitschaftsdienste Arbeitszeit im Sinne von § 2 ArbZG sind.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Der Streitwert wird auf DM 8.000,00 festgesetzt.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil kann durch Einreichung einer Berufungsschrift bei dem Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein in Kiel, Deliusstraße 22, 24114 Kiel, Berufung eingelegt werden, wenn sie im Urteil zugelassen worden ist, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1.200,00 DM übersteigt oder wenn es sich um eine Rechtsstreitigkeit über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses handelt.

Der Berufungskläger hat den Wert des Beschwerdegegenstandes glaubhaft zu machen.

Die Berufungsschrift muss

binnen einer Notfrist von einem Monat

nach Zustellung des Urteils beim Landesarbeitsgericht eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss das Urteil bezeichnen, gegen das die Berufung gerichtet wird, und die Erklärung enthalten, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde.

Der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils beigefügt werden.

Der Berufungskläger muss die Berufung begründen. Die Berufungsbegründung ist, sofern sie nicht bereits in der Berufungsschrift enthalten ist, in einem Schriftsatz beim Landesarbeitsgericht einzureichen. Die Frist für die Berufungsbegründung beträgt

einen Monat

Sie beginnt mit der Einlegung der Berufung.

Die Berufung und die Berufungsbegründung müssen von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. An seine Stelle können Vertreter von Gewerkschaften oder von Vereinigungen von Arbeitgebern oder von Zusammenschlüssen solcher Verbände treten, wenn diese Personen kraft Satzung oder Vollmacht zur Vertretung befugt sind und der Zusammenschluss, der Verband oder deren Mitglieder Partei sind.

Die für die Zustellung an die Gegenseite erforderliche Anzahl von beglaubigten Abschriften soll mit der Berufungs- bzw. Begründungsschrift eingereicht werden.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Einordnung der seitens der Beklagten gegenüber dem Kläger angeordneten Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit (so der Kläger) oder als Ruhezeit (so die Beklagte). Dabei geht es ausschließlich um die arbeitsschutzrechtliche Seite der Bereitschaftszeiten, nicht dagegen um die vergütungsrechtliche.

Die Beklagte beschäftigt den Kläger seit dem 01. Mai 1992 als Assistenzarzt in der chirurgischen Abteilung des ihres Krankenhauses zu ¾ der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit. Darüber hinaus ist der Kläger durch Nebenabrede verpflichtet, Bereitschaftsdienste bei der Beklagten zu leisten. Diese werden der Stufe D der Nr. 8 Abs. 2 der Anlage 2 c zum BAT (SR 2 c BAT) zugewiesen.

Der Kläger leistet im Monat regelmäßig sechs Bereitschaftsdienste, die teils durch Freizeit und teils durch zusätzliche Vergütung abgegolten werden. Der Bereitschaftsdienst beträgt wochentags 16 Stunden am Stück, sonnabends 25 Stunden (08:30 h Sonnabendmorgen bis 09:30 h Sonntagmorgen) und sonntags 22 Stunden 45 Min. (08:30 h Sonntagmorgen bis 07:15 h Montagmorgen).

Die Bereitschaftsdienste erfolgen dergestalt, dass sich der Kläger zwingend in der Klinik aufhält und dort auf Anordnung der Beklagten hin ggfs. anfallende Arbeiten erledigt.

Der Kläger ist der Auffassung, dass die von ihm als Assistenzarzt sowie als Notarzt im Rahmen des notärztlichen Dienstes geleisteten Bereitschaftsdienste Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sei. Dies ergebe sich aus der direkten Anwendung der Richtlinie 93/104, denn diese sei hinsichtlich der Arbeitszeit durch das Arbeitszeitgesetz nicht umgesetzt. Die Auslegung des Arbeitszeitbegriffs im Urteil des EuGH vom 03. Okt. 2000 (AZ: C-303/98) sei auf den vorliegenden Fall übertragbar, da die Ausgangssituation inhaltlich identisch sei. Insbesondere sei der in Spanien abzuleistende Bereitschaftsdienst mit dem deutschen hinsichtlich der Beanspruchung vergleichbar. Das hinsichtlich des Arbeitszeitbegriffs vom Verständnis des EuGH abweichende deutsche Arbeitszeitgesetz sei deshalb in § 5 Abs. 3 ArbZG nicht anwendbar. Da der nationale Gesetzgeber Bereitschaftsdienst abweichend vom europäischen Recht definiert habe, sei die Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt worden. Somit könne sich der Kläger direkt auf die Richtlinie beziehen. Art. 17 der Richtlinie könne von der Beklagten nicht als Ausnahmevorschrift für den deutschen Gesetzgeber herangezogen werden, da Art. 17 lediglich Ausnahmen bei der Ruhezeitpraxis nicht aber beim Arbeitszeitbegriff vorsehe.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass die von der Beklagten gegenüber dem Kläger in seiner vertraglich geschuldeten Tätigkeit angeordneten Bereitschaftsdienste Arbeitszeit gemäß § 2 des ArbZG sind.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte führt aus, dass Bereitschaftsdienste nach ständiger Auslegung der nationalen Gerichte und der herrschenden Meinung in der Literatur als Ruhezeit und nicht als Arbeitszeit angesehen würden. Ansonsten liefen §§ 5 Abs. 3, 7 Abs. 2 ArbZG leer. Der EuGH habe in seiner Entscheidung vom 03. Okt. 2000 zwar Bereitschaftsdienste als dem Arbeitszeitbegriff der Richtlinie unterfallend angesehen, nur gelte die Entscheidung nicht für den vorliegenden Fall. Die Entscheidung des EuGH habe zum einen keine Bindungswirkung für den vorliegenden Fall sondern nur für den Ausgangsfall, in dessen Rahmen Fragen seitens des spanischen Gerichts dem EuGH vorgelegt worden seien. Zum anderen sei der vorliegende Sachverhalt mit dem spanischen nicht vergleichbar, denn die spanischen Ärzte würden im Rahmen der Bereitschaftsdienste in vollem Umfange arbeiten, die deutschen Ärzte dagegen durchschnittlich maximal 49 %. Weiter stammten die spanischen Rechtsvorschriften aus der Zeit vor Erlass der Richtlinie. Das deutsche Arbeitszeitgesetz habe dagegen die Richtlinie umgesetzt, wie die Stellungnahme der Bundesregierung vom 11. Okt. 1995 zur großen Anfrage zum Thema Arbeitszeitflexibilisierung ausgeführt habe. Schließlich sei der abweichende nationale Arbeitszeitbegriff von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie gedeckt. Der EuGH stelle selbst klar, dass der nationale Gesetzgeber einen weiten Spielraum habe. Eine ausdrückliche Erwähnung von Art. 2 in Art. 17 der Richtlinie sein entbehrlich gewesen, da Art. 2 lediglich Definitionen beinhalte.

Im Übrigen wird hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze, Unterlagen und Protokolle verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige (A.) Klage ist begründet (B.).

A. Die Klage ist als Feststellungsklage begründet.

I. Die Formulierung „im Sinne von § 2 ArbZG“ macht deutlich, dass es nicht um die Vergütung von Bereitschaftsdiensten nach BAT geht, sondern ausschließlich um den arbeitsschutzrechtlichen Aspekt der Arbeitszeit.

II. Im Streit steht ein konkretes Rechtsverhältnis, nämlich die arbeitsschutzrechtliche Bewertung der von der Beklagten gegenüber dem Kläger angeordneten Bereitschaftsdienste und nicht etwa die abstrakt generelle Rechtsfrage, ob Bereitschaftsdienste ganz allgemein Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind.

III. Es besteht Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO.

Das Feststellungsinteresse als besondere Form des Rechtsschutzinteresses ist gegeben, wenn der Bestand oder Nichtbestand eines Rechtsverhältnisses unsicher ist, Bedürfnis für eine alsbaldige richterliche Entscheidung besteht und das Feststellungsurteil geeignet ist, den Rechtsfrieden zwischen den Parteien wieder herzustellen (vgl. hierzu unter Bezugnahme auf Rechtsprechung Schaub, Arbeitsgerichtsverfahren-Handbuch, 7. Aufl., § 21, Rn. 19 ff.).

Zwischen den Parteien besteht Streit über die arbeitsschutzrechtliche Bewertung ihres Bereitschaftsdienstes.

Der Kläger hat auch ein Bedürfnis auf Feststellung der arbeitszeitgesetzlichen Charakters seiner Bereitschaftsdienste, denn von der Einordnung her zum Beispiel ab, ob er Bereitschaftsdienste vor oder nach der ordentlichen Arbeit in welchem Umfange ableisten darf oder ob er gegen gesetzliche Verbote verstößt, die zum Beispiel bei evtl. Haftungsfällen des Klägers den Verschuldensmaßstab zu seinen Lasten verändern könnten. Insofern ist das Feststellungsbedürfnis auch dann gegeben, wenn der Kläger, wie die Beklagte meint, im Durchschnitt selbst bei voller Anrechnung der Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit nicht auf eine durchschnittliche Arbeitsleistung von 48 Wochenstunden kommt.

Die Feststellungsklage ist darüber hinaus geeignet, hier die Streitfrage, welche eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit der Parteien darstellt, mit ihren vielfältigen Auswirkungen auf tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeiten prozessökonomisch abschließend zu entscheiden.

B. Die Klage ist begründet. Die vom Kläger abzuleistenden Bereitschaftsdienste sind Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes.

Dem Arbeitszeitbegriff im Sinne von § 2 ArbZG unterfallen auch Bereitschaftsdienste des Klägers (I.). Dies ergibt sich nach Auslegung der Vorschrift, wobei der bisherige besonders auf der Systematik und dem Willen des nationalen Gesetzgebers begründete enge Arbeitszeitbegriff (II.) durch einen weiten Arbeitszeitbegriff aufgrund richtlinienkonformer Auslegung verdrängt wird (III.).

I. Unter Bereitschaftsdienst versteht man den Aufenthalt des Arbeitnehmers an einer vom Arbeitgeber angeordneten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs, ohne dass von ihm wache Achtsamkeit gefordert wird, um im Bedarfsfall die volle Arbeitsleistung unverzüglich aufzunehmen (vgl. z. B. BAG, Urteil vom 05.02.1997, AP Nr. 14 zu § 33 a BAT; Urteil vom 10.06.1959, AP Nr. 5 zu § 7 AZO; Wank, Erfurter Kommentar, 2. Aufl., § 2 ArbZG, Rn. 51).

Die Tätigkeit des Klägers ist Bereitschaftsdienst im Sinne vorstehender Definition, da sich dieser während der als Bereitschaftsdienst bezeichneten und vergüteten Zeit auf Anordnung der Beklagten im Zustand nicht notwendigerweise wacher Achtsamkeit in einem speziellen Bereitschaftsdienstzimmer der Beklagten bzw. Notarztzimmer aufhält und bei Bedarf seine Tätigkeit als Assistenzarzt bzw. Notarzt unverzüglich aufnimmt. Er kann in den Zeiten ohne Inanspruchnahme z. B. lesen oder schlafen, ist aber ortsgebunden.

II. Nach bisheriger Meinung ist der unter Ziff. I. definierte Bereitschaftsdienst keine Arbeitszeit (vgl. statt vieler Wank, Erfurter Kommentar, 2. Aufl., § 2 ArbGG, Rn. 50; Baeck/Deutsch, Arbeitszeitgesetz, § 5, Rn. 6 ff.). Dies hat das Bundesarbeitsgericht mehrfach – allerdings für den vergütungsrechtlichen Aspekt in Hinblick auf Tarifverträge – entschieden (BAG, Urteil vom 10.06.1959, AP Nr. 5 zu § 7 AZO; BAG, Urteil vom 27.02.1985, AP Nr. 12 zu § 17 BAT; BAG, Urteil vom 30.01.1996, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge DRK; BAG, Urteil vom 19.07.1997, zitiert nach Juris und zuletzt BAG, Urteil vom 20.11.2000, NZA 2001, 451 ff.), wobei es zur Kennzeichnung des Bereitschaftsdienstes ausführt, dass solcher Dienst lediglich eine Aufenthaltsbeschränkung darstelle verbunden mit der Verpflichtung, bei Bedarf unverzüglich tätig zu werden. Das Bundesverwaltungsgericht (Entscheidung vom 19.01.1988, EzBAT SR 2 t Bereitschaftsdienst Nr. 1) stellt bzgl. der AZO (Vorgängergesetz zum Arbeitszeitgesetz) auf das Maß der Bindung und der Belastung und der konkreten Ausprägung des Bereitschaftsdienstes ab.

Diese Sicht ist bei systematischer Auslegung gedeckt durch die Erwähnung der Bereitschaftsdienste in § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 2 ArbZG. Danach können Kürzungen in Ruhezeiten durch Inanspruchnahme während des Bereitschaftsdienstes ausgeglichen werden. Daraus folgt, dass Bereitschaftsdienste zur Ruhezeit zählen, aber nicht die Zeiten der tatsächlichen Inanspruchnahme. Weiter hat die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung (Seite 25 der Bundestagsdrucksache 12/5888) gerade ausgeführt, dass Arbeitsleistungen in Anschluss an Bereitschaftsdienste erbracht werden können, was nur möglich ist, wenn Bereitschaftsdienste aus Sicht des Gesetzgebers grundsätzlich als Ruhezeit und nicht als Arbeit verstanden werden.

III. Der unter II. dargestellte enge Arbeitszeitbegriff ist unter dem Gesichtspunkt einer richtlinienkonformen Auslegung (2.) nicht haltbar (wie hier wohl auch Neumann/Biebl, Arbeitszeitgesetz, 13. Aufl., § 7 Rn. 10, 12). Das Arbeitszeitgesetz stellt eine Umsetzung der Richtlinie 93/104 der EU dar (1.). Der Arbeitszeitbegriff der Richtlinie beinhaltet Bereitschaftsdienstzeiten und nicht nur solche tatsächlicher Inanspruchnahme (3.). Der weite Arbeitszeitbegriff findet auch auf den die Richtlinie auf nationaler Ebene umsetzenden § 2 ArbZG Anwendung, da sich aus der Systematik des Arbeitszeitgesetzes keine Bezugnahme auf die Ausnahmevorschrift des Art. 17 der Richtlinie ergibt (4.). Schließlich konnte das Gericht diese Auslegung vornehmen, ohne die Sache dem EuGH vorzulegen (5.). Die richtlinienkonforme Auslegung ist im Übrigen mit dem Text des Arbeitszeitgesetzes nicht unvereinbar (6.).

1. Das Arbeitszeitgesetz ist eine Umsetzung der EU-Richtlinie 93/104 in Nationales Recht. Zwar ist das Gesetz in etwa zeitgleich mit der Richtlinie erarbeitet worden; die Begründung der Bundesregierung nimmt auch Bezug auf die Richtlinie (Seite 19 der Gesetzesbegründung, BT-Drucksache 12/5888). Tatsächlich stammt die Richtlinie vom 23. Nov. 1993 und das Arbeitszeitgesetz vom 06. Juni 1994. Die Bundesregierung hat in einer Antwort auf die große Anfrage Arbeitszeitflexibilisierung (Bundestagsdrucksache 13/2581) das Arbeitszeitgesetz als Umsetzung der Richtlinie 93/104 bezeichnet. Das Arbeitszeitgesetz verliert im Übrigen nicht seinen Charakter als Umsetzung, wenn einzelne Vorgaben auf den ersten Blick nicht richtig umgesetzt worden sind. Die Umsetzung ist zunächst im Lichte der Richtlinie auszulegen.

2. Das Gemeinschaftsrecht geht dem nationalen Recht vor (vgl. unter Bezugnahme auf Rechtsprechung insbesondere auch zur Herleitung den Überblick von Wißmann, Erfurter Kommentar, 2. Aufl., Vorbemerkung zum EG-Vertrag, Rn. 13). Daraus leitet sich ab, dass auch die nationalen Gerichte innerstaatliches Recht so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien auszurichten haben. Dies gilt unabhängig davon, ob das nationale Recht jünger oder älter als die Richtlinie ist oder ob der Gesetzgeber überhaupt eine Umsetzung bezweckt hat (vgl. Wißmann, a.a.o. unter Bezugnahme auf EuGH- und BAG-Rechtsprechung, vgl. auch EuGH vom 03. Okt. 2000, C-303/98, Ziff. 44 f).

3. Der Arbeitszeitbegriff des Art. 2 Ziff. 1 der Richtlinie 93/104 beinhaltet auch Bereitschaftsdienstzeiten im Sinne der unter I. vorgenommenen Definition, wie sie vom Kläger geleistet werden. Der EuGH hat dies für Bereitschaftsdienstzeiten in Spanien festgestellt (EuGH, a.a.o., Ziff. 52) und dabei insbesondere auf das zweckbestimmte Aufhalten am Arbeitsplatz sowie die Verfügbarkeit abgestellt (Ziff. 48). Der Sinn und Zweck der Richtlinie wäre gefährdet, wenn Bereitschaftsdienste in Form persönlicher Anwesenheitszeiten nicht unter dem Begriff Arbeitszeit fielen (Ziff. 49).

Ein entscheidender Unterschied zwischen der spanischen Situation und der vorliegenden deutschen kann das Gericht nicht erkennen: In beiden Fällen wurden Ärzte neben der regelmäßigen Arbeitszeit zu weiteren Diensten mit der Auflage der persönlichen Anwesenheit und unverzüglicher Einsatzbereitschaft herangezogen. Die Behauptung, dass die spanischen Ärzten während der Bereitschaftsdienste zu 100 % tätig werden müssten, findet in der EuGH-Entscheidung keine Stütze, im Gegenteil, der EuGH berücksichtigt ausdrücklich die Variabilität der tatsächlichen Inanspruchnahme (Ziff. 48 a.E.).

Der Umstand, dass Spanien keine ausdrückliche Umsetzung aufweist, spielt keine Rolle. Abgesehen davon, dass auch das deutsche Arbeitszeitgesetz nicht ausdrücklich als Richtlinienumsetzung definiert wird, ist jedes Recht an der Richtlinie zu messen (vgl. auch Ziff. 44 f des EuGH-Urteils vom 03.10.2000).

Nicht erheblich ist der Unterschied, dass Bereitschaftsdienste nach spanischem Recht offenbar als Arbeitszeit verstanden werden (Ziff. 24 des EuGH-Urteils vom 03.10.2000) nicht dagegen in Deutschland. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass der EuGH in seiner Entscheidung den Arbeitszeitbegriff der Richtlinie von der nationalen Definition desselben ableitete. Die Richtlinie liefe dann leer, denn der nationale Gesetzgeber hätte es in der Hand, die Arbeitszeit so zu definieren, dass sämtlicher Schutz der Richtlinie leerliefe. Bezeichnender Weise findet sich deshalb in der Urteilsbegründung in Ziff. 52 auch keinerlei Einschränkung diesbezüglich. Sie wäre auch nicht mit Sinn und Zweck der Richtlinie vereinbar (Ziff. 49).

Aus der Auslegung des Arbeitszeitbegriffs in Art. 2 Ziff. 1 der Richtlinie, wie vom EuGH vorgenommen, welcher sich die Kammer anschließt, ergibt sich, dass § 2 ArbZG grundsätzlich ebenfalls, nämlich richtlinienkonform, dahingehend auszulegen ist, dass Bereitschaftsdienstzeiten Arbeitszeit sind.

4. Das Arbeitszeitgesetz lässt keine Inanspruchnahme der Ausnahmevorschrift des Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 93/104 erkennen.

Der nationale Gesetzgeber kann von Vorschriften der Richtlinie gemäß Art. 17 Abs. 2 abweichen, muss dies aber nicht tun. Die nationalen Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes sind an Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie auch dann zu messen, wenn es an nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie fehlt (vgl. EuGH, a.a.o., Ziff. 44).

Ausdrücklich hat der Gesetzgeber von Art. 17 der Richtlinie keinen Gebrauch gemacht. Auch aus der Gesetzesbegründung und der Stellungnahme der Bundesregierung zur großen Anfrage Arbeitszeitflexibilisierung (a.a.o.) geben dafür nichts her, die Bundesregierung geht lediglich davon aus, mit dem Arbeitszeitgesetz in vollem Umfang der Richtlinie entsprochen zu haben (was nicht zutrifft).

Die Voraussetzung des Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie erfüllt das Arbeitszeitgesetz auch nicht in anderer Weise, wobei zu unterscheiden ist, ob sich eine Bezugnahme auf Art. 17 aus dem Arbeitszeitgesetz, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch aus der Systematik heraus ergibt oder ob Art. 17 Abs. 2 grundsätzlich eine abweichende Arbeitszeitdefinition des nationalen Gesetzgebers rechtfertigt.

Bereits ersteres ist vorliegend nach Überzeugung der Kammer nicht der Fall:

§ 5 Abs. 3 ArbZG, § 7 Abs. 2 Ziff. 1 ArbZG geht über Art. 3 der Richtlinie (11 Stunden Ruhezeit) hinaus, in dem die Vorschrift Unterbrechungen bzw. auch Verkürzungen der Ruhezeit zulässt. Insofern wird Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie in Anspruch genommen, zumal der Kreis der Betroffenen (Gesundheitsbereich) mit dem in Art. 17 Abs. 2 Ziff. 2.1 c) übereinstimmt. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass über diesen Aspekt hinausgehend eine besondere abweichende Definition der Arbeitszeit unter Inanspruchnahme der Ausnahmevorschriften des Art. 17 Abs. 2 ArbZG gewollt ist, denn § 5 Abs. 3 ArbZG setzt den überkommenden Arbeitszeitbegriff voraus. Folgerichtig befindet sich die Vorschrift in Zusammenhang mit der Regelung der Ruhezeit und nicht etwa in § 2 ArbZG (Begriffsbestimmung der Arbeitszeit).

Im Übrigen ist nach bisherigen Auffassung Bereitschaftsdienst ganz allgemein keine Arbeitszeit und ist nicht etwa beschränkt auf den Gesundheitsbereich, wohingegen der Anwendungsbereich des Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie auf bestimmte Bereiche begrenzt ist.

Schließlich erwähnt das Arbeitszeitgesetz in § 1 Ziff. 1 ausdrücklich die gleichen Ziele wie die Richtlinie (vgl. EuGH, a.a.o., Ziff. 49). Insofern ist es fernliegend, dass das Arbeitszeitgesetz in bewusster Abgrenzung zum Sinn und Zweck der Richtlinie und deren Auslegung durch den EuGH sich hinsichtlich einer allgemeinen Definition auf eine Ausnahmevorschrift beruft, die eine Abweichung von der Definitionsbestimmung in Art. 2 der Richtlinie ausdrücklich gar nicht zulässt und ohnehin nur für bestimmte Sparten also gerade nicht allgemein gilt. Ein Abstellen auf die Vorschrift des Art. 17 Abs. 2 hätte daher im Arbeitszeitgesetz ganz klar zum Ausdruck kommen müssen.

Insofern kommt es nicht darauf an, was die Auslegung hinsichtlich der Reichweite von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie ergibt. Das Gericht merkt nur an, dass der EuGH auf eine Auslegung der nationalen spanischen Vorschriften als Ausnahme im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie noch nicht einmal gekommen ist, was nahegelegen hätte, weil der EuGH sowohl ausdrücklich die Anwendbarkeit von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie trotz fehlender Umsetzung als auch die Bereitschaftsdienstproblematik ausführlich behandelt hat.

5. Die vorstehende auslegende Richtlinie gemäß Ziff. 3) konnte das Arbeitsgericht ohne Vorlage gemäß Art. 234 EG-Vertrag vornehmen, denn die vom Gericht vorgenommene Auslegung entspricht der des EuGH. Eine Vorlage ist dann entbehrlich, wenn der EuGH die Frage schon entschieden hat (Wißmann, a.a.o., unter Bezugnahme auf EuGH- und BAG-Rechtsprechung).

Hinsichtlich Ziff. 4 beruht die Entscheidung des Gerichts auf der Auslegung des nationalen Rechts (das Arbeitszeitgesetz nimmt Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie hinsichtlich der Arbeitszeitbegriffsdefinition weder ausdrücklich noch konkludent bei systematischer Auslegung nicht in Anspruch). Die vom EuGH zu klärende Frage, wie weit die Ausnahmevorschrift des Art. 17 der Richtlinie reicht, ist nicht entscheidungserheblich. Im Übrigen ist fraglich, ob es einer Vorlage zur Klärung dieser Frage bedurfte, wenn der EuGH – obwohl dies entscheidungserheblich war – eine entsprechende weitere Auslegung von Art. 17 nicht etwa verneint, sondern schon gar in Erwägung zieht.

6. Die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Arbeitszeitbegriffs, welcher die Bereitschaftsdienstzeiten als Arbeitszeit versteht, ist mit dem deutschen Arbeitszeitgesetz vereinbar. Das Arbeitszeitgesetz ist also nicht derartig abweichend, dass ein Arbeitszeitverständnis im Sinne der Richtlinie mit dem Wortlaut des Arbeitszeitgesetzes unvereinbart wäre.

Der Arbeitszeitbegriff in § 2 ArbZG ist offen: Arbeitszeit ist die Zeit, während der gearbeitet wird. Was unter Arbeit verstanden wird, ist im Gesetz nicht festgelegt. Insofern kann darunter Bereitschaftsdienst fallen. § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 2 ArbZG offenbaren zwar ein – nicht zutreffendes – abweichendes Arbeitszeitverständnis, setzen dies aber lediglich voraus und definieren es selbst nicht abschließend. Insofern laufen die erwähnten Vorschriften bezüglich des Bereitschaftsdienstes zwar nunmehr leer, was hinzunehmen ist angesichts der typischen Schwierigkeiten bei der Synchronisation von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Streitwertentscheidung auf §§ 3 ff ZPO. Vorliegend handelt es sich zwar um eine vermögensrechtliche Streitigkeit, die Intention des Klägers liegt aber – es ist sogar streitig, ob ihn die Beklagte überhaupt unter voller Anrechnung der Bereitschaftsdienste durchschnittlich über 48 Wochenstunden beschäftigt – im Ideellen. Insofern ist der Regelstreitwert – aufgrund der Schlichtungswirkung für eine Vielzahl von Einzelfällen ohne 20 %igen Abzug – angemessen.

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