Zusammenfassung:
Ein Radfahrer befährt einen Radweg. Aus einem Bus steigt an einer Bushaltestelle ein Fahrgast aus. Die Bushaltestelle grenzt an den Radweg. Beim Aussteigen kommt es zur Kollision zwischen dem Radfahrer und dem Fußgänger. Wer muss in diesem Fall Schadensersatz- und Schmerzensgeld leisten? Wie verteilt sich die Haftung genau? Liegt die Hauptschuld bei einem solchen Unfall an der Bushaltestelle bei dem Radfahrer? Das Kammergericht Berlin ist dieser Meinung und verurteilte den Radfahrer zu Schadensersatz- und Schmerzensgeld in Höhe von 80% des Schadensbetrages. Der Radfahrer musste folglich 4/5 der entstanden Schäden zahlen und zudem ein Schmerzensgeld an den Fußgänger entrichten.
Kammergericht Berlin
Az: 29 U 18/14
Beschluss vom 15.01.2015
Tenor
In dem Rechtsstreit
S. ./. R.
hat der 29. Zivilsenat des Kammergerichts in Berlin-Schöneberg, Elßholzstraße 30-33 10781 Berlin, durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht …, die Richterin am Kammergericht … und den Richter am Landgericht … beschlossen:
Gründe
I.
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz aus einem Unfall am 16. Oktober 2012 in Berlin-Reinickendorf in Anspruch. Die Klägerin befuhr gegen 7 Uhr 30 mit ihrem Fahrrad den als solchen gekennzeichneten Radweg auf dem Kurt-Schumacher-Damm in südwestliche Richtung. Im Bereich der dort befindlichen Bushaltestelle verschwenkt der als solcher farblich gekennzeichnete Radweg in Fahrtrichtung etwas nach links. Ein Bus der Linie M 21 hielt an der Haltestelle. Mehrere Fahrgäste und unter anderem der Beklagte verließen den Bus. Die Klägerin kollidierte auf dem Radweg mit dem Beklagten, stürzte und zog sich eine Fraktur des LWK 1 zu, wobei die näheren Umstände zwischen den Parteien streitig sind.
Das Landgericht hat in der angegriffenen Entscheidung die Klage nach Beweisaufnahme mit der Begründung abgewiesen, dass die Klägerin entgegen § 20 StVO höchstens mit Schrittgeschwindigkeit rechts an den aussteigenden Fahrgästen und nur unter der Voraussetzung hätte vorbeifahren dürfen, dass die Fahrgäste weder behindert noch gefährdet werden. Wegen der Begründung im Einzelnen und des übrigen Tatbestandes wird auf das angefochtene Urteil verwiesen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Sie wiederholt im Wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen und verfolgt mit der Berufung die erstinstanzlichen Klageanträge im vollen Umfang weiter.
II.
Der Senat weist auf Folgendes hin:
1. Dem Grunde nach kommt eine Haftung des Beklagten aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung von Körper und Gesundheit in Betracht. Er verletzte durch sein Verhalten am 16. Oktober 2012 die Klägerin. Der Beklagte handelte rechtswidrig und schuldhaft, weil er entgegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO den Radweg ohne Beachtung des Verkehrs betrat. Fahrbahnen im Sinne dieser Vorschrift sind auch Radwege (Heß in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 23. Auflage 2014, § 25 StVO Rn. 10; Landgericht Heidelberg, ZfSch 2004, 257 f.). Der Beklagte hätte nicht den Radweg betreten dürfen, ohne sich zuvor zu vergewissern, ob ein Radfahrer kommt.
2. Der Höhe nach beschränkt sich der im Antrag zu 1) geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch auf 10.000 €. Dabei hat der Senat bei der im Hinblick auf § 253 Abs. 2 BGB zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigt, dass die Klägerin operiert und 16 Tage stationär behandelt werden musste, fast vier Monate ihren Beruf als Fremdsprachensekretärin nicht ausüben konnte sowie die geplante, aber nicht durchgeführte Reise nach New York. Dies gilt zudem für die Empfindungsstörungen, die Narben im Bauchbereich und die geltend gemachten Schmerzen im Rücken. Zukünftige Beeinträchtigungen dieser Art sind freilich nicht in Ansatz zu bringen, weil die immateriellen Zukunftsschäden vom Feststellungsantrag zu 4) umfasst sind.
3. Die darüber hinaus im Antrag zu 2) verlangten 153,40 € stehen der Klägerin nicht zu.
Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung, der sich der Senat anschließt, stellt eine verletzungsbedingt entgangene Nutzungsmöglichkeit von Vermögenswerten (hier: des Nutzungsanspruchs gegen die Technische Universität Berlin wegen des Hochschulsports in Höhe von 83 €) keinen ersatzfähigen Schaden im Sinne von § 249 BGB dar (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1970 – VI ZR 120/69 – Rn. 11 ff., zitiert nach Juris, BGHZ 55, 146 ff.; Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 11. Aufl., Rn. 215). Das gilt auch, wenn fortlaufende Vermögensaufwendungen des Geschädigten für einen vorübergehenden Zeitraum nutzlos werden (BGH – VI ZR 120/69 – a. a. O., Rn. 18 ff., zitiert nach Juris; Küppersbusch/Höher, a. a. O., Rn. 219).
Im Ergebnis trifft dies auch auf die nutzlos aufgewendeten 70,40 € für den City-Pass für die geplante Reise nach New York zu. Aus unerlaubter Handlung hat ein Geschädigter einen Anspruch auf Entschädigung wegen eines geplanten, aber unfallbedingt nicht durchgeführten Urlaubs nicht zu beanspruchen (BGH, NJW 1983, 1107 f.). Derartige Beeinträchtigungen sind vielmehr im Rahmen der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldanspruches – wie hier geschehen – zu berücksichtigen.
4. Bei einem danach zutreffend ermittelten vorgerichtlichen Streitwert von insgesamt 12.000 € – 10.000 € Schmerzensgeld und nach § 3 ZPO auf 2.000 € geschätzten Wert des Feststellungsantrages zu 4) – schuldet die Klägerin ihrem Anwalt insgesamt 958,19 € (1,3 fache Gebühr von 604 € = 785,20 € + 20 € + 152,99 € Mehrwertsteuer) und nicht die verlangten 961,28 €.
5. Der zu 4) angekündigte Feststellungsantrag dürfte im Hinblick auf § 256 Abs. 1 ZPO zulässig und begründet sein, weil bei derartigen Verletzungen an einem Lendenwirbel Spätfolgen nicht auszuschließen sind.
6. Die Klägerin ist freilich eine Mitverschuldensquote von 80% gem. § 254 Abs. 1 BGB anzurechnen. Für ihren Sturz vom Fahrrad war ihr Sorgfaltsverstoß gegen § 20 Abs. 2 StVO ebenfalls ursächlich. Sie hätte rechts nur vorbeifahren dürfen, wenn eine Gefährdung der Fahrgäste ausgeschlossen ist.
Entgegen der Ansicht der Klägerin hatte sie beim Passieren der Haltestelle § 20 Abs. 2 StVO zu beachten. Die Vorschrift ist dann ebenso anzuwenden, wenn Fahrgäste beim Verlassen öffentlicher Verkehrsmittel zunächst einen Bürgersteig erreichen und erst anschließend einen Radweg passieren (Heß a. a. O., § 20 StVO Rn. 5; zweifelnd Landgericht Heidelberg, a. a. O.). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut von § 20 Abs. 2 StVO. Ihm sind keine Einschränkungen im Sinne der klägerischen Ansicht zu entnehmen. Aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift lassen sich Einengungen des Anwendungsbereichs ebenfalls nicht begründen. Die Norm soll die Gefahren für ein- und aussteigende Fahrgäste verringern und erhöht deswegen die Sorgfaltspflichten der rechts Vorbeifahrenden. Die Gefahren sind für Fahrgäste, die unmittelbar auf eine Fahrbahn aussteigen müssen, höher. Gefährlich sind derartige Situationen aber auch für die Fahrgäste, wenn sie zunächst einen für Fußgänger reservierten Bereich erreichen können und erst anschließend den Radweg zum Verlassen der Haltestelle betreten müssen. Dies schon deswegen, weil relativ schmale Bereiche für Fußgänger von bis zu drei Metern häufig nicht geeignet sind, eine größere Zahl von aussteigenden Fahrgästen aufzunehmen, diese mithin durch die nachrückenden auf den anschließenden Radweg gedrängt werden. Da die Vorschrift nach der amtlichen Begründung (VkBl. 95, 532) die Fahrgäste von Omnibussen des Linienverkehrs schützen soll, spricht nichts dafür, sie einschränkend auszulegen.
Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass der dargestellten Auslegung des Anwendungsbereichs von § 20 Abs. 2 StVO das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 4. November 2008 – VI ZR 171/07 -, NJW-RR 2009, 239 ff. zitiert nach Juris) nicht entgegensteht. Der Sachverhalt dieser Entscheidung betraf keinen aussteigenden Fahrgast.
Bei der gemäß § 254 Abs. 1 BGB gebotenen Haftungsabwägung ist einerseits zu berücksichtigen, dass § 20 StVO Fahrgäste nicht von ihren Verhaltenspflichten aus § 25 StVO entbindet (Zieres in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 26. Auflage 2011, Kap. 27 Rn. 515). Andererseits ist ein erhebliches anspruchsminderndes Mitverschulden der Klägerin in Ansatz zu bringen. Dieses wiegt deutlich schwerer als das fahrlässige Verschulden des Beklagten, § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO unmittelbar nach Verlassen des Busses missachtet zu haben. Die Klägerin hat nämlich § 20 Abs. 2 StVO – eine der sog. Kardinalpflichten der Straßenverkehrsordnung – verletzt. Sie hätte die Haltestelle nur passieren dürfen, wenn eine Gefährdung von Fahrgästen “ausgeschlossen” ist, was ersichtlich nicht der Fall war. Angemessen erscheint dem Senat eine Haftungsquote von 80% zu Lasten der Klägerin.
7. Der Senat regt an, dass sich die Parteien im Kosteninteresse auf der Grundlage der obigen Hinweise vergleichen. Unter Abgeltung des Feststellungsantrags zu 4) erscheint es sachgerecht, wenn der Beklagte insgesamt 3.000 € möglicherweise in Raten an die Klägerin zahlt und damit die Klägerin zukünftig keine weiteren Ansprüche mehr gegen ihn stellen kann. Bei einem derartigen Vergleich und einem Streitwert von 17.153,40 € sollten die Kosten beider Instanzen einschließlich die Kosten des Vergleichs mit 17% zu Lasten des Beklagten und zu 83% zu Lasten der Klägerin verteilt werden.
Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Hinweisen binnen eines Monats.