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Corona-Pandemie – Reiserücktritt – muss Stornogebühr gezahlt werden?

LG Frankfurt – Az.: 2-24 S 176/21 – Urteil vom 24.02.2022

1) Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main – Außenstelle Höchst – vom 19.08.2021 (Az.: 381 C 452/20 (37)) abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger wird verurteilt, an die Beklagte 73,80 Euro zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

2) Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

3) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4) Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Corona-Pandemie - Reiserücktritt - muss Stornogebühr gezahlt werden?
(Symbolfoto: Kavaleuskaya Aksana/Shutterstock.com)

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren um die Rückerstattung einer Anzahlung für eine Reise nach Italien und im Rahmen einer Widerklage um weitere Entschädigungsansprüche.

Der Kläger und Berufungsbeklagte (im Folgenden nur Kläger) ist über 60 Jahre alt, seine Ehefrau leidet seit 40 Jahren unter Diabetes und Asthma. Er buchte bei der Beklagten und Berufungsklägerin (im Folgenden nur Beklagte) für sich und seine Frau ausweislich der Buchungsbestätigung vom 25.11.2019 die Flugreise „…“ vom 03.10.2020 bis 10.10.2020 mit Flügen ab und nach Köln/Bonn und einem Aufenthalt in einem 4-Sterne-Hotel zum Gesamtpreis von 1.476,00 Euro. Für Einzelheiten wird auf die Anlage K1 (Blatt. 8 f. der Akte) Bezug genommen. Mit der Buchungsbestätigung wurden dem Kläger die Reisebedingungen der Beklagten (Stand 18.11.2019) übersandt. Die Bedingungen sahen in Ziffer 9.3. vor, dass bei einem Rücktritt bis 31 Tage vor Reisebeginn der Reiseveranstalter eine Entschädigungspauschale/Stornogebühr in Höhe von 25% verlangen kann (insoweit wird auf die Anlage B1 und deren Inhalt Bezug genommen, Bl. 29 ff. d. A.). Der Kläger zahlte vereinbarungsgemäß 295,20 Euro an. Am 16.06.2020 richtete der Kläger ein Schreiben mit (auszugsweise) folgendem Inhalt an die Beklagte:

„Hiermit treten wir wegen höherer Gewalt (unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände) gemäß § 651h Absatz3 BGB von der o.a. Reise zurück. Meine Ehefrau, ………., gehört wegen ihrer Vorerkrankung, seit 40 Jahren insulinpflichtige Diabetes und Asthma, zu dem besonders gefährdeten Personenkreis. Bei mir ist es das Alter.“

Mitte Juni 2020 gab es keine amtliche Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Italien oder Kalabrien. Zu diesem Zeitpunkt war die Reise von der Beklagten weder abgesagt, noch war absehbar, ob die Reise abgesagt werden muss. Am 14.08.2020 rechnete die Beklagte gegenüber dem Kläger einen Betrag in Höhe von 369,00 Euro ab. Unter Berücksichtigung der geleisteten Anzahlung verlangte sie vom Kläger weitere 73,80 Euro. Der Kläger verlangte von der Beklagten seinerseits, erfolglos, die Rückerstattung seiner Anzahlung mit Schreiben vom 24.08.2020 und setzte der Beklagten hierfür eine Frist bis zum 07.09.2020. Die von der Beklagten veranstaltete Reise fand im geplanten Zeitraum statt.

Der Kläger hat behauptet, für ihn und seine Ehefrau wäre eine Reise nach Italien angesichts der als gerichtsbekannt vorausgesetzten Höhe der dortigen Infektionszahlen mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko verbunden gewesen. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, berechtigt gewesen zu sein, vor Reisebeginn vom Reisevertrag zurückzutreten, da jedenfalls eine gewisse, sogar große Wahrscheinlichkeit bestanden habe, dass eine Gesundheitsgefährdung gegeben sei. Dass diese bestanden habe, sei gerichtsbekannt. Auf die Durchführbarkeit der Reise komme es nicht an.

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 295,20 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.09.2020 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

1) die Klage abzuweisen,

2) den Kläger – widerklagend – zu verurteilen, an die Beklagte Euro 73,80 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.09.2020 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass es für die Voraussetzungen des § 651 h Abs. 3 BGB, also das objektive Vorliegen unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände im Sinne des § 651 h Abs. 3 S. 2 BGB, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, auf eine Prognose zum Zeitpunkt des Rücktritts ankomme, also auf eine ex ante Beurteilung der Corona-Situation am Bestimmungsort aus Sicht eines objektiven Durchschnittsreisenden bzw. anhand der Kenntnisse des Reisenden. Eine allgemeine Sorge oder Angst reiche nicht. Dieser Beurteilungszeitpunkt folge aus § 651 h Abs. 5 BGB und unter Berücksichtigung des Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2015/2302 (im Folgenden Pauschalreiserichtlinie), der ebenfalls auf den Rücktrittszeitpunkt („Beendigung des Reisevertrages“) abstelle. Nachträgliche Änderungen oder die Realisierung des Risikos spielten keine Rolle. Eine erhebliche Beeinträchtigung, die Unmöglichkeit einer sicheren Reisedurchführung und ein Infrage-Stellen des Reisezweckes, komme betreffend die Corona-Pandemie zwar auch bei einer die persönliche Sicherheit des Reisenden betreffenden Infektionslage in Betracht. Dafür müsse aber am Bestimmungsort – entsprechend der Prognose – eine wesentlich höhere Infektionsrate als in Deutschland vorliegen, jedenfalls aber – im Rücktrittszeitpunkt – eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer gesundheitsgefährdenden Ausbreitung des Corona-Virus in Kalabrien bestanden haben. In Bezug auf diese Prognosen fehle es vorliegend mangels Reisewarnung des Auswärtigen Amtes als erheblichem Indiz an jedem tatsächlichen Vorbringen und sogar belastbaren Indizien der insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Klägerseite. Die Umstände seien auch nicht gerichtsbekannt oder müssten als solche in den Prozess eingeführt werden. Das bloße Vorhandensein der Corona-Pandemie genüge nicht, um den Reisenden, hier dem Kläger, stets ein stornokostenfreies Rücktrittsrecht zu ermöglichen. Der Kläger sei mithin dreieinhalb Monate vor Reisebeginn und damit zu früh zurückgetreten. In Fällen, in denen, wie im Fall der Corona-Pandemie, keine Prognose möglich sei, gehe ein übereilter Rücktritt zu Lasten des Reisenden bzw. sei in diesen Fällen ein weiteres Abwarten den Reisenden, hier dem Kläger, bis etwa vier Wochen vor dem Reisebeginn, zuzumuten. Nur so sei ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der Vertragspartner zu erreichen. Andernfalls läge das Prognoserisiko allein beim Reiseveranstalter. Vorliegend sei ein Zuwarten ausweislicher der Reisebedingungen der Beklagten sogar ohne weitere Kostensteigerungen bis zum 31. Tag vor Reisebeginn möglich gewesen.

Der Kläger hat beantragt, die Widerklage abzuweisen.

Das Amtsgericht Frankfurt am Main – Außenstelle Höchst – hat die Beklagte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28.07.2021 mit Urteil vom 19.08.2021 antragsgemäß zur Zahlung verurteilt. Die beiden zur Risikogruppe gehörenden Reisenden hätten sich zu Recht sorgen müssen, dass die Flugreise und Unterbringung im Hotel mit den Kontakten zu einer Vielzahl anderer Personen für sie eine besondere Gefährdung und Gefährdungslage darstellen würde. Es sei gerichtsbekannt, dass Kalabrien von der Pandemie heimgesucht worden sei und werde. Jeder informierte und verständige Reisende habe im Juni 2020 vor Augen gehabt, dass die Pandemie im Oktober 2020 noch nicht vorüber sei. Der Kläger sei nicht auf das „Prinzip Hoffnung“ zu verweisen. Das Robert-Koch-Institut habe im Juni 2020 gerade älteren Personen, insbesondere solchen mit Vorerkrankungen, dringend von Reisen im Fortgang des Jahres abgeraten. Ein Zuwarten wäre mit der Gefahr einhergegangen, höherer Stornierungskosten ausgesetzt zu werden.

Das Urteil wurde der Beklagten am 08.09.2020 zugestellt. Die Berufung hiergegen ist beim Landgericht am 27.09.2020 eingegangen. Die Beklagte hat diese mit Schriftsatz vom 26.10.2020 begründet. Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass es auch in den Wochen nach dem Rücktritt und zum Zeitpunkt des Reisetermins keine Reisewarnung für Kalabrien gegeben habe. Zudem habe der Kläger davon ausgehen müssen, dass die Beklagte und auch die Leistungsträger sämtliche Hygienestandards einhalten würden. Die streitgegenständliche Reise habe stattfinden können und habe wie vorgesehen stattgefunden, ohne dass es Beschwerden über coronabedingte Einschränkungen oder Reisebeeinträchtigungen gegeben habe. Dementsprechend habe am 16.06.2020 nicht prognosesicher vorausgesagt werden können, ob die Reise stattfinden kann oder erheblich beeinträchtigt werden wird. Entgegen der falschen Auffassung des Amtsgerichts habe der Kläger nicht dargelegt, dass hinreichend absehbar war, dass es zu einer erheblichen Beeinträchtigung oder einer Reisewarnung kommen werde. Jedenfalls habe kein höheres Risiko als am Wohnort des Klägers bestanden. Anderes habe der Kläger nicht im Ansatz dargetan und habe das Gericht nicht festgestellt. Das Amtsgericht habe überhaupt keine Feststellungen getroffen. Das Amtsgericht habe sein Urteil rechtsfehlerhaft darauf gestützt, dass der Kläger und seine mitreisende Ehefrau zur Risikogruppe gehörten. Das Alter und die gesundheitliche Konstitution seien demgemäß der Risikosphäre des Klägers zuzuordnen und nicht beachtlich. Die weitere Begründung des Amtsgerichts im Hinblick auf gerichtsbekannte Umstände der Betroffenheit des Bestimmungsortes genügten, so die Beklagte, ebenfalls nicht. Es fehle in dem Urteil und dem Klägervortrag insgesamt an jeder hinlänglichen Konkretisierung solcher Umstände, auch in zeitlicher Hinsicht.

Die Beklagte beantragt, unter Abänderung des Urteils des Amtsgerichts Frankfurt am Main Außenstelle Höchst, zugestellt am 08.09.2021, die Klage abzuweisen und auf die Widerklage den Kläger zu verurteilen, an die Beklagte 73,80 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.09.2020 zu zahlen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Kläger verteidigen sie das Urteil des Amtsgerichts als richtig. Es habe keiner näheren Darlegung bedurft, dass es aufgrund der nicht vermeidlichen Kontakte im Flugzeug und im Hotel zu einem erhöhten Gefährdungspotential komme.

II.

Die zulässige Berufung ist überwiegend begründet.

Zu Unrecht ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rückzahlung seiner Anzahlung in Höhe von 295,20 Euro hat und die Beklagte wiederum keinen mit der Widerklage geltend gemachten Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von 73,80 Euro.

Nach einem Rücktritt vom Reisevertrag durch den Reisenden vor Reisebeginn hat der Reiseveranstalter nach § 651 h Abs. 1 S. 1, 2 BGB den Reisepreis an den Reisenden zurückzuzahlen (§ 346 Abs. 1 BGB). Der Reiseveranstalter kann jedoch grundsätzlich nach § 651 h Abs. 1 S. 3 BGB eine Entschädigungsleistung verlangen, mit der er aufrechnen kann. Dieser Anspruch ist nur dann nach § 651 h Abs. 3 S. 1 BGB ausgeschlossen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Umstände sind unvermeidbar und außergewöhnlich im Sinne dieses Untertitels, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich hierauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären (§ 651 h Abs. 3 S. 2 BGB).

Der Kläger kann vorliegend entgegen der Entscheidung des Amtsgerichts den von ihm angezahlten Reisepreis in Höhe von 295,20 Euro nicht zurückverlangen, weil der Entschädigungsanspruch der Beklagten, dessen Höhe sich aus den AGB der Beklagten ergibt, in Höhe von 369,00 Euro nicht gemäß § 651 h Abs. 3 S. 1 BGB ausgeschlossen ist. Die Widerklage ist begründet.

Es muss nicht geklärt werden, ob es für die Voraussetzungen des § 651 h Abs. 3 BGB auf den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung ankommt und eine Prognose zum Vorliegen außergewöhnlicher Umstände und darauf begründeter erheblicher Einschränkungen anzustellen ist (so etwa: OLG Hamm, Urteil vom 30.08.2021 – 22 U 33/21 = BeckRS 2021, 24178, Rn. 30; LG Oldenburg Urt. v. 10.11.2021 – 5 S 127/21 = BeckRS 2021, 35655 Rn. 10), oder ob es für die Bewertung der Umstände nur auf den Reisezeitraum ankommt (in diese Richtung tendierend: AG Düsseldorf, Beschl. v. 08.12.2021 – 37 C 270/21 = BeckRS 2021, 41306; AG Düsseldorf, Urt. v. 11.05.2021 – 50 C 358/20 = BeckRS 2021, 21238 Rn. 20; BeckOGK/Harke, BGB, 651h Rn. 48).

Dieser Streit muss deshalb nicht entschieden werden, weil der darlegungs- und beweisbelastete Kläger (Palandt/Grüneberg, BGB-Kommentar, 80. Aufl. 2021, § 651h Rz. 9) weder zum Zeitpunkt des Rücktritts am 16.06.2020 ausreichende Prognosegrundlagen dargetan hat, die auf eine erhebliche Einschränkungen der Reiseleistungen schließen ließen, noch zum vereinbarten Reisezeitpunkt im Oktober solche erheblichen Beeinträchtigungen dargelegt hat.

Es ist zwar anerkannt, dass auch Naturkatastrophen und Krankheitsausbrüche unvermeidbare und außergewöhnlichen Umstände im Sinne des § 651 h BGB darstellen (können) (LG Frankfurt am Main, U. v. 10.08.2021, Az.: 2-24 S 31/21 = BeckRS 2021, 23370; Führich/Staudinger, 8. Aufl. 2019, §16 Rn. 20, Löw, NJW 2020, 1252, 1253). Dies ergibt sich auch aus der vollharmonisierenden Pauschalreiserechtsrichtlinie bzw. dessen Erwägungsgrund 31, der gerade Krankheiten ausdrücklich benennt. Der Ausbruch der Corona-Pandemie führte ohne Zweifel im Jahr 2020 zu einer nahezu weltweiten Abschottung, zu Grenzschließungen und zu einer vollständigen Einstellung des internationalen Flugverkehrs. Die Corona-Pandemie kann mithin einen unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstand im Sinne des § 651 h Abs. 3 BGB darstellen (siehe auch: OLG Hamm, a.a.O.). Sie genügt aber allein nicht, um per se auch erhebliche Beeinträchtigungen der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderungen der Reisenden an den Bestimmungsort daraus abzuleiten.

Ob solche erheblichen Beeinträchtigungen vorliegen, ist anhand des Einzelfalles dahingehend zu bewerten, also etwa der Reisezweck vereitelt wird. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit dieser Erheblichkeit dürfen in Anbetracht der wertungsmäßig hohen Schutzgüter des Lebens oder der Gesundheit nicht zu hoch angesetzt werden (vgl. LG Frankfurt am Main, Urt. v. 01.07.2021 – 2-24 O 510/20 = BeckRS 2021, 20978), wobei die Frage, von welchem konkreten Gefährdungsgrad an eine erhebliche Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, nicht in Form einer festen Größe, sondern nur fallweise unter Berücksichtigung des konkreten Reisevertrages beantwortet werden kann (LG Frankfurt am Main a.a.O.). Je weiter im Voraus der Reisende den Rücktritt erklärt, desto unwahrscheinlicher wird es jedoch in der Regel sein, entsprechende Prognosetatsachen oder jedenfalls -indizien darzulegen und ggf. zu beweisen bzw. eine Akzeptanz des Reiseveranstalters herbeizuführen (vgl. auch: AG Düsseldorf, Urt. v. 08.02.2021 – 37 C 471/20 = NJW-RR 2021, 930 Rz. 5).

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Bei der Frage nach einer hinreichenden Prognosegrundlage kommt einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes eine starke Indizwirkung zu (LG Frankfurt am Main, Urt. v. 01.07.2021 – 2-24 O 510/20 = BeckRS 2021, 20978, Rz. 19; LG Bonn, RRa 2003, 214; Führich, NJW 2020, 3137, 3138). Eine Warnung der WHO kann hingegen allein nicht ausschlaggebend sein (LG Frankfurt am Main, Urt. v. 01.07.2021 – 2-24 O 510/20 = BeckRS 2021, 20978 Rz. 19; AG Stuttgart, NJW-RR 2021, 53, 54). Im vorliegenden Fall lag, unstreitig, zum Zeitpunkt des Rücktritts keine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Italien oder Kalabrien vor, die sich über den Reisezeitraum erstreckte.

Außerhalb der Indizwirkung eine Reisewarnung kann der Reisende gesetzliche Regelungen der Verantwortlichen am Bestimmungsort als gewichtige Indizien anführen, die als Folge der außergewöhnlichen Umstände auf erhebliche Beeinträchtigungen der reisevertraglich vereinbarten Leistungen zum Reisezeitpunkt schließen lassen. Dazu gehören beispielsweise Ausgangsbeschränkungen, Quarantänepflichten oder hoheitliche Schließungsverfügungen. Zudem kann es, je nach den Umständen des Einzelfalles und dem Zeitpunkt der Rücktrittserklärung, ausreichend sein, wenn ein Reisender darlegt, dass es, prognostisch, am Bestimmungsort oder auf dem Weg dorthin (etwa bei Zwischenstopps) eine erheblich erhöhte Infektionsrate gibt oder geben wird und es insoweit eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer erhöhten Infektionsgefahr gibt oder geben wird. Zum Teil wird in Literatur und Rechtsprechung überdies die Ansicht vertreten, dass eine im Vergleich zum Wohnort erheblich erhöhte Infektionsrate ein Indiz für eine erhebliche Beeinträchtigung darstellen könne, da dann eine über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehe reisevertragliche Relevanz bzw. ein Bezug zu den vertraglichen Pflichten bestehe (siehe z.B.: AG Düsseldorf, B. v. 08.12.2021 – 37 C 270/21 = BeckRS 2021, 41306 Rn. 15). Nicht ausreichend ist es hingegen, das Alter, eine gewisse körperliche Konstitution oder allgemein eine Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe vorzutragen. Auch eine pauschale Einschätzung des RKI genügt nicht. Ebenfalls nicht ausreichend sind Ängste oder andere Rücktrittsmotive. Würde man solche subjektiven Umstände losgelöst von dem Vertrag ausreichen lassen, würde ein Lösungsrecht contra legem eingeführt. Für die ausschließliche Anknüpfung an objektive Umstände streitet der Wortlaut des § 651 h Abs. 3 BGB und Erwägungsgrund 31 der Pauschalreiserichtlinie. Es würde zudem bei unterstellter Berücksichtigung solcher Umstände dazu kommen, dass „jüngere“ und „gesunde“ Reisende nicht, „ältere“ und gesundheitlich angeschlagene Reisende demgegenüber mit Erfolg und ohne Belastung mit einer Stornokostenpauschale zurücktreten könnten. Eine solche Ungleichbehandlung ist weder im Gesetz, noch in der Richtlinie angelegt oder wäre zu rechtfertigen. Es mag einerseits richtig sein, dass es zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Reisevertrag weder Medikamente, Impfungen oder abseits von Hygienemaßnahmen keine Möglichkeiten des effektiven Schutzes gegen eine Erkrankung mit dem Virus gab. Auf der anderen Seite war es zum Zeitpunkt des Rücktritts des Klägers bereits allgemein bekannt, dass die weltweite Pandemie überall in sog. „Wellen“ verlief und jeweils durchaus Zeiträume vorhanden waren, in denen auch für vulnerablen Gruppen aufgrund sehr geringer Inzidenzen kaum ein erhöhtes Ansteckungsrisiko bestand.

Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht zu Unrecht sein Urteil mit gerichtsbekannten Umständen dahingehend begründet, dass Italien und Kalabrien von der Pandemie heimgesucht worden sei und heimgesucht werde, ohne ausreichende Prognosegrundlagen festzustellen. Gerichtskundige Tatsachen im Sinne des § 291 ZPO bedürfen keines Beweises. Eine Tatsache ist gerichtsbekannt, wenn sie das erkennende Gericht in amtlicher Eigenschaft selbst wahrgenommen hat und die Tatsache nunmehr noch bekannt ist (MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl. 2020, ZPO § 291 Rn. 6; Musielak/Voit/Huber, 18. Aufl. 2021, ZPO § 291 Rn. 2). Da der Gegenbeweis möglich sein muss, muss den Parteien eine entsprechende Kenntnis des Gerichts offenbart werden. Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht bereits letzteres nicht getan. Zudem sind die Umstände, die das Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde legt, so allgemein, dass daraus keinerlei Rechtsfolge zugunsten der Kläger abgeleitet werden kann. Dass Italien und Kalabrien von dem Virus heimgesucht wurde und wird und dort grassierte, lässt sich beinahe auf jedes Land der Welt zu gewissen Zeiten übertragen. Das Urteil kann eine solche pauschale Aussage nicht tragen. Zu Unrecht ging das Amtsgericht unter Berücksichtigung der möglichen tatsächlichen Prognosegrundlagen von einer ausreichenden Prognosegrundlage im vorliegenden Fall aus bzw. hat eine solche, implizit, nicht einmal für erforderlich gehalten. Der Kläger hat ungeachtet dessen ebenfalls, wie die Beklagte dies ausführte, keinerlei objektive Umstände oder Indizien dargetan, die für eine erhebliche Beeinträchtigung der reisevertraglichen Pflichten der Beklagten im vereinbarten Reisezeitraum sprechen könnten. Der Kläger hat sich darauf zurückgezogen, Umstände als gerichtsbekannt zu beschreiben. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass es zum Zeitpunkt des Rücktritts gerade in Kalabrien, dem Bestimmungsort im Sinne des § 651 h Abs. 3 S. 1 BGB, erhebliche Infektionszahlen gegeben habe oder bis zum Zeitraum bis zur Reise eine solche „Infektionswelle“ entstehen würde. Er hat nichts zu Einschränkungen der Reiseleistungen ausgeführt.

Auch für den Zeitpunkt der Reise hat der Kläger keine erheblichen Beschränkungen vorgebracht. Es ist zwischen den Parteien unstreitig geblieben, dass die Reise „…“ von der Beklagten nicht abgesagt wurde und sogar ohne corona-bedingte Einschränkungen stattgefunden hat.

Die Widerklage ist dementsprechend entgegen der Auffassung des Amtsgerichts begründet. Nur der geltend gemachte Zinsanspruch besteht nicht, da die Beklagte die Voraussetzungen des Verzuges nicht dargelegt hat.

Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10 S. 1 ZPO, 713 ZPO. Schuldnerschutzanordnungen sind nicht zu treffen, da der Beschwerdewert im Sinne des § 544 Abs. 2 ZPO nicht erreicht wird.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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