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Besuchsverbot Obdachlosenunterkunft während Corona-Pandemie

VG Stuttgart – Az.: 16 K 1941/20 – Beschluss vom 20.04.2020

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1. Der am 16.04.2020 gestellte Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hat keinen Erfolg.

a. Der Antrag ist zwar gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO zulässig.

Das Gericht legt den Antrag des Antragstellers sachdienlich gemäß §§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO dahingehend aus, die aufschiebende Wirkung des am 16.04.2020 erhobenen Widerspruchs gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 15.04.2020 anzuordnen. Bei der E-Mail der Antragsgegnerin vom 15.04.2020 handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 LVwVfG, denn in dieser wird dem Antragsteller aufgegeben, die Obdachlosenunterkunft (…) nicht zu betreten, also ein Besuchsverbot erlassen. Ob in dem von der Antraggegnerin in der Obdachlosenunterkunft zudem ausgehängten „Hinweis“ zum Besuchsverbot ebenfalls ein Verwaltungsakt gesehen werden kann, kann insofern dahinstehen. Der Verwaltungsakt wurde dem Antragsteller auch durch die E-Mail der Antragsgegnerin im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 1 3. Alt. LVwVfG wirksam bekannt gegeben. Da zudem nach §§ 28 Abs. 3 i.V.m. 16 Abs. 8 IfSG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs entfällt, ist der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach §§ 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt., Abs. 2 Nr. 3 VwGO statthaft.

b. Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Besuchsverbot Obdachlosenunterkunft während Corona-Pandemie
Symbolfoto: Von Drop of Light/Shutterstock.com

Die im Eilverfahren zu treffende Entscheidung beruht auf einer durch das Gericht vorzunehmenden Interessenabwägung. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs gegen das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts. Das Gewicht dieser gegenläufigen Interessen wird entweder vornehmlich durch die summarisch zu prüfenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache oder – insbesondere wenn die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs offen erscheinen – durch eine Folgenabwägung bestimmt. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung; ist er offensichtlich rechtmäßig, hat regelmäßig das – unabhängig davon zu belegende – öffentliche Interesse an der Vollziehung Vorrang. Im Rahmen der Folgenabwägung sind die voraussichtlichen Folgen des Suspensiveffekts einerseits und der sofortigen Vollziehung andererseits zu gewichten. Maßgebend sind insoweit nicht nur die Dringlichkeit des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung sowie Natur und Schwere der mit dem Eingriff für den Antragsteller verbundenen Belastungen, sondern auch die Möglichkeit, die jeweiligen Folgen der Maßnahme rückgängig zu machen.

Gemessen hieran geht das Gericht nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung davon aus, dass der Widerspruch des Antragstellers keinen Erfolg haben wird (aa.). Selbst wenn man von offenen Erfolgsaussichten ausginge, führt die erforderlichen Abwägung der gegenläufigen Interessen zu einem Vorrang des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung der Verfügung (bb.).

aa. Die angegriffene Verfügung der Antragsgegnerin vom 15.04.2020 ist aller Voraussicht nach rechtmäßig.

(1) Bedenken an der formellen Rechtmäßigkeit bestehen nicht. Insbesondere ist die Antragsgegnerin für den Erlass des Besuchsverbots zuständig. Denn gemäß § 1 Abs. 6 Satz 1 der Verordnung des baden-württembergischen Sozialministeriums über Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz ist für Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG die Ortspolizeibehörde, mithin die Antragsgegnerin gemäß § 62 Abs. 4 Satz 1 GemO, zuständig. Da der Antragsteller zudem mit seiner E-Mail vom 14.04.2020 Gelegenheit zur Stellungnahme hatte, ist eine ordnungsgemäße Anhörung nach § 28 Abs. 1 LVwVfG erfolgt. Im Übrigen darf von der Anhörung nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. LVwVfG abgesehen werden, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls nicht geboten ist, weil eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug – wie hier – notwendig erscheint.

(2) Die streitgegenständliche Verfügung der Antragsgegnerin ist aller Voraussicht nach auch materiell rechtmäßig.

(a) Zwar ergibt sich für das Besuchsverbot der Antragsgegnerin keine Ermächtigungsgrundlage aus der Verordnung der baden-württembergischen Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – Corona-VO) vom 17. März 2020 in der Fassung der vierten Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 9. April 2020. Denn Obdachlosenunterkünfte sind nicht von den in § 6 Corona-VO genannten Einrichtungen erfasst. Sie fallen weder unter die von § 6 Abs. 1 Corona-VO i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 3-5 IfSG erfassten oder von § 6 Abs. 2 Corona-VO genannten stationären Einrichtungen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf oder mit Behinderung sowie ambulant betreute Wohngemeinschaften nach dem Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz.

(b) Allerdings durfte das Besuchsverbot der Antragsgegnerin auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden.

Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Sie kann dabei unter anderem Personen verpflichten, von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.

(aa) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt.

Dass Kranke, Krankheitsverdächtige oder Ansteckungsverdächtige im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 1. HS. IfSG bereits festgestellt sind, steht vorliegend außer Frage. Auch ist zur Erfüllung dieses Tatbestandsmerkmals nicht erforderlich, dass die Kranken, Krankheitsverdächtigen oder Ansteckungsverdächtigen in der Einrichtung festgestellt worden sind, denn § 28 Abs. 1 IfSG dient auch der Verhinderung der Übertragung auf bisher nicht erkrankte Personen, also ebenfalls präventiven Zwecken und ermächtigt nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers auch zu Maßnahmen gegen Nichtstörer (siehe hierzu ausführlich VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 09.04.2020 – 1 S 925/20 – S. 10 f.; BVerwG, Urteil v. 22.03.2012 – 3 C 16.11 – juris Rn. 36; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz Kommentar, 3. Auflage 2020, § 28, Rn. 18). Dass also in der Obdachlosenunterkunft bisher womöglich keine Kranken, Krankheitsverdächtigen oder Ansteckungsverdächtige vorhanden sind, ist unschädlich, denn allein im Landkreis Ludwigsburg, zu dem … gehört, sind bisher 1.392 Infektions- und 38 Todesfälle bekannt (https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4/page/page_ 1/). Indem die Antragsgegnerin dem Antragsteller verboten hat, die Obdachlosenunterkunft zu betreten, hat sie zudem auch eine von § 28 Abs. 1 Satz 1 2. HS. IfSG ausdrücklich vorgesehene Maßnahme, den Erlass eines Besuchsverbots, getroffen.

(bb) Die Antragsgegnerin hat zudem aller Voraussicht nach das ihr zustehende Auswahlermessen hinsichtlich der Frage, wie – im Rahmen der ihr obliegenden Verpflichtung im Sinne einer gebundenen Entscheidung (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 09.04.2020 – 1 S 925/20 – S. 11) zum Ergreifen der notwendigen Maßnahmen – gehandelt werden kann, also welche Maßnahmen von ihr ergriffen werden können, in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt, § 114 VwGO. Es dürfte rechtlich nicht zu beanstanden sein, dass die Antragsgegnerin vor dem Hintergrund der hohen Infektionsgefahr mit dem SARS-Cov-2-Virus dem Schutz von Gesundheit und Leben der Bewohner und Bediensteten der Obdachlosenunterkunft nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie der Verhinderung einer weiteren Verbreitung des SARS-Cov-2-Virus in der Bevölkerung Vorrang gegenüber dem von Art. 2 Abs.1 GG geschützten Interesse des Antragstellers, seine Lebensgefährtin in den letzten Wochen der Schwangerschaft, etwa bei Einkäufen oder der Betreuung der zwei Kinder der Lebensgefährtin des Antragstellers, zu unterstützen, Vorrang eingeräumt hat. Dem Antragsteller ist es weder verwehrt, die Kinder der Lebensgefährtin, jedenfalls einzeln, abzuholen und sich mit diesen außerhalb der Obdachlosenunterkunft aufzuhalten, noch Einkäufe zu erledigen, um die hochschwangere Lebensgefährtin zu entlasten. Dass der Antragsteller hierfür die Obdachlosenunterkunft zwangsläufig betreten oder in dieser dauerhaft leben muss, ist für das Gericht nicht ersichtlich. Ergänzend sei auch darauf verwiesen, dass der Aufenthalt des Antragstellers seiner Aufenthaltsgestattung nach ohnehin nur auf den Hochtaunuskreis beschränkt und im sonstigen Bundesgebiet lediglich vorübergehend erlaubt ist.

Soweit der Antragsteller vorbringt, die Wohnung der Lebensgefährtin sei zugänglich, ohne dass Kontakt mit anderen Bewohnern der Obdachlosenunterkunft aufgenommen werden müsste, ergibt sich hieraus nichts anderes. Zum einen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Lebensgefährtin des Antragstellers oder deren Kinder, mit denen der Antragsteller jedenfalls im ständigen Kontakt wäre, überhaupt keinen Kontakt zu anderen Bewohnern oder Bediensteten der Obdachlosenunterkunft hat, sei es nur bei der Benutzung von Gemeinschaftsräumen oder bei der absehbar notwendig werdenden Unterstützung der Lebensgefährtin des Antragstellers im Rahmen der Entbindung des zu erwarteten Kindes. Zum anderen besteht jedenfalls auch bei der Lebensgefährtin des Antragstellers, die ausweislich ihres Mutterpasses an HIV leidet, und dem ungeborenen Baby, ein erhebliches Infektions- und Gesundheitsrisiko infolge des SARS-Cov-2-Virus, das es auch durch den Antragsteller, der einen Anfahrtsweg von seiner Unterkunft mit öffentlichen Verkehrsmitteln von über zwei Stunden hat, zu vermeiden gilt.

bb. Selbst wenn man den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen ansehen würde, ergibt auch die sodann vorzunehmende Folgenabwägung kein anderes Ergebnis. Denn das überragend wichtige Interesse am Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG führt zu einem Vorrang des öffentlichen Interesses vor den privaten Interessen des Antragstellers.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

3. Der Streitwertbeschluss folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen. Wie sich aus Vorstehendem ergibt, besteht keine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung im Sinne des § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO.

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