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Kündigung des Chefarzts wegen fahrlässigem Behandlungsfehler

LAG Düsseldorf

Az: 16 Sa 632/96

Urteil vom 17.03.1998


Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vom Dezember 1995.

Die Beklagte mit Sitz in S. betreibt das von ihr etwa acht Kilometer entfernt liegende Krankenhaus M. mit einer gynäkologischen Abteilung. Der am 07.08.1937 geborene Kläger, zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs 58 Jahre alt, verheiratet, wurde von der Rechtsvorgängerin der Beklagten zum 01.06.1980 als Assistenzarzt für den Bereich Gynäkologie eingestellt. Seit dem 16.07.1980 ist er Erster Oberarzt und Ständiger Vertreter des Chefarztes der Abteilung Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Dortiger Chefarzt ist zur Zeit Prof. Dr. L.. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet vereinbarungsgemäß der Bundes-Angestellten-Tarifvertrag (BAT) Anwendung. Die Vergütung des Klägers erfolgte zuletzt nach Vergütungsgruppe I BAT.

Am 13.11.1995, 02.20 Uhr, wurde die Patientin Vera T., geboren am 3., wegen leichter Blutung und leichter Wehen in das Krankenhaus M. stationär aufgenommen. Sie befand sich in der 4. Schwangerschaft und zum Zeitpunkt der Klinikaufnahme in der 41. Schwangerschaftswoche (SSW). Errechneter Entbindungstermin war der 09.11.1995. Sie hatte zuvor im Jahr 1984 in der 38. SSW eine Totgeburt mit Vakuumextraktion, 1987 in der 42. SSW eine Sectio caesarea (Kaiserschnitt) wegen Geburtsstillstands in der Eröffnungsphase und 1992 in der 12. SSW eine Fehlgeburt.

Am Abend des 14.11.1995 setzten bei der Patientin Wehen ein. Es erfolgte die Übernahme in den Kreißsaal. Um 20.40 Uhr sprang die Fruchtblase. Am 15.11.1995 um 08.00 Uhr übernahm der Kläger die Patientin als nunmehr zuständiger Kreißsaal- und geburtshilflicher Oberarzt. Es erfolgte kontinuierlich eine Kardiotokogramm-CTG-Überwachung durch Aufzeichnung der Herzschlagfrequenz des Kindes (fetale Herzschlagfrequenz) sowie der Wehentätigkeit. Im Verlauf des Vormittags traten variable Dezelerationen – Veränderungen der fetalen Herzfrequenz – auf. Um 15.30 Uhr betrug die Muttermundsöffnung 5 Zentimeter, der Kopf des Kindes befand sich im Beckeneingang. Gegen 16.00 Uhr fand unter Beteiligung des Chefarztes Prof. L., des Klägers und der Assistenzärzte C. und N. eine Übergabebesprechung statt, in der der Fall erörtert wurde. Der Chefarzt gab hierbei die Anweisung, die Indikation zur Re-Sectio (erneute Kaiserschnittentbindung) großzügig zu stellen. Gegen 17.00 Uhr nahm die Hebamme eine Rasur zur Sectio vor. Nachdem um 17.00 Uhr Fieber bei der Patientin gemessen worden war, untersuchte der Kläger sie erneut. Bei dieser Untersuchung soll die Patientin nach Darstellung des Klägers um 17.10 Uhr ihm gegenüber geäußert haben, sie wünsche eine Vaginal-Entbindung. Von einer Schnittentbindung sah der Kläger ab. Um 20.00 Uhr war der Muttermund vollständig eröffnet. Der kindliche Kopf befand sich in Beckenmitte (K +/-0).
Um spätestens 20.05 Uhr trat eine anhaltende Bradykardie (Verlangsamung der Herzschläge/Abfallen der Herzfrequenz) auf. Wegen drohender kindlicher Asphyxie entschloß sich der Kläger zur Entbindung durch Vakuumextraktion (Saugglockenentbindung). Dies mißlang. Um 20.12 Uhr ordnete er eine eilige Re-Sectio an. Um 20.20 Uhr befand sich die Patientin im Operationssaal. Um 20.30 Uhr erfolgte die Öffnung der Bauchdecke. Es wurde eine Komplettlösung der Plazenta festgestellt bei gleichzeitiger Uterusruptur. Das Kind war verstorben und wurde um 20.35 Uhr tot entwickelt. Sein Tod war während der Geburt durch Erstickung eingetreten. Es war laut späterem rechtsmedizinischen Gutachten frei von Fehlbildungen und anlagebedingten Krankheiten. Die Patientin blutete stark und drohte akut zu verbluten. Eine anschließende mehrstündige Operation verlief erfolgreich.

Am nächsten Tag (16.11.1995) trug der Kläger auf dem Partogramm unter dem 15.11.1995, 17.10 Uhr, ein: „Wunsch nach Vag.-Entb.“. Ebenfalls am 16.11.1995 fand zwischen dem Chefarzt und dem Kläger eine Besprechung über die Ereignisse vom Vortag statt. Mit Schreiben vom 27.11.1995 erbat der Chefarzt eine schriftliche Stellungnahme des Klägers zu näher gestellten Fragen. Hierauf antwortete dieser mit Schreiben vom 29.11.1995. Er übersandte die Unterlagen seinerseits dem Geschäftsführer der Beklagten, dem sie am 30.11.1995 vorlagen. Dieser forderte den Kläger mit Schreiben vom 30.11.1995 und mit weiteren Unterlagen zu einer eingehenden schriftlichen Stellungnahme bis zum 15.12.1995 auf. Diese Stellungnahme erfolgte mit Schreiben des Klägers vom 14.12.1995 nebst Anlagen. Das Schreiben gab der Kläger am 14.12.1995 an der Pforte des Krankenhauses M. ab. Von dort wurde es im Verlauf des Tages weitergeleitet und traf am Nachmittag des 14.12.1995 am Hauptsitz der Beklagten in S., C. T., ein. Der Geschäftsführer und sein Stellvertreter waren an diesem Nachmittag nicht im Hause.

Nach einer Besprechung innerhalb der Geschäftsleitung am 19.12.1995 und dem Entschluß zum Ausspruch einer Kündigung erfolgte die Anhörung des Betriebsrats mit Schreiben vom 21.12.1995. Der Betriebsrat äußerte sich mit Stellungnahme vom 27.12.1995. Mit Schreiben vom 28.12.1995, dem Kläger zugegangen am 29.12.1995, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos zum 31.12.1995. Sie begründete dies im Kündigungsschreiben damit, daß der Kläger mit der nachträglichen Eintragung auf dem Partogramm „Wunsch nach Vag.-Entb.“ am 16.11.1995 Krankenblattunterlagen manipuliert habe; ferner habe er mit einem falschen geburtshilflichen Verhalten am 15.11.1995 schuldhaft den Tod des Kindes verursacht; darüber hinaus habe er sich standeswidrig und geschäftsschädigend verhalten, indem er einige Tage nach dem Ereignis vom 15.11.1995 zu der Patientin gesagt habe: „Besser kein Kind als ein behindertes“. Der Kläger wendet sich mit der am 05.01.1996 beim Arbeitsgericht Wuppertal eingegangenen Klage gegen die Rechtswirksamkeit dieser Kündigung. Hierzu hat er vorgetragen:

Die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestreite er mit Nichtwissen. Auch habe die Beklagte die Zwei-Wochen-Frist aus § 626 Abs. 2 BGB für den Ausspruch der Kündigung nicht eingehalten. Darüber hinaus seien die im Kündigungsschreiben genannten Gründe sachlich unzutreffend. Tatsächlich habe die Patientin am 15.11.1995 anläßlich der Untersuchung kurz nach 17.00 Uhr den Wunsch nach einer Vaginal-Entbindung geäußert. Die Eintragung in das Partogramm habe er am 15.11.1995 schlicht vergessen und sie deshalb am 16.11.1995 – offen und vor Zeugen – nachgeholt. Ein fehlerhaftes geburtshilfliches Verhalten könne ihm nicht vorgehalten werden. Ein Behandlungsfehler liege nicht vor. Angesichts des konkreten Geburtsverlaufs und des guten Zustandes des Kindes habe er sich zu Recht zur Durchführung einer Vaginal-Entbindung entschlossen, zumal dies dem Wunsch der Patientin ent-sprochen habe. Daß es dann zu dem schicksalhaften Ereignis gekommen sei, beruhe auf einem äußerst seltenen Zusammentreffen einer Uterusruptur mit einer kompletten Plazentalösung. Unrichtig seien schließlich auch die ihm angelasteten standeswidrigen Äußerungen. Er habe bei dem erwähnten Gespräch mit der Patientin ausschließlich sein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen wollen, daß das Kind bei dem festgestellten Befund keine Überlebenschance gehabt habe.

Der Kläger hat beantragt, festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 28.12.1995 nicht aufgelöst ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Die Kündigung sei rechtswirksam. Bei der Patientin habe es sich angesichts der geburtshilflichen Vorgeschichte um eine Risikopatientin gehandelt. Aufgrund des schleppenden Geburtsverlaufs am 15.11.1995 habe spätestens um 17.00 Uhr zusätzlich von einer Risikogeburt ausgegangen werden müssen. Gleichwohl habe der Kläger an seinem Entschluß zu einer Vaginal-Entbindung festgehalten, obwohl der Chefarzt bereits zuvor bei der Übergabebesprechung um 16.00 Uhr die Anweisung gegeben habe, die Indikation zur Re-Sectio großzügig zu stellen und obwohl die Assistenzärzte und ebenso die Hebamme von einer bevorstehenden Schnittentbindung ausgegangen seien. Zudem habe die Patientin keineswegs den Wunsch nach einer Vaginal-Entbindung geäußert, wie es der Kläger dann am nächsten Tag (16.11.1995) falsch in das Partogramm eingetragen habe, sondern gefragt, ob nicht ein Kaiserschnitt erfolgen solle. Auch stelle der Versuch einer Vakuumextraktion am 15.11.1995, kurz nach 20.00 Uhr bei dem damaligen Höhenstand des kindlichen Kop-fes einen schwerwiegenden Behandlungsfehler dar.
Zudem hätte der Kläger angesichts des lebensbedrohlichen Geschehens ab 20.00 Uhr statt lediglich einer eiligen Sectio eine Notsectio anordnen und durchführen müssen. Insgesamt müsse von schweren Behandlungsfehlern ausgegangen werden. Hinzu komme, daß der Kläger tatsächlich die Äußerung „besser kein Kind als ein behindertes“ gegenüber der Patien-tin abgegeben habe, wie die Patientin dies in einem Schreiben vom 06.12.1995 an den Chefarzt erstmals mitgeteilt habe.

Das Arbeitsgericht Wuppertal hat der Klage mit Urteil vom 07.03.1996
– 2 Ca 79/96 – stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, es könne dahinstehen, ob ausreichende Kündigungsgründe im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB gegeben seien. Denn jedenfalls sei die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB, innerhalb der eine Kündigung auszusprechen sei, nicht eingehalten worden. Diese Frist habe spätestens am 14.12.1995 zu laufen begonnen.

Gegen das ihr am 03.04.1996 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 03.05.1996 Berufung eingelegt und diese mit einem am 03.06.1996 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Zugleich hat sie ein von ihr zwischenzeitlich in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten des Gynäkologen Prof. E., W.-Klinikum C., vom 03.04.1996 vorgelegt. In ihm ist unter anderem ausgeführt: Die Geburtsleitung des Klägers habe keineswegs den Regeln der heutigen Geburtshilfe entsprochen. Die Geburt sei am 15.11.1995 spätestens bis 18.00 Uhr zu beenden gewesen. Die Indikation zur Vakuumextraktion sei eher nicht richtig. Die Entwicklungszeit von 23 Minuten sei unakzeptabel. Hier vorliegende Fehlleistungen hätten einem am Krankenhaus tätigen Facharzt keinesfalls unterlaufen sollen.

Die Beklagte beruft sich auf diese Ausführungen und vertritt im übrigen die Auffassung, daß das Arbeitsgericht zu Unrecht einen Ablauf der Ausschlußfrist aus § 626 Abs. 2 BGB bejaht habe. Auf die Ausführungen hierzu in der Berufungsbegründung vom 03.06.1996 wird Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt,das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 07.03.1996 – 2 Ca 79/96 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung bezüglich des Fristablaufs aus § 626 Abs. 2 BGB. Am 30.11.1995 habe der Beklagten nämlich der gesamte Sachverhalt vorgele-gen, so daß die Zwei-Wochen-Frist bei Kündigungszugang am 29.12.1995 bereits ver-strichen gewesen sei. Aber auch in der Sache sei die Kündigung ungerechtfertigt. We-der liege eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten vor, insbesondere auch keine Manipulation bezüglich der Partogrammeintragung am 16.11.1995. Denn jedenfalls habe er die Äußerungen der Patientin über die Art der Entbindung so verstanden. Noch sei ihm ein Behandlungsfehler anzulasten. Der Kläger hat sich insoweit zunächst auf ein von ihm eingeholtes Privatgutachten des Gynäkologen Dr. St. vom 17.05.1996 berufen, auf dessen Einzelheiten verwiesen wird.

Das Berufungsgericht hat gemäß Beweisbeschluß vom 10.09.1996 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin T.. Auf deren Aussage wird verwiesen. Es hat gemäß weiterem Beschluß vom 10.09.1996 zusätzlich Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens. Auf das hierzu erstellte Gerichtsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L., Gießen, vom 07.04. / 22.05.1997 sowie auf das Ergänzungsgutachten vom 07.01.1998 wird Bezug genommen, ebenso auf das weitere, daraufhin vom Kläger vorgelegte Privatgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X., N., vom 23.01.1998.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den übrigen Akteninhalt und auf die zu den Akten gereichten sonstigen Unterlagen verwiesen.

E N T S C H E I D U N G S G R Ü N D E :

I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig: Sie ist nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 u. 2 ArbGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG,
§§ 518, 519 ZPO).

II. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg. Das Berufungsgericht schließt sich der
erstinstanzlichen Entscheidung an, nach der das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 28.12.1995 nicht aufgelöst worden ist. Allerdings folgt das Berufungsgericht der Entscheidung des Arbeitsgerichts nur im Ergebnis, nicht in der Begründung.

1. Soweit der Kläger erstinstanzlich noch die nach § 102 Abs. 1 BetrVG erforderliche Anhörung des Betriebsrats bestritten hatte, besteht zweitinstanzlich hierüber kein Streit der Parteien mehr. Etwaige Zweifel an einer ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats sind spätestens durch die von der Beklagten hierzu vorgelegten Anhö-rungsunterlagen als ausgeräumt anzusehen.

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2. Soweit der Kläger und ihm folgend das Arbeitsgericht die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung auf § 626 Abs. 2 BGB stützen, schließt sich das Berufungsgericht dem nicht an. Die nach dieser Bestimmung einzuhaltende Zwei-Wochen-Frist für den Ausspruch einer fristlosen Kündigung ist im vorliegenden Fall gewahrt.

a)Nach § 626 Abs. 2 BGB und dem wortgleichen § 54 Abs. 2 BAT beginnt die zweiwöchige Ausschlußfrist mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt. Es kommt hierbei auf die sichere und möglichst vollständige positive Kenntnis des Kündigungssachverhalts an. Selbst grobfahrlässige Unkenntnis genügt nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören alle Umstände, die in die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind. Der Kündigungsberechtigte kann eigene Ermittlungen anstellen, insbesondere dem Kündigungsgegner zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Der Beginn der Frist ist gehemmt, solange der Kündigungsberechtigte aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile noch Ermittlungen anstellt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen (BAG, Urteil vom 31.03.1993 – 2 AZR 492/92 – AP Nr. 32 zu § 626 BGB Ausschlußfrist, zu II 1 der Gründe = NZA 1994, 409). Bei der Anhörung des Kündigungsgegners ist nach der Rechtsprechung von einer einwöchigen Regelfrist auszugehen, die allerdings aus sachlich erheblichen Gründen überschritten werden darf. Im übrigen ist fallbezogen zu beurteilen, ob die Ermittlungen mit der gebotenen Eile betrieben worden sind (BAG, Urteil vom 31.03.1993, a. a. O.). Dies ist hier zu bejahen.

b)Kündigungsberechtigter im Sinne des § 626 Abs. 2 BGB, § 54 Abs. 2 BAT war hier der Geschäftsführer der Beklagten, gegebenenfalls der Personalleiter nach vorheriger Absprache mit der Geschäftsführung. Dies folgt für die erkennende Kammer aus der Position des Klägers als Erster Oberarzt und Chefarztvertreter und der Ausnahmesituation für den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gegenüber dem Kläger, der ansonsten bereits die Unkündbarkeitsvoraussetzungen des § 53 Abs. 3 BAT für eine ordentliche Kündigung erreicht hatte. Nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Beklagten erlangte die Geschäftsführung Kenntnis von Einzelheiten des Kündigungssachverhalts erstmals am 30.11.1995 mit der Übersendung der Unterlagen durch den Kläger und der gleichzeitigen Übersendung weiterer Unterlagen durch den Chefarzt an den Geschäftsführer. Hierauf hat der (damalige) Geschäftsführer Dr. unmittelbar reagiert und den Kläger mit weiteren Unterlagen, die diesem bislang nicht vorlagen, unter anderem Epikrise Prof. L. vom 27.11.1995 und Epikrise I. über das Ereignis vom 15.11.1995, zur eingehenden schriftlichen Stellungnahme bis zum 15.12.1995 aufgefordert.
Dies war sachlich geboten, um dem Kläger Gelegenheit zu geben, zu allen bis dahin vorliegenden Unterlagen abschließend schriftlich Stellung zu nehmen und seine Sicht der Dinge darzustellen. Auch die dem Kläger eingeräumte Frist bis 15.12.1995 ist nicht zu beanstanden. Zum einen lag sie im Interesse des Klägers, um ausreichend Gelegenheit zu haben, der eher komplizierten Materie angemessen Rechnung zu tragen. Zum anderen hätte es dem Kläger freigestanden, die Frist durch frühere Stellungnahme seinerseits jederzeit abzukürzen. Jedenfalls kann der Kläger nun nicht mit Erfolg geltend machen, infolge der ihm in seinem Interesse eingeräumten Frist zur Stellungnahme habe die Beklagte den Beginn der Ausschlußfrist aus § 626 Abs. 2 BGB unzulässig hinausgezögert und diese Frist da-durch im Ergebnis versäumt.

c)Auch mit Abgabe der schriftlichen Stellungnahme durch den Kläger am 14.12.1995 an der Pforte des Krankenhauses M. begann die Ausschlußfrist nicht sofort zu laufen. Kündigungsberechtigte war die Geschäftsleitung am Sitz der Beklagten in der C. T.. Dies war auch dem Kläger bekannt. Das Aufforderungsschreiben vom 30.11.1995 zur Stellungnahme stammte vom Geschäftsführer persönlich. Er war auch Adressat des Antwortschreibens des Klägers vom 14.12.1995. Die Abgabe des Antwortschreibens am 14.12.1995 an der Pforte des etwa acht Kilometer entfernten Krankenhauses im Ortsteil M. konnte die Frist nicht in Gang setzen, ebensowenig der Posteingang im Sekretariat der Zentrale am Nachmittag des 14.12.1995.
Zum einen entsprach dies nicht den üblichen Posteingangszeiten und den gewöhnlichen Verhältnissen, von dem Inhalt eines Schreibens Kenntnis zu neh-men (vgl. BAG, Urteil vom 08.12.1983 – 2 AZR 337/82 – AP Nr. 12 zu § 130 BGB, zu B II 2 a der Gründe; BAG, Urteil vom 02.03.1989 – 2 AZR 275/88 – AP Nr. 17 a. a. O., zu II 1 der Gründe). Zum anderen waren als Kündigungsberechtigte weder der Ge-schäftsführer noch der stellvertretende Geschäftsführer an diesem Nachmittag im Hause, so daß die Kenntniserlangung frühestens am 15.12.1995 erfolgen konnte. Die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB war dementsprechend bei Kündigungszu-gang am 29.12.1995 nicht abgelaufen, sondern gewahrt.

3. Die Rechtswirksamkeit der hier im Streit befindlichen Kündigung vom 28.12.1995 scheitert jedoch an den Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB, § 54 Abs. 1 BAT.

a) Danach kann ein Dienstverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dies kann auch bei einer endgültigen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses infolge eines Fehlverhaltens oder einer fehlerhaften Leistung des Arbeitnehmers der Fall sein. Bei einem gehobenen Angestellten mit besonderer Verantwortung kann gegebenenfalls bereits ein einmaliges fahrlässiges Verhalten, das geeignet war, einen größeren Schaden herbeizuführen, das zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen unheilbar zerstören und einen Grund zur fristlosen Kündigung darstellen
(BAG, Urteil vom 14.10.1965 – 2 AZR 466/64 – AP Nr. 27 zu § 66 BetrVG; BAG, Urteil vom 04.07.1991 – 2 AZR 79/91 – RzK I 6 a Nr. 73; KR-Hillebrecht, 4. Aufl. 1996, § 626 BGB Rdn. 331; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 8. Aufl. 1996, § 125 VII 17, Seite 1138). Ebenso kann eine drohende tiefgreifende Schädigung des Ansehens eines Krankenhauses durch Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit wegen bekanntgewordener schwerwiegender Anschuldigungen, die sich auf die Arbeitsweise eines dort tätigen Arztes beziehen, einen Grund zu einer außerordentlichen Kündigung darstellen, wenn sich diese Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Krankenhauses nicht auf andere zumutbare Weise abwenden läßt (BAG, Urteil vom 28.08.1987 – 7 AZR 68/86 – RzK I 6 a Nr. 33). Entscheidend sind bei allem stets die Umstände des Einzelfalles.

b)Bei dem Kläger geht es neben den anderen Vorhaltungen im Zusammenhang mit der nachträglichen Eintragung auf dem Partogramm und den streitigen Äußerungen gegenüber der Patientin T. im wesentlichen um den Vorwurf eines Behandlungsfehlers und einen dadurch verschuldeten Tod des Kindes T. am 15.11.1995. Ob dem Kläger ein Behandlungsfehler anzulasten ist, ist zwischen den Parteien streitig. Aus der Sicht der erkennenden Kammer ist dies zu bejahen:

aa)Das Gericht stützt sich hierbei im wesentlichen auf das Gerichtsgutachten des Sachverständigen Prof. L. sowie auf das vom Kläger vorgelegte Privatgutachten des Sachverständigen Prof. X.. Beide Gutachter bescheinigen dem Kläger für den 15.11.1995 zwar eine intensive sowie sorgfältige und fachgerechte Überwachung der Patientin. Wie allerdings der Gutachter L. überzeugend ausführt, wurden aus den Beobachtungen anläßlich der Überwachung ärztlicherseits jedoch die falschen Konsequenzen gezogen. Unstreitig handelte es sich bei der Schwangerschaft der Patientin um eine Risikoschwangerschaft und aufgrund der geburtshilflichen Vorgeschichte bzw. der Anamnese von Anfang an um eine Risikogeburt. Am 15.11.1995 lagen bereits ganztägig nicht näher zuzuordnende Dezelerationen der fetalen Herzfrequenz vor, die nach Aussage des Gutachters L. immer Ausdruck eines Sauerstoffmangels sind, mögen auch die Mikroblutanalysen durchweg im Normbereich gelegen haben. Darüber hinaus ist das Risiko einer Uterusruptur bei einer Patientin nach vorausgegangenem Kaiserschnitt, wie dies hier bei der Patientin der Fall war, nach Aussage des Gutachters um ein vielfaches höher als nach Spontangeburten.
Der Geburtsverlauf bis zum Nachmittag des 15.11.1995 war mit protahierter Eröffnungsperiode und einem Höhenstand des kindlichen Kopfes erst im Beckeneingang erheblich verzögert. „Unverständlich“ ist es daher nach Aussage des Gutachters, warum am 15.11.1995 um 16.00 Uhr anläßlich der Besprechung der beteiligten Ärzte nicht bereits die Indikation zur Sectio bzw. Kaiserschnittentbindung gestellt wurde. Alle zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Befunde hätten dieses Vorgehen gerechtfertigt: Status nach früherer Sectio, protahierte Eröffnungsperiode, Dezelerationen im CTG und Höhen-stand des kindlichen Kopfes erst im Beckeneingang. Daß aufgrund der Aufzeichnung zwischen 16.00 Uhr und 17.00 Uhr nicht die Entscheidung zur operativen Schnittent-bindung getroffen wurde, ist nach Auffassung im Gutachten „ein eindeutiger Fehler in der Geburtsleitung“ und ein „Behandlungsfehler“, durch den „der Tod des Kindes hätte verhindert werden können“, keineswegs ein unabwendbares schicksalhaftes Ereignis, wie der Kläger dies dargestellt hat.

bb)Auch der vom Kläger eingeschaltete Privatgutachter Prof. X., der sich dezidiert, anschaulich und in objektiv-sachlicher Form mit der Problematik auseinandersetzt, kommt insoweit zu übereinstimmenden Ergebnissen. Auch für ihn ist es „unverständlich, warum um 16.00 Uhr anläßlich der Besprechung nicht bereits die Indikation zur Sectio gestellt wurde“ (Seite 31 seines Gutachtens). Seiner Auffassung nach wäre eine Indikation zur Re-Sectio am 15.11.1995 sogar „im Verlauf des Vormittags, spätestens aber am frühen Nachmittag“ (Seite 31) angebracht gewesen.
Auch nach seiner Bewertung wäre der Tod des ansonsten gesunden Kindes vermeid-bar gewesen und ist – „kausal“ – auf eine verspätete Anordnung und Durchführung der Re-Sectio zurückzuführen (Seite 35 und 49), wobei der Kläger „durch die Unterlassung einer Re-Sectio zwischen 16.00 Uhr und 20.00 Uhr objektiv gegen mehrheitlich von Geburtshelfern respektierte Regeln der ärztlichen Kunst verstoßen“ hat (Seite 50).

cc)Soweit allerdings der Kläger – und jedenfalls für die Zeit bis 16.00 Uhr am 15.11.1995 auch der Gutachter X. – die Verantwortung für die unterbliebene Anordnung einer Re-Sectio „einzig und allein“ (Seite 32 des Gutachtens) beim Chefarzt Prof. L. sehen, vermag das Gericht dem schon aus Rechtsgründen nicht zu folgen. Der Kläger mag als Oberarzt und Chefarztvertreter den Anordnungen seines Chefarztes unterstehen und ihnen zu folgen haben, wobei dies aufgrund des eigenen Verantwortungsbereichs des Klägers ohnehin nicht schrankenlos gelten kann. Im vorliegenden Fall existierte jedoch keine Anweisung des Chefarztes an den Kläger etwa dahin, eine Re-Sectio zu unterlassen. Im Gegenteil: Um 16.00 Uhr gab der Chefarzt die Anweisung an den Kläger, die Indikation zur Re-Sectio großzügig zu stellen. Es mag sein, daß auch der Chefarzt, wie die Gutachter L. und X. übereinstimmend betonen, aus unverständlichen Gründen bei der Besprechung um 16.00 Uhr keine Indikation zur Sectio gestellt hat. Dies gilt für den Kläger dann aber erst recht.
Der Kläger war am 15.11.1995 ab 08.00 Uhr der für die Patientin zuständige Kreißsaal- und geburtshilfliche Oberarzt. Er hatte die regelmäßigen Untersuchungen und den Geburtsverlauf als verantwortlicher Oberarzt zu überwachen. Er behauptet selbst nicht, seinerseits eine Re-Sectio beabsichtigt oder zu irgendeinem Zeitpunkt auch nur näher in Erwägung gezogen zu haben, während der Chefarzt dies um 16.00 Uhr ausdrücklich ansprach. Auch konnte der Chefarzt nur über das entscheiden, was ihm der Kläger als unmittelbar zuständiger Kreißsaal-Oberarzt bei der Besprechung um 16.00 Uhr zuvor vorgetragen und worüber er berichtet hatte. Dem Kläger lagen zu diesem Zeitpunkt sämtliche Befunde aufgrund eigener Untersuchungen vor. Zudem hatte er
– wenn nicht bereits früher – spätestens ab der Übergabebesprechung um 16.00 Uhr eigene Entscheidungen über die bevorstehende Entbindungsart zu treffen und war spätestens ab diesem Zeitpunkt alleinentscheidungsbefugt. Daß auch der Kläger dies zumindest vorprozessual so sah, zeigt seine von der Zeugin T. bestätigte
Äußerung ihr gegenüber anläßlich der Untersuchung am 15.11.1995 um 17.00 Uhr, daß man sich nicht wünschen könne, welche Geburt bzw. welche Entbindungsart man haben wolle.
Vielmehr würde er das „knallhart entscheiden“. Außerdem wies der Kläger noch in seinem Schreiben vom 14.12.1995 an den (damaligen) Geschäftsführer Dr. A darauf hin, daß er für seine ärztliche Entscheidung zwischen Kaiserschnittentbindung und Vaginal-Entbindung „auch die volle Verantwortung“ trage. Dies trifft auch zu. Trotz der Anordnung des Chefarztes am 15.11.1995 um 16.00 Uhr, die Indikation zu einer Re-Sectio großzügig zu stellen, hielt der Kläger an seinem Vorhaben einer Vaginal-Entbindung fest, laut Aussage des Gutachters L. „unverständlich“ (Seite 11 seines Gutachtens) und „ein eindeutiger Fehler in der Geburtsleitung“ (Seite 12). Was nach den Ausführungen beider Gutachter aufgrund der vorliegenden Befunde bereits um 16.00 Uhr geburtshilflich „unverständlich“ war, war es erst recht ab 16.00 Uhr. Das bereits vorhandene Risiko ab Geburtsbeginn vergrößerte sich durch weiteren Zeitablauf. Die Unterlassung einer Re-Sectio auch zwischen 16.00 Uhr und 20.00 Uhr, den darin ebenfalls nach Prof. X. liegenden Behandlungsfehler und Verstoß gegen „von Geburtshelfern respektierte Regeln der ärztlichen Kunst“ (Seite 50 seines Gutachtens) sowie den dadurch verursachten Tod des Kindes hat der Kläger danach zumindest mitzuverantworten. Sein mehrfach vor der erkennenden Kammer geäußerter Satz: „Ich habe mir nichts vorzuwerfen“ ist für das Gericht angesichts dieser Umstände kaum noch verständlich.

4.Trotz dieses dem Kläger anzulastenden Fehlverhaltens sind die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB nicht vollständig erfüllt.

a)In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß ein einmaliges fahrlässiges Versagen nur ausnahmsweise einen Grund zur fristlosen Entlassung geben kann (vgl. KR-Hillebrecht, 4. Aufl. 1996, § 626 BGB Rdn. 331 m. w. N.). Handelt es sich um einen ärztlichen Behandlungsfehler, so reicht nicht jeder Behandlungsfehler hierfür aus. Insbesondere muß es sich aufgrund des Ausnahmecharakters einer fristlosen Kündigung (ultima ratio) eines ansonsten unkündbaren Krankenhausarztes, der bereits langjährig beschäftigt ist, um einen groben Behandlungsfehler handeln. Für die Frage, wann ein Behandlungsfehler als grob zu beurteilen ist, hat die Zivilgerichtsbarkeit gängige Regeln aufgestellt. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (nur) dann der Fall, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gegen gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. BGH, u. a. Urteil vom 19.11.1996, NJW 1997, 798, zu II 1 a der Gründe n. w. N.). Bei der Beurteilung eines Behandlungsfehlers als grob handelt es sich um eine juristische Wertung, die den Tatsacheninstanzen obliegt. Die wertende Entscheidung des Gerichts muß auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen, die sich in der Regel aus der medizinischen Bewertung des Behandlungsgeschehens durch einen Sachverständigen ergeben. Dies ist schon deshalb geboten, weil der Richter den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab in aller Regel nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln kann und bei der Frage, ob ein Fehler nach den dargelegten Kriterien einen groben Behandlungsfehler darstellt, die Würdigung des Geschehens durch einen medizinischen Sachverständigen einbeziehen muß (BGH, Urteil vom 19.11.1996, a. a. O.).

b)Die erkennende Kammer hat durchaus erwogen, den von den Gutachtern Prof. L. und X. bejahten Behandlungsfehler des Klägers durch sein Festhalten an der Vaginal-Entbindung, was auch bereits der Privatgutachter Prof. E. in seinem Gutachten vom 03.04.1996 als „keineswegs den Regeln der heutigen Geburtshilfe“ mehr entsprechend bezeichnet hatte (dort Seite 3), als groben Behandlungsfehler anzusehen. Hierfür spricht insbesondere die aus medizinischer Sicht mehrfach geäußerte Auffassung der geburtshilflichen Sachverständigen, daß dieses Verhalten „unverständlich“ sei. Zugunsten des Klägers spricht jedoch, daß auch in den betreffenden Gutachten nicht ausdrücklich oder sinngemäß gesagt wird, daß der Kläger, wie es die grobe Fahrlässigkeit erfordert, eindeutig gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Behandlungsregeln verstoßen und der Behandlungsfehler ihm schlechterdings nicht unterlaufen durfte. Die Entscheidung des Klägers zur Vaginal-Entbindung und vor allem sein Festhalten an dieser Entscheidung trotz der Anordnung des Chefarztes zur großzügigen Indikation einer Re-Sectio waren objektiv falsch sowie nach Aussage der Gutachter „unverständlich“ und „ein eindeutiger Fehler in der Geburtsleitung“ bzw. nicht den Regeln der heutigen Geburtshilfe entsprechend. Gleichwohl betont auch der Gerichtsgutachter, daß eine vaginale Vorgehensweise auch bei einem Status nach Sectio, wie es hier der Fall war, an sich „vertretbar“ sei (Seite 10). Der Status nach Sectio an sich stelle grundsätzlich keine Indikation zum Kaiserschnitt dar. Er gehe lediglich mit einer erhöhten Kaiserschnittrate einher. Der Gutachter X. (dort Seite 25) führt unter Hinweis auf die einschlägige Fachliteratur ergänzend aus, daß nach wie vor „die Geburtsleitung bei Zustand nach vorausgegangener Sectio von vielen Geburtshelfern kontrovers diskutiert“ werde. Handelte es sich bei der Entscheidung des Klägers und seinem Festhalten an dieser Entscheidung aber um ein aus ex-ante-Sicht medizinisch an sich noch vertretbares Vorgehen, ist eine „grobe“ Fahrlässigkeit im Sinne der Rechtsprechungsdefinition zu verneinen. Hinzu kommt, daß – wie das Partogramm des Gerichtsgutachtens zeigt –
die Muttermundsweite, nachdem sie zwischen 13.00 Uhr und 16.30 Uhr unverändert geblieben war, ab 16.30 Uhr zunahm und der Kläger sich für sein Festhalten an der Vaginal-Entbindung hierdurch eher bestätigt fühlte.

c)Auch soweit der Kläger nach Eintritt der Bradykardie spätestens um 20.05 Uhr zunächst eine Vakuumextraktion (vergeblich) versucht und nicht sofort eine Sectio eingeleitet hat, ist eine „grobe“ Fahrlässigkeit zu verneinen. Wie bereits der Gutachter Prof. E. und ausführlich insbesondere der Gutachter Prof. X. (dort Seine 42 ff.) ausführen, ist eine Vaginal-Entbindung aus Beckenmitte (K +/-0) häufig zwar nicht als ratsam, jedoch auch nicht als gegen gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßend anzu-sehen. Daß es zu diesem Zeitpunkt dann zu der Uterusruptur, der Komplettlösung der Plazenta und zu dem Tod des Kindes (intrauteriner Fruchttod; fetale Asphyxie perinatal) kam, ist nicht dem geburtshilflichen Fehlverhalten des Klägers ab 20.00 Uhr zuzuordnen, sondern im wesentlichen seiner vorherigen Fehlentscheidung, die bis dahin seit spätestens 16.00 Uhr überfällige Schnittentbindung trotz aller hierfür vorliegenden Befunde nicht durchgeführt zu haben.

5.Die zwei weiteren dem Kläger angelasteten Punkte – Eintragung in das Par-togramm am 16.11.1995 sowie streitige Äußerungen gegenüber der Patientin T. über eine mögliche Behinderung des Kindes – führen nicht zu einem anderen Ergebnis, und zwar auch nicht unter Einbeziehung des geburtshilflichen Fehlverhaltens.

a)Bezüglich der Eintragung in das Partogramm „Wunsch nach Vag.-Entb.“ am 16.11.1995 ist nicht auszuschließen, daß der Kläger die in der Beweisaufnahme bestätigten Äußerungen der Patientin am 15.11.1995, sie habe die Kaiserschnittentbindung vom letzen Mal (1987) noch in unangenehmer Erinnerung, tatsächlich als Wunsch der Patientin, nunmehr eine Vaginal-Entbindung durchzuführen, verstanden hat.

b)Die streitigen Äußerungen des Klägers „besser kein Kind als ein behindertes“ sind durchaus von arbeitsrechtlicher Relevanz, vermögen aber nicht ein an sich un-kündbares Arbeitsverhältnis ohne Abmahnung durch fristlose Kündigung aufzulösen.

6.Auch die vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem Bestandsschutzinteresse des Klägers am Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses und dem Auflösungsinteresse der Beklagten spricht hier gegen eine sofortige Beendigung durch frist-lose Kündigung. Das Arbeitsverhältnis der Parteien besteht zwischenzeitlich langfristig. Der Kläger, zum Zeitpunkt der Kündigung im Dezember 1995 58 Jahre und inzwischen 60 Jahre alt und damit in einem für das Arbeitsleben fortgeschrittenen Alter, hätte die beruflichen Folgen einer Fehlentscheidung als Arzt zu tragen, von deren Richtigkeit er zumindest subjektiv ausgegangen war. Bei der Frage der Zumutbarkeit einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ist bei ordentlich nicht mehr kündbaren Arbeitsverhältnissen zudem auf die voraussichtliche Dauer des Arbeitsverhältnisses, z. B. die Vollendung des 65. Lebensjahres des Arbeitnehmers, abzustellen (BAG, Urteil vom 28.08.1987 – 7 AZR 68/86 – a. a. O.; vgl. auch Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz, 6. Aufl. 1995, Rdn. 457 f.). In Anbetracht der Umstände, daß vergleichbare oder anderweitige Vorfälle von der Beklagten nicht geltend gemacht sind, erscheint der erkennenden Kammer der sofortige Verlust des Arbeitsplatzes des Klägers aufgrund einmaligen Versagens unangemessen. Auch ist zu berücksichtigen, daß der Kläger die Geburtsüberwachung an sich nach Aussage der Gutachter korrekt durchgeführt hatte und insoweit keine Nachlässigkeiten vorliegen. Lediglich die hieraus gezogenen Konsequenzen waren geburtshilflich „unverständlich“. Ferner wird im vorliegenden Fall ein etwaiger Ansehensverlust des Krankenhauses von der Beklagten nicht geltend gemacht. Zwar ist nicht auszuschließen, daß sowohl die ärztliche als auch die verwaltungsmäßige Zusammenarbeit mit dem Kläger belastet ist und das erforderliche Vertrauen Einbußen erlitten hat. Andererseits dürften zumindest der Wille und das Bemühen der beteiligten Personen zur sachlichen Zusammenarbeit zu erwarten sein.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Streitwert blieb unverändert. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs. 2 ArbGG) liegen nicht vor. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist nach Auffassung der Kammer nicht gegeben.

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