LAG Berlin-Brandenburg
Az: 2 Sa 509/10
Urteil vom 16.09.2010
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 04.02.2010 – 24 Ca 12088/09 – geändert:
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 23.06.2009 nicht aufgelöst ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu unveränderten Bedingungen als Mitarbeiterin Service- Team weiterzubeschäftigen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung seitens der Beklagten vom 23.06.2009, die hilfsweise mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2009 ausgesprochen wurde.
Die 1951 geborene Klägerin steht bei der Beklagten, einem Unternehmen des Bahnverkehrs, seit dem 01.09.1968 in einem Arbeitsverhältnis; zuletzt war sie als Zugansagerin im Bahnhof S. gegen ein Bruttomonatsentgelt von rund 2.000,00 € tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag Schiene Anwendung; nach dessen Regelungen ist das Arbeitsverhältnis der Klägerin ordentlich nicht mehr kündbar.
Bei der Beklagten besteht eine Konzernrichtlinie (Bl. 47, 48 d. A.), derzufolge u.a. die Bewirtung von Mitarbeitern im Rahmen einer Feier aus Anlass eines u.a. 40-jährigen Dienstjubiläums zulässig ist und die Beklagte Aufwendungen hierzu übernimmt. Für eine solche Feier war dies ein Betrag bis zu 250,00 €. Aufwendungen, welche die in der Tabelle genannten Beträge überschritten, wurden nach diesen Richtlinien von der Beklagten nicht übernommen. Die Klägerin war von der kaufmännischen Administratorin der Beklagten auf die Regelung zum Zuschuss bei Jubiläen hingewiesen worden.
Am 01.09.2008 feierte die Klägerin ihr 40-jähriges Dienstjubiläum; aus diesem Anlass führte sie am 17.09.2008 eine Jubiläumsfeier im Kollegenkreis durch, durch die ihr Kosten in Höhe von 83,90 € entstanden sind. Am 22.09.2008 legte die Klägerin der Beklagten eine Quittung (Bl. 25 d. A.) der Firma S. (F. T. E.) über 250,00 € für „Speisen und Getränke“ vor. Diese Quittung, der keine tatsächlich erbrachten Leistungen zugrunde lagen, war ihr von einer Bekannten, Frau M., besorgt worden, die Mitarbeiterin im Reisezentrum eines Schwesterunternehmens der Beklagten ist. Die Klägerin behauptete der Beklagten gegenüber, dass es sich bei der Quittung um diejenige für die Kosten der Jubiläumsfeier handele und ließ sich den Betrag von der Beklagten auszahlen. Im Rahmen einer bei der S. im Mai 2009 durchgeführten Revision wurde festgestellt, dass dort Quittungen ohne Leistungen ausgegeben worden waren. Potentielle Empfänger wurden seitens der S. über diesen Umstand informiert. Am 09.06.2009 erfolgte eine Mitteilung der S. an die Beklagte, dass die von der Klägerin eingereichte Quittung über 250,00 € ohne tatsächlichen Kauf erstellt worden war. Diese Information erfolgte an den Bahnhofsmanager S., Herrn X. In der Mitteilung (Bl. 26 d. A.) hieß es, dass die Quittung auf Bitte von Frau M. ausgestellt worden sei, diese habe den Wunsch nach einer solchen Quittung damit begründet, dass sie bzw. andere Mitarbeiter der D. täglich Kunden seien und in Summe Einkäufe in den genannten Beträgen in der zurückliegenden Zeit getätigt hätten.
Am 18.06.2009 wurde mit der Klägerin ein Personalgespräch geführt, an welchem der Bahnhofsmanager, zwei Personalreferentinnen der Beklagten und die Betriebsratsvorsitzende teilnahmen. Das diesbezügliche erstellte Protokoll (Bl. 27 d. A.) wurde von der Klägerin mit unterzeichnet; es weist aus, dass die Klägerin zugegeben hat, dass sie eine Rechnung der Fa. S. eingereicht hatte. Die Rechnung der S. habe sie über Frau M. erhalten; sie habe von Frau H. gewusst, dass für die Ausgestaltung der Feier bis zu 250,00 € zur Verfügung stünden. Am Folgetage legte die Klägerin dann der Beklagten die Rechnung über einen Betrag von 83,90 € (Bl. 28 d. A.) vor, welche die ihr tatsächlich entstandenen Bewirtungskosten auswies.
Mit Datum vom 19.06.2009 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu einer beabsichtigten fristlosen, hilfsweise unter Einhaltung einer sozialen Auslauffrist auszusprechenden Kündigung an (Bl. 22 ff. d. A.). Das Anhörungsschreiben wurde der Sekretärin des Betriebsrats am 19.06.2009 gegen 13:20 Uhr übergeben, gegen 15:30 Uhr wurde dem Betriebsratsmitglied Frau B. ein gleiches Exemplar überreicht. Die Betriebsratsvorsitzende und deren Stellvertreterin waren zu diesem Zeitpunkt im Urlaub. Mit Beschluss vom 22.06.2009 teilte der Betriebsrat der Personalleiterin der Beklagten mit , dass er dem Kündigungsbegehren nicht zustimmen könne (Bl. 34 ff. d. A.).
Mit Schreiben vom 23.06.2009 (Bl. 4 d. A.), welches der Klägerin am gleichen Tage zuging, sprach die Beklagte eine Kündigung aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung, vorsorglich unter Einhaltung der einschlägigen tariflichen Kündigungsfrist als sozialen Auslauffrist zum 31.12.2009 unter dem Gesichtspunkt einer Tat- und Verdachtskündigung aus.
Mit der vorliegenden, bei Gericht am 01.07.2009 eingegangenen Klage wendet sich die Klägerin gegen diese Kündigung; erstinstanzlich hat sie vorgetragen, Frau M. habe sie angesprochen und ihr mitgeteilt, dass sie ihr gerne eine Quittung der Firma S. über 250.- € besorgen würde. Bei ihr sei der Eindruck entstanden, dass dies allgemein bei der Beklagten so gehandhabt werde. Die Klägerin hat die Einhaltung der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB ebenso in Frage gestellt wie die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung.
Demgegenüber hat die Beklagte die Auffassung vertreten, die Klägerin habe den Arbeitgeber in strafrechtlich relevanter Weise geschädigt, indem sie wissentlich eine „Scheinrechnung“ zur Erstattung der Kosten der Jubiläumsfeier eingereicht habe. Damit sei ein Festhalten am Arbeitsverhältnis nicht möglich.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird auf die dort gewechselten Schriftsätze und den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen, § 69 Abs. 2 ArbGG.
Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 04.02.2010 die Klage abgewiesen. Die streitgegenständliche Kündigung sei als Tatkündigung wirksam. Das Arbeitsgericht hat die von der Rechtsprechung zu § 626 BGB entwickelten Grundsätze referiert; es hat sodann festgestellt, dass die Klägerin einen Betrug zu Lasten des Arbeitgebers begangen habe. Dabei sei es unerheblich, ob sie Kenntnis von der Konzernrichtlinie gehabt habe und ob die Vorlage einer entsprechenden Quittung „üblich“ sei. Denn keinesfalls habe sie davon ausgehen dürfen, dass sie berechtigt sein solle, die unrichtige Quittung gegenüber dem Arbeitgeber zu verwenden und sich den fraglichen Betrag auszahlen zu lassen. Es handele sich um eine schwere Pflichtverletzung; eine Abmahnung sei entbehrlich gewesen. Im Rahmen der Interessenabwägung sei festzustellen, dass es sich um einen gravierenden Sachverhalt handele, der zu einem tiefen Vertrauensverlust auf Seiten des Arbeitgebers geführt habe. Ungeachtet des Umstandes, dass sie sich im 58. Lebensjahr befinde und 40 Dienstjahre absolviert habe, sei dem Arbeitgeber auch nicht einmal die Einhaltung einer fiktiven Kündigungsfrist zuzumuten gewesen. Hinzu komme, dass die Klägerin auch im Gütetermin hartnäckig die Auffassung vertreten habe, sie selbst habe nichts falsch gemacht; nicht einmal im Kammertermin habe sie Einsicht gezeigt. Die 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei eingehalten gewesen, Fristbeginn sei der 19.06.2009 gewesen. Etwaige frühere Mitteilungen seitens der S. über ausgestellte Quittungen seien noch zu vage gewesen, um von einem Fristbeginn ausgehen zu können. Auch die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß erfolgt. Dem Betriebsrat seien die entsprechenden Kündigungsgründe mitgeteilt worden, teilweise seien diese der Betriebsratsvorsitzenden ohnehin bekannt gewesen. Das Verfahren der Einleitung der Betriebsratsanhörung durch Aushändigung der Unterlagen an Frau B. sei ordnungsgemäß erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 79 ff. f. A.) Bezug genommen.
Gegen dieses am 15.02.2010 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin, die sie mit einem beim Landesarbeitsgericht am 05.03.2010 eingegangenen Schriftsatz eingelegt und mit einem beim Landesarbeitsgericht am 14.04.2010 eingegangenen Schriftsatz begründet hat.
Die Klägerin und Berufungsklägerin rügt in der Berufungsinstanz im Wesentlichen eine fehlerhafte Interessenabwägung durch das Arbeitsgericht. Dieses habe nicht berücksichtigt, dass sie zum Tatzeitpunkt subjektiv nicht davon ausgegangen sei, etwas Rechtswidriges zu tun. Erst in der Folgezeit und nunmehr habe sie selbst die Verwerflichkeit ihres Handelns erkannt. Insofern bestehe gegenwärtig auch keine Wiederholungsgefahr mehr. Sie habe sich im Rechtsirrtum dahin befunden, dass die vorgenommene Verfahrensweise bei der Beklagten so üblich sei. Insofern bestehe keine negative Prognose. Das Vertrauensverhältnis sei nicht völlig zerrüttet, es müsse in Rechnung gestellt werden, dass sie 40 Jahre eine beanstandungsfreie Tätigkeit für die Beklagte ausgeübt habe. Die 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei nicht eingehalten worden, der Bahnhofsmanager sei bereits am 07.05.2009 konkret unter Namensnennung darüber informiert worden, dass unter Umständen Quittungen eingereicht worden seien, denen kein tatsächlicher Kauf zugrunde liege. Die Betriebsratsanhörung sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, insbesondere die Einleitung des Anhörungsverfahrens sei fehlerhaft.
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt,
1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die fristlose Kündigung und auch durch die hilfsweise mit sozialer Auslauffrist ausgesprochene Kündigung der Beklagten zum 23.06.2009 beendet worden sei;
2. im Falle des Obsiegens die Beklagte zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Mitarbeiterin Service-Team weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung und vertritt die Auffassung, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin sei ihr unzumutbar. Die Klägerin habe sich bei ihrem Verhalten nicht in einem Rechtsirrtum befunden, jedenfalls sei dies nicht plausibel vorgetragen worden. Die Ausführungen der Administratorin Frau H. über die Behandlung des Zuschusses bei Jubiläen seien klar und eindeutig dahin erfolgt, dass „bis maximal 250,00 € gegen Vorlage einer Quittung“ erstattet würden. Die Klägerin habe keineswegs annehmen dürfen, die Beklagte dulde die Vorlage unrichtiger Quittungen. Soweit die Klägerin bei ihrer Anhörung den tatsächlichen Geschehensablauf vorbehaltlos bestätigt habe, könne ihr dies nicht ohne Weiteres zugute gehalten werden. Es sei nämlich zu berücksichtigen, dass sie in dem Personalgespräch mit stark belastenden Indizien konfrontiert gewesen sei. Die Klägerin habe den gesamten Vorfall vorsätzlich durchgeführt. Der ihr entstandene Schaden sei hoch, er sei jedenfalls sehr viel höher als es bei den so genannten „Bagatell-Delikten“ der Fall sei. Die Umstände der Tat, insbesondere die Einreichung einer Scheinquittung, belasteten die Klägerin sehr stark. Die Klägerin habe sich auch mit Bedacht für dieses Vorgehen entschieden. Die Interessenabwägung müsse zu ihren Lasten ausfallen. Die 2-Wochen-Frist sei eingehalten worden; eine sichere Kenntnis über die Tatumstände sei bei ihr erst am 19.06.2009 eingetreten, als die Klägerin die Kopie der Originalrechnung über die 83,09 € (tatsächliche Bewirtungskosten) eingereicht habe. Die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß erfolgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Parteivorbringens wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 13.04.2010 (Bl. 102 ff. d. A.) und auf denjenigen der Beklagten vom 23.06.2010 (Bl. 118 ff. d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG, 511 ZPO statthafte Berufung ist form- und fristgerecht im Sinne von §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG, 519 ZPO eingelegt und begründet worden.
Die Berufung ist daher zulässig.
2. Die Berufung hatte in der Sache Erfolg.
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ist durch die streitgegenständliche Kündigung weder sofort noch nach Ablauf der sozialen Auslauffrist aufgelöst worden; deswegen ist die Klägerin zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen.
Zwar hat die Klägerin eine grobe und erhebliche Pflichtwidrigkeit zu Lasten der Beklagten begangen; im Rahmen der Interessenabwägung war jedoch, insbesondere im Hinblick auf eine 40-jährige Betriebszugehörigkeit, ihr Interesse am Festhalten am Arbeitsverhältnis als überwiegend anzuerkennen.
2.1 Es ist im Grundsatz davon auszugehen, dass gemäß § 626 Abs. 1 BGB das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden kann, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vollzieht sich dabei die Prüfung, ob ein gegebener Lebenssachverhalt einen wichtigen Grund darstellt, in zwei Stufen. Zunächst ist zu prüfen, ob gemäß § 626 Abs. 1 ein Umstand vorliegt, der einen „wichtigen Grund“ im Sinne dieser Vorschrift „an sich“ darstellt. Ist dies der Fall, bedarf es in einem weiteren Schritt der Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht.
Dabei ist weiter davon auszugehen, dass strafbare Handlungen zu Lasten des Arbeitgebers oder sonstige grobe Pflichtverletzungen grundsätzlich eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB rechtfertigen können. Ein Arbeitnehmer, der im Zusammenhang mit seiner Arbeitsleistung strafrechtlich relevante Handlungen gegen das Vermögen seines Arbeitgebers begeht, verletzt damit seine arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht schwerwiegend und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen in erheblicher Weise. Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts galt dies auch dann, wenn die rechtswidrige Verletzungshandlung nur Sachen von geringem Wert betroffen hat (BAG vom 11.12.2003 – 2 AZR 36/03 – NZA 2004, 486 : aussortierte Mini-Flaschen Alkohol ; BAG vom 13.12.2007 – 2 AZR 537/06 – NZA 2008, 1008 : Lippenstift ).
Liegt ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich vor, so kann eine hierauf gestützte außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis allerdings nur dann wirksam beendeten, wenn bei einer umfassenden Interessenabwägung das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers überwiegt. Dabei können in die Interessenabwägung einbezogen werden etwaige Unterhaltspflichten und der Familienstand des Arbeitnehmers, wobei dieser bei dem Vorwurf einer Straftat nur geringe Bedeutung hat (BAG vom 16.12.2004 – 2 ABR 7/04 – EzA Nr. 7 zu § 626 BGB 2002). Insbesondere der Dauer des Arbeitsverhältnisses und der beanstandungsfreien Bestandszeit kommt ein besonderes Gewicht zu. Weiter ist zu berücksichtigen, welche Nachteile und Auswirkungen die Vertragspflichtverletzung im Bereich des Arbeitgebers gehabt hat. Auch die Beurteilung der „Tat“ selbst und die Umstände von deren Begehung im Einzelnen spielen hier eine Rolle. Zu Lasten des Arbeitnehmers kann beispielsweise berücksichtigt werden, wenn der Pflichtverstoß einen sensiblen Bereich betrifft, eine fehlende Sanktion durch die Arbeitgeberseite die Gefahr der Nachahmung durch andere Arbeitnehmer verursachen kann und wenn der Arbeitnehmer seinen Pflichtenverstoß zunächst leugnet und dann mehrfach vorsätzlich die Unwahrheit sagt (so noch BAG vom 24.11.2005 – 2 AZR 39/05 – NZA 2006, 484; einschränkend für unwahre Angaben nach Ausspruch der Kündigung nunmehr wohl BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – PM).
2.2 Unter Beachtung und in Anwendung der vorgenannten Grundsätze war im Streitfall zunächst davon auszugehen, dass die Klägerin eine grobe und schwerwiegende Pflichtverletzung ihres Arbeitsverhältnisses dadurch begangen hat, dass sie der Beklagten eine „Gefälligkeitsquittung“ über einen Betrag von 250,00 € mit dem Hinweis vorgelegt hat, es handele sich dabei um die Kosten, die ihr für die Bewirtung der Kolleginnen und Kollegen aus Anlass der Feier ihres 40-jährigen Dienstjubiläums entstanden seien, während sich diese Kosten in Wirklichkeit nur auf 83,90 € belaufen haben. Sie hat sich den über 83,90 € hinausgehenden Betrag mithin durch eine Täuschungshandlung zu Unrecht seitens der Beklagten auszahlen lassen. Dies stellt sich als Betrug gegenüber der Beklagten dar. Die Klägerin war sich des Umstandes, dass sie von der Beklagten mehr Geld erhalten hat, als ihr an Kosten entstanden waren, auch sehr wohl bewusst. Sie hat damit in erheblicher und gröblicher Weise gegen ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten verstoßen. Es steht außer Frage, dass die Klägerin durch dieses Verhalten einen Kündigungsgrund „an sich“ im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB gesetzt hat.
Im Rahmen der sodann anzustellenden Interessenabwägung im Einzelfall haben jedoch – letztlich – angesichts der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Einbußen die zugunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte überwogen.
Dabei ist die Kammer von denjenigen Grundsätzen ausgegangen, die der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 10.06.2010 (BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – PM) in die von ihm selbst vorgenommene Interessenabwägung eingestellt hat.
Zu berücksichtigen war danach zunächst die Beschäftigungszeit der Klägerin. Diese war zum Zeitpunkt des Vorfalles exakt 40 Jahre bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen beschäftigt. Sie hat damit ihr gesamtes Arbeitsleben bei der Beklagten bzw. den Rechtsvorgängerinnen verbracht.
Das Arbeitsverhältnis war bis zu diesem Zeitpunkt ohne rechtlich relevante Störungen verlaufen. Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in seiner Entscheidung vom 10.6.2010 (BAG vom 10.6.2010 -2 AZR 541/09) ausweislich der Pressemitteilung diesbezüglich herausgestellt, dass sich die – dortige – Arbeitnehmerin ein hohes Maß an Vertrauen erworben habe, das durch den atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört worden sei. Im hiesigen Streitfalle war die Beschäftigungszeit der Klägerin noch erheblich länger als diejenige der dortigen Kassiererin. Mithin musste nach der Entscheidung des BAG vom 10.6.2010 davon ausgegangen werden, dass auch im hiesigen Streitfalle die Klägerin sich durch ihre 40-jährige Betriebszugehörigkeit ein solch hohes Maß an Vertrauen erworben hatte, das durch den Kündigungssachverhalt nicht sofort und vollständig verbraucht worden ist. Der hiesige Kündigungsvorfall ist von der Situation her tatsächlich „einmalig“: Es ist nämlich festzustellen, dass die Pflichtwidrigkeit der Klägerin sich nicht auf die von ihr auszuführenden „alltäglichen“ Handlungen bezogen hatte, sondern eine ganz seltene Ausnahmesituation betrafen. Die Feier zum 40-jährigen Dienstjubiläum war ein – im Wortsinne – einmaliger Vorgang und stellte für die Klägerin einen Ausnahmefall dar. Anders als die Kassiererin im Falle der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 10.06.2010 hat die hiesige Klägerin ihr Fehlverhalten mithin nicht im „Kernbereich“ ihrer Tätigkeit begangen, sondern weit außerhalb von diesem. Die Klägerin ist als Zugansagerin beschäftigt und hat – soweit ersichtlich – mit Geldangelegenheiten nichts zu tun. Eine Gefährdung des Vermögens der Beklagten durch ähnliche Handlungen ist mithin im Streitfalle sehr unwahrscheinlich; denn der hier in Rede stehende Vorgang wiederholt sich – anders als bei einer Kassiererin im Supermarkt die Vorgänge an der Kasse – nicht. Er bleibt – wenigstens in der Ausgangssituation – „einmalig“.
Weiterhin war zugunsten der Klägerin in die Interessenabwägung einzustellen, dass sie sogar – anders als die Kassiererin in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 10.06.2010 – den Vorfall bei ihrer Befragung durch den Arbeitgeber unumwunden eingeräumt und somit die Ermittlungsarbeit und Aufklärungsarbeit des Arbeitgebers nicht behindert hat. Es mag sein, dass der Arbeitgeber sie in dem Personalgespräch mit eindeutigen, belastenden Tatsachen konfrontiert hat; dessen ungeachtet bleibt es dabei, dass die Klägerin den Vorgang ohne zu zögern eingeräumt hat. Auch dies ist ein Gesichtspunkt, der jedenfalls nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen und der für die prognostische Betrachtung des Vertrauensverhältnisses und der zukünftigen Entwicklung des Arbeitsverhältnisses von Bedeutung ist. Denn gerade das Verhalten des Arbeitnehmers nach begangener Pflichtwidrigkeit kann diese in unterschiedlichem Licht erscheinen lassen. Geht der Arbeitnehmer offen mit der Pflichtwidrigkeit um, lässt er bei der Befragung durch den Arbeitgeber erkennen, dass er diese bedauert oder dass er diese möglicherweise unbedacht begangen hat, so kann das für die Frage einer möglichen Zusammenarbeit in der Zukunft durchaus eine positivere Prognose zulassen, als wenn der Arbeitnehmer seine Tat beharrlich leugnet, diese zu vertuschen versucht oder gar versucht, andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Anlass in seine eigene Pflichtwidrigkeit „mit hereinzuziehen“. Gerade in letzterem Fall wird die Prognose eher negativ ausfallen, während im ersteren Falle immerhin eine weitere Zusammenarbeit nicht ohne Weiteres als unmöglich erscheinen muss.
Allerdings musste negativ ins Gewicht fallen, dass der von der Klägerin verursachte Schaden, rund 166.- €, eine beträchtliche Höhe hatte. Er war damit nicht mehr als „geringfügig“ anzusehen; er übersteigt sogar deutlich die in der rechtspolitischen Diskussion von einigen propagierte „Bagatellgrenze“. Allerdings musste in diesem Zusammenhang auch die Besonderheit des hier eingetretenen „Schadens“ mit berücksichtigt werden. Die Beklagte hatte sich in der Konzernrichtlinie verpflichtet, für die Feier des 40-jährigen Dienstjubiläums anfallende Bewirtungskosten bis zu einem Betrag von 250,00 € zu tragen. Die Arbeitgeberseite hat damit zu erkennen gegeben, dass sie bereit gewesen wäre, einen Betrag in diesem Umfange zur Verfügung zu stellen; sie hat es der Arbeitnehmerin, die ihr 40-jähriges Dienstjubiläum feierte, damit freigestellt, innerhalb dieser Marge eine Bewirtung vorzunehmen und die Kosten der Beklagten in Rechnung zu stellen. Sie hat den Betrag in Höhe von 250,00 € damit – wenn auch zweckgebunden – „freigegeben“. Hätte die Klägerin Bewirtungskosten im Umfange von 250,00 € tatsächlich verursacht, hätte die Beklagte diesen Betrag ohne Wenn und Aber nach den Konzernrichtlinien übernommen. Die Beklagte hatte auch keinerlei Einfluss darauf genommen, in welchem Umfange und auf welchem Niveau die Klägerin eine Bewirtung ihrer Kolleginnen und Kollegen aus Anlass des 40-jährigen Dienstjubiläums vornehmen würde. Dies bedeutet sicher nicht, dass es der Beklagten quasi „gleichgültig“ gewesen sei, ob die Arbeitnehmerin Bewirtungskosten oder eben nur fiktive Bewirtungskosten geltend machte, wenn nur der Betrag von 250,00 € nicht überstiegen werden würde. Hiervon kann nicht ausgegangen werden, und hiervon konnte auch die Klägerin redlicherweise nicht ausgehen. Indessen kann nicht übersehen werden, dass die nunmehr vorgenommene Belastung der Beklagten im Rahmen eines „rechtmäßigen Alternativerhaltens“ der Klägerin durchaus betragsmäßig ebenfalls hätte erreicht werden können. Auch dies ist im Rahmen der Interessenabwägung zu würdigen. Insofern zeigt der vorliegende Fall auch, dass der „Schadensbetrag“ keine notwendige Signifikanz für den Unwertcharakter mit sich bringt, welcher einer pflichtwidrigen Handlung anhaftet. Die Kammer hat in diesem Zusammenhang auch nicht unberücksichtigt gelassen, dass die Klägerin, wie sich aus dem gesamten Inhalt der mündlichen Verhandlung ergibt, nicht „von sich aus“ ein von vornherein zielgerichtetes Handeln in Bezug auf die Pflichtwidrigkeit vorgenommen hat. Ausschlaggebend waren offenbar „Hinweise“ und „Anregungen“, die ihr von der Mitarbeiterin im Reisezentrum diesbezüglich gegeben wurden. Das Berufungsgericht hat aus der mündlichen Verhandlung und den dortigen persönlichen Einlassungen der Klägerin bezüglich deren Gedankengänge und Diktion den Eindruck gewonnen, dass diese sich die später in die Tat umgesetzte Vorgehensweise hat „nahe bringen“ lassen; die Mitarbeiterin im Reisebüro, die aufgrund ihrer Dienststellung und ihrer Erfahrung einen sehr viel prägenderen Umgang mit derartigen Dingen hatte und die der Klägerin schließlich auch die „Gefälligkeitsquittung“ besorgt hatte, schien der Kammer für das Vorgehen der Klägerin als bestimmend.
Diese zugunsten der Klägerin in die Interessenabwägung einzustellenden Punkte haben ihr Interesse am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gegenüber demjenigen der Beklagten an dessen Beendigung überwiegen lassen. Die Kammer hat dabei nicht verkannt, dass die Beklagte angesichts des Vorfalls an eine fristlose Kündigung denken musste und angesichts der bisherigen Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts auch die Wirksamkeit der Kündigung als möglich ansehen konnte. Dies gilt nicht zuletzt deswegen, weil die Beklagte auch im Hinblick auf die Binnenwirkung im Unternehmen, auf die Verhaltensweisen anderer Arbeitnehmer, es im Grundsatz jedenfalls nicht hinnehmen kann, in einer solchen Weise hintergangen zu werden (dies hatte der 2. Senat im Urteil vom 11.12.2003 – 2 AZR 36/03 – NZA 2004, 486 noch ausdrücklich anerkannt ) .
Das Berufungsgericht hat jedoch gerade den Hinweisen, die der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner nunmehrigen Entscheidung vom 10.06.2010 ausweislich der Pressemitteilung für die anzustellende Interessenabwägung gegeben hat, entnommen, dass einer sehr langjährigen beanstandungsfreien Betriebszugehörigkeit und dem damit angesammelten Vertrauenskapital ein solch hoher Wert im Rahmen der Interessenabwägung zukommen muss, dass auch eine erhebliche Pflichtverletzung – jedenfalls im „Erstfalle“ – nicht ohne weiteres zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen muss. Dieser Gesichtspunkt, der im dortigen Fall sogar bei einer erheblichen Pflichtwidrigkeit im Kernbereich der Tätigkeit an der Kasse zu einer Unwirksamkeit der Kündigung führte, war im Streitfalle in noch höherem Maße zugunsten der Klägerin, die in einer besonderen Ausnahmesituation außerhalb des Kernbereichs ihrer Tätigkeit eine grobe Pflichtwidrigkeit begangen hatte, zu berücksichtigen. Ob und inwieweit und unter welchen dogmatischen Gesichtspunkten dabei der vorrangige Ausspruch einer Abmahnung zu prüfen sein soll (so offenbar BAG vom 10.6.2010 – 2 AZR 541/09 – PM) , kann dahinstehen .
Dem stand nicht entgegen, dass sich die Klägerin im gerichtlichen Verfahren nach Auffassung des Arbeitsgerichts zunächst „uneinsichtig“ gezeigt hat. Das diesbezügliche Verhalten im Prozess spielt nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 10.6.2010 keine Rolle für die Beurteilung der Kündigung; es kann sich dabei auch um ein nur ungeschicktes Verhalten im Prozess handeln, mit dem sie kundtun wollte, dass sie sich eigentlich in einem Rechtsirrtum befunden habe.
3. Erwies sich die Kündigung bereits insoweit als unwirksam, so kam es auf die Frage, ob die Beklagte die 2-Wochen-Frist des § 626 BGB eingehalten hatte und ob die Betriebsratsanhörung ordnungsgemäß erfolgt ist, nicht mehr an.
4. Auf die Berufung war das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin entsprechend abzuändern und die von der Klägerin begehrte Feststellung zu treffen, ebenso der Ausspruch zur Weiterbeschäftigung, der auf der Grundlage der Pflichten des Arbeitgebers im bestehenden Arbeitsverhältnis und den diesbezüglichen Rechtspositionen des Arbeitnehmers beruht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
5. Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.