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Corona – Verbot des Betriebs von Prostitutionsstätten, Bordellen unverhältnismäßig und rechtswidrig

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg – Az.: 1 S 2871/20 – Beschluss vom 06.10.2020

Auf den Antrag der Antragstellerin wird § 13 Nr. 2 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 23. Juni 2020 in der Fassung der Zweiten Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 22. September 2020 mit Wirkung vom 12. Oktober 2020 vorläufig außer Vollzug gesetzt.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Der Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin zu einem Drittel und der Antragsgegner zu zwei Dritteln.

Der Streitwert wird auf 15.000,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich im vorliegenden Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO gegen § 13 Nr. 2 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 23.06.2020 in der seit dem 30.09.2020 geltenden Fassung der Zweiten Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 22.09.2020. Die angegriffene Vorschrift untersagt den Betrieb von Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen sowie jede sonstige Ausübung des Prostitutionsgewerbes im Sinne von § 2 Abs. 3 des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG).

Die Antragstellerin betreibt in … eine nach ihren Angaben seit mehreren Jahrzehnten generationsübergreifend als Familienbetrieb existierende Prostitutionsstätte. Sie macht geltend, sie begehre die vorläufige Außervollzugsetzung des ihres Erachtens verfassungswidrigen Verbots ihres Betriebs. Sie beabsichtige im Erfolgsfall nur erotische Massagen und sexuelle Dienstleistungen im BDSM-/Domina-Bereich ohne Geschlechtsverkehr zuzulassen und das „Hygienekonzept für erotische Dienstleistungen in Bezug auf die Covid19-Präventuion“ des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. – wegen dessen Einzelheiten auf die Anlage A2 verwiesen wird – einzuhalten.

Die durch § 13 Nr. 2 CoronaVO normierte vollständige Untersagung aller sexuellen Dienstleistungen verstoße in der gegenwärtigen Lage gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der vom Verordnungsgeber verfolgte Zweck, die Weiterverbreitung des Coronavirus einzudämmen, um damit neben der Vermeidung unmittelbarer Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen die Gefahr einer Überforderung des Gesundheitssystems zu verringern, könne ebenso effektiv mit milderen Mitteln gefördert werden.

Corona - Verbot des Betriebs von Prostitutionsstätten, Bordellen unverhältnismäßig und rechtswidrig
Symbolfoto: Von Emmanuel Nalli/Shutterstock.com

Der Verordnungsgeber habe inzwischen in nahezu allen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen Lockerungen zugelassen, obgleich diese weiterhin das Risiko bürgen, das Virus weiterzuverbreiten. Er begegne diesem Gefahrenpotenzial durch eine Beschränkung der Anzahl möglicher Kontakte und durch die Pflicht zur Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln ergänzt um Vorkehrungen für die Rückverfolgbarkeit von Kontakten. Lediglich wenige Großveranstaltungen seien noch gänzlich untersagt, weil dort die Einhaltung dieser Vorgaben aus Sicht des Verordnungsgebers nicht möglich erscheine. Daher bestehe das Regelungsziel der Verordnung offensichtlich nicht (mehr) darin, der spezifischen Ansteckungsgefahr von bestimmten Einzelkontakten zu begegnen, sondern einer dynamischen Entwicklung des Infektionsgeschehens entgegenzuwirken, indem das persönliche Zusammentreffen einer Vielzahl von Menschen untersagt oder unter Schutzvorkehrungen erlaubt werde. Mit diesem Ansatz sei die in § 13 Nr. 2 CoronaVO erfolgte vollständige Untersagung sexueller Dienstleistungen nicht mehr vereinbar. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb bei der Erbringung sexueller Dienstleistungen ausnahmslos nach wie vor ein vollständiger Ausschluss von Infektionsgefahren erforderlich sei, wenn in anderen Bereichen hingenommen werde, dass das Verbreitungsrisiko lediglich reduziert werde.

Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass bei jeder sexuellen Dienstleistung von einem Gefahrenpotenzial dergestalt auszugehen sei, dass einzelne Infizierte in kurzer Zeit zahlreiche weitere Personen ansteckten, seien nicht ersichtlich. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) gebe es keine Erkenntnisse dazu, dass es sich bei der Erbringung sexueller Dienstleistungen um „Superspreading-Events“ handele. Jedenfalls bestehe bei den regelmäßig auf zwei Personen beschränkten sexuellen Kontakten die Gefahr von Infektionsketten nicht in gleichem Maße wie bei einigen vom Verordnungsgeber wieder zugelassenen Veranstaltungen mit einer Vielzahl von über längere Zeit in geschlossenen Räumen anwesenden Personen oder anderen Einrichtungen, deren Öffnung für den Publikumsverkehr wieder gestattet sei. Zu einer erhöhten Atemaktivität und dem damit verbundenen Aerosolausstoß komme es gleichermaßen in Sportstätten und Fitnessstudios. In geschlossenen Räumen wie Konzert- und Theatersälen dürfte das Aerosolvolumen auch ohne körperliche Anstrengung größer sein als bei sexuellen Handlungen von lediglich zwei Personen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass das Ansteckungsrisiko dabei größer sei als bei privaten Feiern mit einer Vielzahl von Personen, die zum Teil durch eine ausgelassene Atmosphäre und Alkoholkonsum geprägt seien. Damit in Einklang stehe der Befund, dass die Erbringung von sexuellen Dienstleistungen in elf Bundesländern mit bestimmten Maßgaben wieder erlaubt sei.

Der Verordnungsgeber habe auch nicht aufgezeigt, dass den verbleibenden Infektionsgefahren generell nicht durch die Anordnung von Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen begegnet werden könne, wie dies bei anderen erlaubten Zusammenkünften der Fall und beispielsweise von den Städten Fürth und Nürnberg in entsprechenden Verfügungen umgesetzt worden sei. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die Einhaltung branchenspezifischer Schutzmaßnahmen grundsätzlich dem Geschäftsmodell der Prostitution zuwiderlaufe. Auch müsse die Erhebung von Kundenkontaktdaten und Aufenthaltszeiträumen nicht an der in dem Gewerbe üblicherweise eingeforderten Diskretion scheitern, zumal bereits die Vorlage von Ausweispapieren oder eine anonyme Datenerhebung über einen QR-Code diskutiert werde. Die Anordnung von Hygiene- und Infektionsschutzstandards scheide auch nicht deshalb aus, weil sich deren Einhaltung nicht effektiv kontrollieren ließe. Sowohl die Prostituierten als auch ihre Kunden hätten ein ureigenes Interesse an einer Verringerung des Ansteckungsrisikos. Die Beachtung der einschlägigen Vorschriften liege auch im Interesse der Betreiber von Prostitutionsstätten, um erneute Maßnahmen des Verordnungsgebers und im Fall der Zuwiderhandlung drohende Betriebsschließungen zu vermeiden.

Die für die einstweilige Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm sprechenden Gründen überwögen auch die für ihren weiteren Vollzug streitenden gegenläufigen Interessen, Die angegriffene Norm führe zu erheblichen Grundrechtseingriffen. Sie (die Antragstellerin) beziehe aus ihrem Betrieb ihr Einkommen. Sie sei seit rund sieben Monaten „außer Gefecht gesetzt“. Die finanziellen Reserven seien inzwischen aufgebraucht. Ein weiteres de facto-Berufsverbot sei für sie wirtschaftlich existenzbeendend.

Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten.

Er macht geltend, es sei nicht ganz klar, welches Ziel die Antragstellerin verfolge, weil sie teils von erotischen Massagen, teils von BDSM-/Domina-Leistungen ohne Geschlechtsverkehr spreche. Darauf komme es aber nicht an, weil das Betriebsverbot in § 13 Nr. 2 CoronaVO auch solche Dienstleistungen zu Recht erfasse. Der Senat habe bisher alle Anträge von Betreibern von Prostitutionsstätten gegen die genannte Norm abgelehnt und hervorgehoben, dass die infektionsschutzrechtliche Risikobewertung nicht davon abhänge, dass es in dem Betrieb tatsächlich zu Geschlechtsverkehr komme. Ziel der sexuellen Dienstleistungen sei stets die Herbeiführung einer sexuellen Erregung des Kunden. Diese gehe mit einem verstärkten Aerosolausstoß in geschlossenen Räumen einher. Gemein hätten sexuelle Dienstleistungen außerdem in der Regel einen nicht nur punktuellen Körperkontakt zwischen Dienstleisterin und Kunde. Eine weitergehende Subdifferenzierung nach einzelnen sexuellen Praktiken komme daher aus infektionsschutzrechtlichen Gründen nicht in Betracht. Eine Differenzierung verbiete sich außerdem deshalb, weil bei allen sexuellen Dienstleistungen nicht gewährleistet werden könne, dass Infektionen durch eine Erhebung von Kundendaten nachverfolgt werden könnten, da zahlreiche Kunden, wie der Senat bereits mehrfach entschieden habe, ihre Besuche verheimlichen wollten. Auch eine Ungleichbehandlung von Prostitutionsstätten gegenüber anderen körpernahen Dienstleistungen bestehe mangels Vergleichbarkeit nach wie vor nicht.

Der Antragsgegner sei sich bewusst, dass die Betriebsschließungsanordnung in § 13 Nr. 2 CoronaVO für die Antragstellerin und die übrigen Betroffenen eine sehr große Belastung darstelle. Sie sei ihnen aber zumutbar. Der Senat habe in mehreren Beschlüssen, unlängst wieder am 31.08.2020 (-1 S 2455/20 -), festgestellt, dass das Betriebsverbot angemessen sei. Zu einer neuen Einschätzung gebe es keinen Anlass. Angesichts der wieder signifikant ansteigenden Fallzahlen und dem mit weiteren „Lockerungen“ verbundenen Risiko eines exponentiellen Anstiegs des Infektionsgeschehens sei eine weitere Rücknahme von Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht möglich. Der Verordnungsgeber sehe die Infektionsgefahr, die von einer Öffnung des Betriebs von Prostitutionsstätten ausgehe, zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiterhin als nicht beherrschbar an. Die Zahl der Neuinfektionen steige derzeit bundes- und landesweit in besorgniserregendem Umfang an. Am 30.09.2020 habe es allein in Baden-Württemberg 286 Infektionen gegeben. Die Reproduktionszahl bzw. der 7-Tage-R-Wert sei vom RKI für Baden-Württemberg mit 1,09 angegeben worden. Auf der Grundlage dieser Entwicklung habe der Ministerpräsident am 29.09.2020 nach einer Videokonferenz mit der Bundeskanzlerin ausdrücklich betont, dass aktuell „kein Platz für weitere Corona-Lockerungen“ sei. Auch die Bundekanzlerin habe ihre Besorgnis über die aktuelle Infektionslage zum Ausdruck gebracht und davor gewarnt, dass es bei einem mit dem derzeitigen Tempo anhaltenden Infektionsgeschehen zum Jahresende bis zu 19.200 Infektionen pro Tag geben könnte, wenn seitens der Länder nicht zeitnah Eindämmungsmaßnahmen ergriffen würden. Dies seien Szenarien, bei denen der Antragsgegner die drohende Belastung des Gesundheitswesens sehr ernsthaft in den Blick nehmen müsse. Dass die Kapazitäten des Gesundheitswesens bislang noch nicht hätten ausgereizt werden müssen, bedeute nicht, dass sie unbegrenzt seien. Ziel sei es, ein weitgehendes Herunterfahren des sozialen Lebens in den Herbst- und Wintermonaten, unter anderem flächendeckende Kita– und Schulschließungen, zu vermeiden. Wenn man dieses Ziel erreichen wolle, könne es kein „Weiter so“ mit Lockerungsmaßnahmen geben.

Der Verordnungsgeber verfolge mit den aktuell angeordneten Maßnahmen zwei zentrale Leitlinien. Zum einen gehe es darum, spezifische Infektionsrisiken zu vermeiden. Zum anderen sei die Sicherstellung der Nachverfolgung von Infektionsrisiken von zentraler Relevanz. Eine schnelle, zuverlässige und lückenlose Rückverfolgung von Infektionsketten über die Erhebung von Kundendaten sei in Prostitutionsstätten aber weiterhin lebensfremd. Die Erfahrungen der vergangenen Monate hätten gezeigt, dass die Durchsetzung von dahingehenden Pflichten schwierig sei, weil Besucher von Restaurants teils Fantasienamen angegeben hätten.

Das aktuelle Gesamtkonzept des Antragsgegners schaffe Spielregeln für das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger, die dem Bedürfnis nach „Normalität“ auf der einen Seite und dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot des Infektionsschutzes auf deren anderen Seite gerecht würden. Diese Spielregeln gelte es vorerst beizubehalten, bis absehbar sei, dass die Gefahr einer sog. „zweiten Welle“ gebannt sei. Bis dahin bleibe es bei dem vom Ministerpräsidenten ausgesprochenen Leitsatz, wonach derzeit „kein Platz für weitere Corona-Lockerungen“ sei.

Auch die im Rahmen von § 47 Abs. 6 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung gehe, wie es der Senat in anderen Prostitutionsstätten betreffenden Fällen wiederholt entsprechend entschieden habe, zu Lasten der Antragstellerin aus. Den potenziellen, sehr gravierenden Folgen für Leib und Leben einer Vielzahl vom Coronavirus Betroffener und der Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems Deutschlands komme ein größeres Gewicht zu als den wirtschaftlichen Interessen der Betreiber von Prostitutionsstätten. Die Antragstellerin habe außerdem die von ihr behauptete Existenzgefährdung nicht substantiiert dargelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Der Antrag der Antragstellerin (1.) hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Er ist zulässig (2.) und überwiegend begründet (3.).

1. Der Antrag der Antragstellerin ist bei sachdienlicher Auslegung (§ 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO) darauf gerichtet, § 13 Nr. 2 CoronaVO vom 23.06.2020 in der Fassung der Zweiten Änderungsverordnung vom 22.09.2020 gemäß § 47 Abs. 6 VwGO vorläufig außer Vollzug zu setzen.

Die gegen die Bestimmtheit dieses Antrags gerichteten Bedenken des Antragsgegners teilt der Senat nicht. Unbegründet ist insbesondere sein Einwand, es sei „nicht ganz klar“, welches Ziel die Antragstellerin verfolge. Sie hat unmissverständlich erklärt, dass sie begehrt, dass § 13 Nr. 2 CoronaVO „in vollem Umfang“ (Antragsschriftsatz S. 9) außer Vollzug gesetzt wird. Dieses eindeutige Antragsbegehren verliert seine Bestimmtheit nicht dadurch, dass die Antragstellerin zur Begründung ihres Antrags unter anderem erläutert hat, dass sie nach einem Wegfall des Betriebsverbots aus Gründen des Infektionsschutzes einstweilen zugunsten von anderen sexuellen Dienstleistungen darauf verzichten will, Geschlechtsverkehr in ihrem Betrieb anzubieten.

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2. Der Antrag ist zulässig.

Ein Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig, wenn ein in der Hauptsache gestellter oder noch zu stellender Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO voraussichtlich zulässig ist (vgl. zu dieser Voraussetzung Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 47 Rn. 387) und die gesonderten Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

a) Die Statthaftigkeit des Antrags in der Hauptsache folgt aus § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, § 4 AGVwGO. Danach entscheidet der Verwaltungsgerichtshof auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO über die Gültigkeit von im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften. Dazu gehören Verordnungen – wie hier – der Landesregierung.

b) Die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist gewahrt.

c) Die Antragstellerin ist antragsbefugt. Die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO hat jede natürliche oder juristische Person, die geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Es genügt dabei, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich erscheint (ausf. dazu Senat, Urt. v. 29.04.2014 – 1 S 1458/12 – VBlBW 2014, 462 m.w.N.). Nach diesem Maßstab besteht die Antragsbefugnis. Es ist nicht von vornherein nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt ist.

d) Für den Antrag in der Hauptsache und den nach § 47 Abs. 6 VwGO liegt auch ein Rechtsschutzinteresse vor. Denn mit einem Erfolg dieser Anträge könnte die Antragstellerin ihre Rechtsstellung jeweils verbessern.

3. Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist auch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Satzung oder Rechtsvorschrift zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 – 4 VR 5.14 -, ZfBR 2015, 381; Beschl. v. 16.09.2015 – 4 VR 2/15 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 09.08.2016 – 5 S 437/16 -, juris m.w.N.; Beschl. v. 13.03.2017 – 6 S 309/17 – juris). Mit diesen Voraussetzungen stellt § 47 Abs. 6 VwGO an die Aussetzung des Vollzugs einer untergesetzlichen Norm erheblich strengere Anforderungen, als § 123 VwGO sie sonst an den Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt (BVerwG, Beschl. v. 18.05.1998 – 4 VR 2/98 – NVwZ 1998, 1065).

An diesen Maßstäben gemessen ist der Antrag der Antragstellerin überwiegend begründet. Ein gegen § 13 Nr. 2 CoronaVO noch zu stellender Normenkontrollantrag würde aller Voraussicht nach Erfolg haben (a). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch mit der aus dem Tenor ersichtlichen zeitlichen Maßgabe geboten (b).

a) Ein Normenkontrollantrag gegen § 13 Nr. 2 CoronaVO wäre voraussichtlich begründet. Die Norm ist mit dem dort geregelten pauschalen, sämtliche in seinen Geltungsbereich fallenden Betriebe einzelfallunabhängig und nahezu ohne Ausnahmemöglichkeit erfassenden, seit knapp sieben Monaten geltenden Betriebsverbot inzwischen rechtswidrig.

aa) Für die Regelungen in § 13 Nr. 2 CoronaVO besteht eine ausreichende Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG. Wenn – wie im Fall des Coronavirus unstreitig der Fall – eine übertragbare Krankheit festgestellt ist, können nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit durch eine Verordnung der Landesregierung getroffen werden. Mit solchen repressiven Bekämpfungsmaßnahmen gehen zulässigerweise auch stets präventive Wirkungen einher, solche präventiven Folgen sind gerade bezweckt. Daher ist die Landesregierung insbesondere nicht auf Maßnahmen nach § 16 oder § 17 IfSG beschränkt. Dabei ermächtigt § 28 Abs.1 IfSG nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers zu Maßnahmen auch gegenüber Nichtstörern (vgl. ausf. zum Ganzen Senat, Beschl. v. 09.04.2020 – 1 S 925/20 – juris; Beschl. v. 23.04.2020 – 1 S 1003/20 -; je m.w.N.).

bb) Die Verordnungsermächtigung des § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG verstößt nicht gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Berufsregelnde Gesetze fallen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht unter das Zitiergebot (vgl. auch hierzu bereits Senat, Beschl. v. 09.04.2020 und v. 23.04.2020, je a.a.O.).

cc) Ob die Vorschrift des § 32 Satz 1 und 2 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG im Hinblick auf die Anordnung der Schließung von Einrichtungen gegenüber Personen, die sich insoweit auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen können, dem Parlamentsvorbehalt genügt, ist offen (vgl. ebenfalls ausf. Senat, Beschl. v. 09.04.2020, a.a.O.; in Bezug auf gewerblich betriebene Prostitutionsstätten Senat, Beschl. v. 31.08.2020 – 1 S 2455/20 -, v. 13.07.2020 – 1 S 1907/20 -, v. 08.06.2020 – 1 S 1615/20 -, v. 08.06.2020 – 1 S 1626/20 -, v. 04.06.2020 – 1 S 1617/20 – und v. 04.06.2020 – 1 S 1629/20 -).

dd) Die durch § 13 Nr. 2 CoronaVO angeordnete Schließung von Prostitutionsstätten erweist sich inzwischen aber jedenfalls aus anderen Gründen als verfassungswidrig. Sie begründet einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 GG, der im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung des Senats nicht mehr verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, sondern sich als unverhältnismäßig erweist.

(1) Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG ist eröffnet. Die Antragstellerin geht mit dem Betrieb ihrer Prostitutionsstätte einer – nicht verbotenen (vgl. §§ 3 ff., 24 ff. ProstSchG) – auf Erwerb gerichteten, auf Dauer angelegten und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dienenden Tätigkeit nach (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 07.03.2017 – 1 BvR 1314/12 – BVerfGE 145, 20) und übt damit einen Beruf im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG aus.

(2) In den Schutzbereich dieses Grundrechts greift der Antragsgegner mit § 13 Nr. 2 CoronaVO schwerwiegend ein. Die Vorschrift ist mit dem vom Antragsgegner gewählten Begriff der „Spielregel“ nur unzureichend umschrieben. Denn sie stellt die Ausübung des Berufs der Antragstellerin unter ein umfassendes Verbot, das – von der nur auf „wichtige Gründe“ zugeschnittenen und daher in aller Regel bereits tatbestandlich nicht einschlägigen sowie selbst dann noch Ermessen eröffnenden „Abweichungsvorschrift“ in § 20 Abs. 2 CoronaVO abgesehen – ausnahmslos gilt.

(3) Dieser gravierende Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 GG ist im Zeitpunkt der vorliegenden Senatsentscheidung nicht mehr gerechtfertigt.

In das durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht der Berufsfreiheit darf nur auf gesetzlicher Grundlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden (stRspr; vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 07.03.2017, a.a.O., m.w.N.). Der Eingriff muss zur Erreichung eines legitimen Eingriffsziels geeignet sein und darf nicht weiter gehen, als es die Gemeinwohlbelange erfordern; ferner müssen Eingriffszweck und Eingriffsintensität in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2017, a.a.O., m.w.N.; ausf. dazu auch Senat, Beschl. v. 31.08.2020, a.a.O., v. 30.04.2020 – 1 S 1101/20 – und v. 09.04.2020, a.a.O., jeweils m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird die angefochtene Vorschrift inzwischen nicht mehr gerecht. Sie dient zwar einem legitimen Zweck (a) und stellt ein geeignetes (b) sowie erforderliches Mittel dar (c). Der im Kern bereits mit § 4 Abs. 1 Nr. 9 der (ersten) Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 16.03.2020 in Kraft gesetzte und seither fortgeführte Verbotstatbestand in § 13 Nr. 2 CoronaVO erweist sich aber inzwischen als unangemessen (unverhältnismäßig im engeren Sinne, dazu (d)).

(a) § 13 Nr. 2 CoronaVO dient einem legitimen Zweck. Der Verordnungsgeber verfolgt damit das Ziel, das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer potentiell sehr großen Zahl von Menschen zu schützen und damit den sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebenden staatlichen Schutzauftrag zu erfüllen, indem Neuinfektionen mit dem Coronavirus möglichst verhindert werden und die Verbreitung des Virus zumindest verlangsamt wird (vgl. zur Legitimität dieser Zwecksetzung nur Senat, Beschl. v. 23.04.2020, a.a.O., und v. 09.04.2020, a.a.O.).

(b) Das Verbot in § 13 Nr. 2 CoronaVO stellt auch ein geeignetes Mittel dar, um dieses Ziel zu erreichen.

Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann, wobei dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Eignung ein Beurteilungsspielraum zusteht (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.06.1984 – 1 BvR 1494/78 – BVerfGE 67, 157, 173 ff.; Beschl. v. 09.03.1994 – 2 BvL 43/92 u.a. – BVerfGE 90, 145, 172 f.; je m.w.N.). Diese Anforderungen erfüllt § 13 Nr. 2 CoronaVO. Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus ist von der WHO als Pandemie eingestuft worden. Die bisherigen Erfahrungen in der Bundesrepublik und in anderen Staaten zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann. Die Schließung von Einrichtungen gemäß § 13 Nr. 2 CoronaVO ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet. Denn sie trägt zu Reduzierung der Sozialkontakte und damit zu einer Verlangsamung der Ausbreitung des Virus bei.

(c) Das Verbot in § 13 Nr. 2 CoronaVO ist zur Erreichung der von dem Verordnungsgeber verfolgten Ziele auch aller Voraussicht nach weiterhin im Rechtssinne erforderlich.

Ein Gesetz ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können, wobei dem Gesetzgeber auch insoweit ein Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.06.1984, a.a.O., und v. 09.03.1994, a.a.O., jeweils m.w.N.).

An diesen Maßstäben gemessen ist § 13 Nr. 2 CoronaVO derzeit voraussichtlich nach wie vor erforderlich. Die von der Antragstellerin aufgezeigten alternativen Maßnahmen – insbesondere die Ersetzung des derzeit normierten Betriebsverbots durch Verordnungsregelungen, mit denen den Betreibern, Prostituierten und Kunden strenge Vorgaben zur Hygiene und Datenerfassung aufgegeben werden – stellen Mittel dar, die sie zwar weniger belasten, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ebenso effektiv sind wie ein Totalverbot.

Der Senat hält insoweit insbesondere – auch in Kenntnis des von Antragstellerin vorgelegten Hygienekonzepts – an seiner Einschätzung fest, dass den Gefahren für eine schnelle und bei asymptomatischen Verläufen zunächst unerkannte Weiterverbreitung des Virus zwar dadurch teilweise begegnet werden kann, dass Kunden dazu verpflichtet werden, ihre persönlichen Daten zu hinterlassen, um es den Behörden zu erlauben, Infektionsketten nachzuvollziehen und möglichst frühzeitig zu unterbrechen (vgl. § 14 i.V.m. § 6 CoronaVO), dass aber eine solche Rückverfolgungsmöglichkeit im Prostitutionsgewerbe im Hinblick auf die üblicherweise eingeforderte Diskretion jedenfalls in vielen Fällen lebensfremd ist, weil zahlreiche Kunden von Prostitutionsbetrieben ihre Besuche dort verheimlichen wollen (vgl. nur Senat, Beschl. v. 20.08.2020 – 1 S 2347/20 – juris und v. 13.07.2020, a.a.O., m.w.N.). Die damit verbundenen Gefahren bestehen beim Betrieb einer Prostitutionsstätte, dagegen nicht bei einem vollständigen Verbot solcher Betriebe. Schon deshalb erweist sich die angefochtene Vorschrift nach wie vor als im Rechtssinne erforderlich.

(d) Das Verbot in § 13 Nr. 2 CoronaVO ist aber im Zeitpunkt der vorliegenden Senatsentscheidung nicht mehr verhältnismäßig im engeren Sinne. Eingriffszweck und Eingriffsintensität stehen gegenwärtig nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zueinander.

Der Antragsgegner verfolgt mit den oben beschriebenen Zielen den Schutz von hochrangigen, ihrerseits den Schutz der Verfassung genießenden wichtigen Rechtsgütern. Die Vorschrift dient, wie gezeigt, dazu, – auch konkrete – Gefahren für das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer potenziell großen Zahl von Menschen abzuwehren. Die angefochtene Norm bezweckt zugleich, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in Deutschland durch die Verlangsamung des Infektionsgeschehens sicherzustellen. Der Antragsgegner kommt damit der ihn aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich treffenden Schutzpflicht nach.

Der Senat misst den von dem Antragsgegner verfolgten Eingriffszwecken nach wie vor ein sehr hohes Gewicht bei. Er geht insbesondere davon aus, dass die Gefahren, deren Abwehr die angefochtene Vorschrift dient, weiterhin bestehen und sich ohne auch normative Gegenmaßnahmen in kurzer Zeit exponentiell vergrößern können. Das RKI führt in seiner aktuellen „Risikobewertung zu COVID-19“ (Stand 05.10.2020) unter anderem aus: „Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine dynamische und ernst zu nehmende Situation. Weltweit nimmt die Anzahl der Fälle weiterhin zu. Die Anzahl der neu übermittelten Fälle war in Deutschland von etwa Mitte März bis Anfang Juli rückläufig. Seit Ende Juli werden wieder deutlich mehr Fälle übermittelt, viele davon standen zunächst in Zusammenhang mit Reiseverkehr. Seit KW 35 werden wieder vermehrt Übertragungen in Deutschland beobachtet. Es kommt weiterhin bundesweit zu größeren und kleineren Ausbruchsgeschehen, insbesondere im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis und bei Gruppenveranstaltungen. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig. Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch“ (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html, zuletzt abgerufen am 05.20.2020). Diese Einschätzung des RKI beruht auf einer Auswertung der zurzeit vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und ist inhaltlich nachvollziehbar. Sie gibt dem Senat weiterhin Anlass, die vom Antragsgegner mit § 13 Nr. 2 CoronaVO verfolgten Zwecke mit einem sehr hohen Gewicht in die gebotene Abwägung einzustellen.

Auch unter Berücksichtigung dieses hohen Gewichts steht der Eingriffszweck im gegenwärtigen Zeitpunkt gleichwohl nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der Vorschrift verursachten Eingriffsintensität. Der Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin aus Art. 12 Abs. 1 GG wiegt außerordentlich schwer. Er erlangt bereits dadurch eine hohe Intensität, dass er sich nicht auf Maßgaben zur Art und Weise der Berufsausübung beschränkt, sondern ein Totalverbot darstellt, das in aller Regel – und so auch im vorliegenden Fall – keine Ausnahmen zulässt. Die mit der Berufsausübung verbundene Möglichkeit, einem Erwerb nachzugehen und die Grundlage für einen Lebensunterhalt zu schaffen, wird durch die Vorschrift nicht etwa nur beeinträchtigt, sondern in Bezug auf den – in Ausübung der grundrechtlich durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Freiheit – gewählten Beruf gegenwärtig vollständig beseitigt. Die dadurch bewirkte sehr hohe Eingriffsintensität wurde und wird dadurch weiter kontinuierlich vergrößert, dass das nahezu vollständige Verbot der Berufsausübung seit der (ersten) „Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2“ (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 16.03.2020 gilt und seither ununterbrochen fortgeführt wurde. Es ist damit inzwischen bereits seit knapp sieben Monaten in Kraft und soll nach dem Willen des Verordnungsgebers der derzeit geltenden Corona-Verordnung voraussichtlich für (jedenfalls) weitere knapp zwei Monate bis zum Ablauf des 30.11.2020 gelten. Dieser in Umfang und Dauer inzwischen krasse Grundrechtseingriff ist beim derzeitigen Stand der Infektionslage nicht mehr gerechtfertigt.

Der Senat verkennt nicht, dass aktuell ein erneuter Anstieg der Übertragung des Coronavirus in der Bevölkerung zu beobachten ist (vgl. näher dazu RKI, Lagebericht vom 05.10.2010, abrufbar unter www.rki.de). Dies rechtfertigt es zweifellos, weiterhin auch normative und mit Grundrechtseingriffen verbundene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen. Eingriffe von höchster Intensität, wie es bei einem mehrmonatigen – beim Außerkrafttreten der aktuellen Verordnung fast drei Quartale umfassenden – vollständigen und im Wesentlichen ausnahmslosen Berufsverbot der Fall ist, lassen sich auch in Kenntnis der derzeitigen Tendenz des Infektionsgeschehens in Bezug auf Prostitutionsstätten aber nicht mehr rechtfertigen. Dagegen spricht die aktuelle 7-Tages-Inzidenz, die deutschlandweit zuletzt bei 16,9 Fällen pro 100.00 Einwohner lag (vgl. RKI, Lagebericht vom 05.10.2020, a.a.O.), und der Umstand, dass nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft bundesweit aktuell kein Mangel an Intensiv- oder Beatmungsplätzen besteht (vgl. https://fr.reuters.com/article/virus-deutschland-krankenh-user-idDEKBN21O16W, zuletzt abgerufen am 05.10.2020). Hinzu kommt, dass Fallhäufungen bei Infektionen nach Erkenntnissen des RKI insbesondere im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis sowie unter anderem in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, verschiedenen beruflichen Settings und im Rahmen religiöser Veranstaltungen sowie in Verbindung mit Reisen bzw. Reiserückkehrern beobachtet werden (vgl. RKI, Lagebericht vom 05.10.2020, a.a.O.), und vom Antragsgegner nicht substantiiert dargelegt ist, dass sich Prostitutionsstätten in vergleichbarer Weise typischerweise zu „Superspreadern“ entwickeln. Für Letzteres ist – auch mit Blick auf die in anderen Bundesländern bereits seit geraumer Zeit erfolgte Wiederöffnung solche Betriebe – derzeit auch sonst nichts erkennbar. Das gilt umso mehr, als die Erbringung von sexuellen Dienstleistungen in der Regel auf die Anwesenheit von zwei Personen beschränkt ist und einen begrenzten Zeitraum umfasst, womit sie sich jeweils von Konstellationen wie Feiern in Familienkreis oder anderen Großveranstaltungen unterscheidet.

Auch in solchen Betrieben werden im Falle der Wiedereröffnung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit infektionsschutzrechtliche – nicht zuletzt mit Blick auf die Kontaktdatenerfassung spezifische – Gefahren entstehen. Diese Gefahren können Maßnahmen des Verordnungsgebers unterhalb der Schwelle zu einem vollständigen und ausnahmslosen Verbot rechtfertigen. Als geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen kommen insoweit insbesondere normative Vorgaben zur Aufstellung und Umsetzung von nachprüfbaren Hygienekonzepten sowie insbesondere zur möglichst effektiven und kontrollierbaren Erfassung von Kundendaten, Letzteres möglicherweise durch die Schaffung einer Rechtsgrundlage zur Kontrolle und Erfassung von Personalausweisen oder dergleichen durch Betreiber oder gegebenenfalls Verwendung von geeigneten Apps (vgl. zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten für Zwecke der Gesundheitsvorsorge und im Bereich der öffentlichen Gesundheit Art. 9 Abs. 2 Buchst. h und i DSGVO). Die Aufrechterhaltung eines wesentlich eingriffsintensiveren Totalverbots bis zum 30.11.2020 – oder gar faktisch auf unbestimmte Zeit – ist derzeit jedoch nicht mehr verhältnismäßig im engeren Sinne.

Der Antragsgegner kann dem nicht mit Erfolg seinen sinngemäßen Einwand entgegenhalten, das Betriebsverbot in § 13 Nr. 2 CoronaVO sei deshalb weiterhin angemessen, weil es angesichts der zurzeit wieder steigenden Infektionszahlen zur Vermeidung einer sog. zweiten Welle und eines erneuten sog. Lockdowns im Herbst oder Winter notwendig sei, das bestehende Gesamtschutzniveau zu halten, und es daher gegenwärtig kein „‚Weiter so‘ mit Lockerungsmaßnahmen“ geben könne.

Diese Betrachtung fällt verfassungsrechtlich zu undifferenziert aus. Es steht dem Verordnungsgeber frei zu prüfen, welche Maßnahmen er in der Gesamtschau für geboten hält, um die von ihm verfolgten – wie gezeigt legitimen – Ziele zu erreichen. Es ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zulässig, aufgrund einer solchen Gesamtbetrachtung zu einem bestimmten Zeitpunkt einen pauschalen, sämtliche Lebensbereiche betreffenden „Änderungsstopp“ in Bezug auf grundrechtseingreifende Maßnahmen zu praktizieren, ohne die in den einzelnen Lebensbereichen bis dahin bereits bewirkten Grundrechtseingriffe und deren konkrete Auswirkungen individuell zu betrachten. Der Verordnungsgeber ist durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vielmehr dazu verpflichtet, fortlaufend und differenziert zu prüfen, ob konkrete Grundrechtseingriffe, die einzelnen Grundrechtsträger bisher zugemutet wurden, inzwischen (auch) durch ihre Dauer eine unzumutbare Intensität erreicht haben (stRspr., vgl. nur Senat, Beschl. v. 20.08.2020, m.w.N.). Wenn Maßnahmen, insbesondere Betriebsuntersagungen, in Bezug auf individuelle Grundrechtsträger ein – wie hier – unzumutbares Ausmaß erreicht haben, sind die diese Eingriffe bewirkenden Vorschriften rechtswidrig und unwirksam. Der Verordnungsgeber kann in einem solchen Fall prüfen, ob er andere Maßnahme für geboten und verfassungsrechtlich zu rechtfertigen halten darf, falls das Gesamtschutzniveau durch den Wegfall der unzumutbaren Eingriffe seines Erachtens zu weit abgesunken ist. Es ist aber nicht zulässig, unzumutbare Eingriffe in die Grundrechte derselben Grundrechtsträger zur Beibehaltung eines gewünschten „Gesamtniveaus“ – zumal auf faktisch unbestimmte Zeit – aufrechtzuerhalten.

b) Aufgrund der, wie gezeigt (oben a)), Erfolgsaussichten in der Hauptsache besteht ein deutliches Überwiegen der von der Antragstellerin geltend gemachten Belange gegenüber den von dem Antragsgegner vorgetragenen gegenläufigen Interessen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher im Sinne von § 47 Abs.6 VwGO dringend geboten.

Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass die angefochtene, aller Voraussicht nach rechtswidrige und deshalb unwirksame Regelung sie in ihrer Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und ihren ökonomischen Belangen empfindlich trifft. Soweit der Antragsgegner dem entgegenhält, der diesbezügliche Vortrag sei nicht hinreichend substantiiert, nimmt er auch hier die – unstreitige – Dauer des Betriebsverbots und damit des vollständigen Wegfalls der diesbezüglichen Erwerbsmöglichkeit sowie die im vorliegenden Verfahren vorgelegte eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin vom 17.09.2020 nicht ausreichend in den Blick. Diese Belange der Antragstellerin überwiegen die gegenläufigen Interessen des Antragsgegners. Diese Interessen sind zwar von, wie gezeigt, sehr hohem Gewicht. Denn die infektionsschutzrechtlichen Regelungen dienen dem Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl vom Coronavirus Betroffener und der damit verbundenen Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems Deutschlands. Hieraus folgt aber nicht, dass die Antragstellerin Beschränkungen ihres Betriebs durch voraussichtlich rechtswidrige Regelungen bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens hinnehmen müsste.

Der Senat hat bei der Ausübung des ihm durch § 47 Abs. 6 VwGO eröffneten Ermessens allerdings auch berücksichtigt, dass der Antragsgegner zur Verfolgung der mit der angefochtenen Vorschrift verfolgten legitimen Ziele voraussichtlich Maßnahmen unterhalb der Schwelle von vollständigen und ausnahmslosen Betriebsuntersagungen ergreifen könnte, die sich als verhältnismäßig erweisen, und dass eine sofortige Außervollzugsetzung der Norm zum umgehenden und ersatzlosen Wegfall der Betriebsuntersagung mit erheblichen Nachteilen für die genannten Rechtsgüter Dritter verbunden sein könnte. Der Senat macht von seinem Ermessen deshalb in der Weise Gebrauch, dass er § 13 Nr. 2 CoronaVO mit der aus dem Tenor ersichtlichen (Übergangs-)Frist außer Vollzug setzt, um dem Antragsgegner Gelegenheit zu geben zu prüfen, ob und gegebenenfalls wie der von der rechtswidrigen Norm erfasste fragliche Bereich neu geregelt werden soll. Wie oben (unter 3.a)dd)) näher ausgeführt und vom Senat mit Blick auf die Zeit ab dem 01.10.2020 bereits mit Beschlüssen vom 22.09.2020 – 1 S 2752/20 – und nochmals vom 29.09.2020 – 1 S 2749/20 – hervorgehoben, besteht insoweit voraussichtlich insbesondere Anlass, die Schaffung von normativen Grundlagen zur Auferlegung strenger Hygienevorschriften sowie zur Verpflichtung zur zuverlässigen Datenerhebung für die Nachverfolgung von Infektionsketten in Betracht zu ziehen.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Streitwert ist danach nach der sich aus dem Antrag der Antragstellerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Da sich die Antragstellerin gegen die Schließung ihrer Prostitutionsstätte wendet, nimmt der Senat die Festsetzung des Streitwerts in Anlehnung an Nr. 54.2.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor. Danach ist für eine Gewerbeuntersagung der Streitwert nach dem Jahresbetrag des erzielten oder erwarteten Gewinns, mindestens auf 15.000,– EUR festzusetzen. Der Streitwert ist hier auf 15.000,– EUR zu bemessen, dieser ist im vorliegenden Eilverfahren wegen Vorwegnahme der Hauptsache nicht zu reduzieren (vgl. auch insoweit Senat, Beschl. v. 20.08.2020, a.a.O., und v. 13.07.2020, a.a.O.).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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