LG Waldshut-Tiengen, Az.: 1 O 4/14, Urteil vom 21.07.2014
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine fortlaufende monatliche Berufsunfähigkeitsrente von 1.156,66 €zu zahlen beginnend ab dem 01.11.2013, fällig zum ersten Tag des jeweiligen Kalendermonats, längstens aber bis zum Ablauf der Leistungspflicht aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, VS: … am 31.07.2022 sowie als Nebenforderung 2.251,48 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.01.2014 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger weiterhin ab dem 01.11.2013 für die Dauer der bestehenden Berufsunfähigkeit, längstens aber bis zum Ablauf der Leistungspflicht aus der bei der Beklagten bestehenden Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (VS: …) zu befreien.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die vom Kläger ab dem 01.11.2013 an die Beklagte gezahlten Versicherungsprämien für die Kapitallebens- und Berufsunfähigkeitszusatzversicherung während der Dauer der bestehenden Berufsunfähigkeit des Klägers längstens aber bis zum Ablauf der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung am 31.07.2022 an den Kläger zurückzuerstatten.
4. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Erbringung von Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung und eine Befreiung des Klägers zur Zahlung der Prämien hierfür.
Der Kläger schloss mit der Beklagten einen Vertrag über eine Kapitallebensversicherung und eine Berufsunfähigkeitszusatzversicherung mit Versicherungsbeginn am 01.08.1985, Versicherungsende zum 31.07.2017 und Leistungsende am 31.07.2022. Bei Eintritt der Berufsunfähigkeit zu mindestens 50% war der Kläger von der Beitragspflicht für beide Versicherungen zu befreien und ihm eine monatlich im voraus zu zahlende Berufsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung von Überschüssen und Bewertungsreserven zu zahlen, deren aktuelle Höhe 1.156,66 € beträgt.
Der Kläger, der als selbständiger Schreiner mit eigenem Betrieb tätig war, erlitt am 04.12.2002 einen Arbeitsunfall, aufgrund dessen die Beklagte ihm seither bis zum 31.10.2013 die vereinbarte monatliche Berufsunfähigkeitsrente unter Befreiung von der Betragszahlung gewährte. In der Folgezeit stellte der Beklagte erstmals einen Gesellen und einen Lehrling ein und änderte den Schwerpunkt der Tätigkeit des Betriebs von individueller Möbelfertigung auf Montagetätigkeiten von Fertigteilen, beispielsweise Einbauküchen. Außerdem wurden Bestattungen übernommen, wobei streitig ist, ob diese überwiegend durch den Kläger oder durch seine Ehefrau durchgeführt werden.
Ab dem 01.11.2013 stellte die Beklagte wie mit Schreiben vom 13.09.2013 (AS 41) angekündigt ihre Leistungen ein und forderte die Wiederaufnahme der Beitragszahlungen.
Der Kläger trägt vor, aufgrund seiner fortbestehenden Berufsunfähigkeit sei die Beklagte weiterhin zur Erbringung der vereinbarten Leistungen verpflichtet. Er übe maximal im zeitlichen Umfang von 1/3 eine berufliche Tätigkeit aus, die dem zeitlichen Umfang seiner früheren Tätigkeit entspräche, nämlich zwischen 3 – 3,5 Stunden täglich. Weitere ausgeübte Tätigkeiten aufgrund einer Umorganisation entsprächen nicht seinen vor Eintritt der Berufsunfähigkeit erworbenen Fähigkeiten und Kenntnissen. Zudem habe er während der Berufsunfähigkeit weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten, nämlich eine Abtrennung der oberen Gelenkkappe am rechten Ringfinger und eine Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenks, die zu einer weiteren Minderung seiner Fähigkeiten zur Ausübung der Berufstätigkeit geführt hätten.
Soweit eine Umorganisation seines Betriebs stattgefunden habe, sei es der Beklagten verwehrt, sich hierauf zu berufen, da sie hierauf nicht vor Abgabe des Anerkenntnisses ihrer Leistungspflicht hingewiesen habe. Eine Bestattertätigkeit übe er nicht aus, sondern leiste lediglich Hilfstätigkeiten für die von seiner Ehefrau ausgeübte Bestattertätigkeit.
Zudem rügt der Kläger, dass das Schreiben vom 13.09.2013 nicht den formalen Anforderungen des § 174 Abs.1 VVG entspräche.
Der Kläger beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine fortlaufende monatliche Berufsunfähigkeitsrente von 1.156,66 € zu zahlen beginnend ab dem 01.11.2013, fällig zum ersten Tag des jeweiligen Kalendermonats, längstens aber bis zum Ablauf der Leistungspflicht aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, VS: … am 31.07.2022 sowie als Nebenforderung 2.251,48 € nebst Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger weiterhin ab dem 01.11.2013 für die Dauer der bestehenden Berufsunfähigkeit, längstens aber bis zum Ablauf der Leistungspflicht aus der bei der Beklagten bestehenden Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (VS: …) zu befreien.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die vom Kläger ab dem 01.11.2013 an die Beklagte gezahlten Versicherungsprämien für die Kapitallebens- und Berufsunfähigkeitszusatzversicherung während der Dauer der bestehenden Berufsunfähigkeit des Klägers längstens aber bis zum Ablauf der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung am 31.07.2022 an den Kläger zurückzuerstatten.
Die Beklagte beantragt, Klagabweisung.
Sie trägt vor, sie sei aufgrund einer Veränderung der Verhältnisse nicht mehr zur Erbringung der Leistungen aus dem Versicherungsvertrag verpflichtet. Der Kläger habe nämlich zum einen organisatorische Veränderungen in seinem Betrieb vorgenommen, durch die sich bei einem Ausbau der von ihm übernommenen Verwaltungstätigkeit eine Reduzierung der körperlichen Arbeiten ergeben habe, zum anderen betreibe er und nicht seine Ehefrau seit 2006 ein Bestattungsinstitut. Dies habe dazu geführt, dass sich seine Einkünfte seit 2001 mehr als verdoppelt hätten. Damit sei der Grad der Berufsunfähigkeit auf deutlich unter 50% gesunken.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12.05.2014 (AS 121 f) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, insbesondere bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit des Feststellungsantrags, da zu erwarten ist, dass die Beklagte auf ein Feststellungsurteil hin zur Leistung bereit sein wird.
Die Klage ist auch begründet. Aufgrund seiner Berufsunfähigkeit hat der Kläger Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung und Befreiung von den Versicherungsbeiträgen.
1.
Zwar ist es der Beklagten nicht verwehrt, sich auf eine Änderung der Verhältnisse zu berufen, obwohl sie durch die vorbehaltlosen Zahlungen seit dem Arbeitsunfall ein konkludentes Anerkenntnis ihrer Leistungspflicht abgegeben hat. Durch das Anerkenntnis wird der Beklagten nämlich nur die Möglichkeit genommen, den Kläger auf vergleichbare Arbeiten zu verweisen, ausgeschlossen ist also nur die Berufung auf eine Verweisungsmöglichkeit, die bereits zum Zeitpunkt des Anerkenntnisses vorlag, aber nicht wahrgenommen wurde.
Dabei übersieht das Gericht nicht, dass bei einem Selbständigen die Möglichkeit der Umorganisation seiner Tätigkeit zum ausgeübten Beruf gehört und nicht zu einer Verweisungstätigkeit (vgl. LG Dortmund, Urteil v. 29.05.2008, 2 O 20/08, zitiert nach juris), also im Regelfall von einem Anerkenntnis erfasst wird. Dies gilt indes dann nicht, wenn der Kläger nicht verpflichtet war, eine solche Umorganisation vorzunehmen, sodass die Beklagte ihn im Zeitpunkt des Anerkenntnisses nicht hierauf verweisen konnte. In diesem Fall kann die Beklagte grundsätzlich eine Umorganisation zu einem späteren Zeitpunkt zum Nachteil des Klägers berücksichtigen, da dies zum Zeitpunkt des Anerkenntnisses noch nicht möglich war.
Die Umorganisation erforderte hier nicht nur einen Wechsel des Klägers von überwiegend handwerklicher und gestalterischer Tätigkeit zu allein organisatorischen und überwachenden Tätigkeiten, sondern darüber hinaus die Einstellung von vorher nicht vorhandenen Mitarbeitern und die Änderung des Tätigkeitsfeldes. Eine derart grundlegende Umstrukturierung geht über eine zumutbare Umorganisation, die der Versicherer verlangen kann, hinaus, da sich nicht nur das Berufsbild ändert, sondern auch neue unternehmerische Risiken übernommen werden müssen. Es werden nicht vorhandene Betriebsabläufe geändert, sondern völlig neue Tätigkeitsfelder eingeführt.
Die Beklagte wäre daher seinerzeit nicht berechtigt gewesen, den Kläger, der als selbständiger Schreinermeister im Innenausbau tätig war, auf den Einbau von Fertigteilen und eine Tätigkeit als Bestatter zu verweisen, unabhängig davon, ob sich die Bestattungsarbeiten auf bloße Hilfstätigkeiten beschränken.
Die Bindungswirkung des Anerkenntnisses steht daher hier einer Leistungseinstellung wegen geänderter Umstände nicht entgegen.
2.
Jedoch berechtigt die Umorganisation eines Betriebs durch einen Selbständigen den Versicherer nur dann zu einer Leistungseinstellung, wenn die nunmehr ausgeübte Tätigkeit nach Art, Umfang und sozialer Wertschätzung mit der ursprünglichen vergleichbar ist. Dies ist hier nicht der Fall. Es handelt sich bei der derzeit von dem Kläger ausgeübten Tätigkeit nicht um eine mit der ursprünglichen Berufsausübung vergleichbare Tätigkeit, da die soziale Wertschätzung für die zunächst ausgeübte Tätigkeit nicht mit der Wertschätzung für die heute ausgeübte Tätigkeit vergleichbar ist.
Die zunächst von dem Kläger ausgeübte Tätigkeit als selbständiger Schreiner im Innenausbau ist von einem hohen Anteil an kreativen Elementen geprägt. Es waren nach den Vorstellungen des Kunden eigene individuelle Entwürfe zu fertigen und herzustellen, bei denen der Kläger eigene Vorstellungen und Ideen einzubringen und handwerklich umzusetzen hatte.
Die derzeitige Tätigkeit ist hingegen zum einen davon geprägt, dass der Kläger nicht mehr oder kaum noch selbst handwerklich tätig ist, und zum anderen vorgefertigte und normierte Teile aus einer industriellen Massenherstellung verwendet werden.
Die gesellschaftliche Wertschätzung, die der ursprünglichen Tätigkeit entgegengebracht wird, und die die Lebensstellung des Klägers prägte, beruht gerade darauf, dass es sich nicht um eine Massenfertigung handelt, sondern um die Herstellung von Einzellösungen, für die neben handwerklichem Geschick auch gestalterische Fähigkeiten erforderlich sind. Dies wird auch nicht dadurch kompensiert, dass der Kläger nunmehr über ein höheres Einkommen verfügt und gegenüber zwei Mitarbeitern Leitungsfunktionen ausübt, da dies in der sozialen Wertschätzung von untergeordneter Bedeutung ist. Das soziale Prestige gerade eines Handwerkers orientiert sich nicht maßgeblich an dem wirtschaftlichen Erfolg oder der Anzahl der Mitarbeiter, sondern an der ausgeübten Tätigkeit, wobei gerade der kreativen individuellen Ausführung handwerklicher Arbeiten eine besondere Wertschätzung zukommt, während demgegenüber die bloße Montage von Standardteilen, die deutlich weniger Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert, als geringerwertig eingeschätzt wird.
Erst recht gilt dies für eine Tätigkeit als Bestatter, selbst wenn diese nicht nur im Rahmen der Erbringung von Hilfstätigkeiten erfolgt. Das Berufsbild eines Bestatters unterscheidet sich derart grundlegend von der individuellen Möbelherstellung, dass auch hier keine Vergleichbarkeit gegeben ist. Insbesondere die gesellschaftliche Wertschätzung, die auf den handwerklichen Fähigkeiten und Kenntnissen beruht, entfällt hier, ebenso der Respekt, der den kreativen und gestalterischen Fähigkeiten, wie sie der Planung eines Innenausbaus zugrunde liegen, entgegen gebracht wird.
3.
Es kann dahinstehen, ob das Schreiben der Beklagten den formellen Anforderungen des § 174 Abs.1 VVG genügte, da die Leistungseinstellung jedenfalls aus materiellen Gründen nicht zulässig war.
4.
Die Beklagte ist daher verpflichtet, weiterhin die vereinbarten Versicherungsleistungen zu erbringen und den Kläger von der Beitragspflicht freizustellen. Soweit der Kläger ohne hierzu verpflichtet zu sein die Beiträge gezahlt hat, sind diese von der Beklagten gemäß § 812 Abs.1 S.1 BGB zurück zu erstatten.
Da sich die Beklagte mit den Zahlungen aus der Versicherung, die jeweils zu einem festen Kalendertag fällig waren, in Verzug befand, hat sie zudem die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers nebst Zinsen in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 und 709 ZPO.