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Diskriminierung – Entschädigung


Entschädigung

Zusammenfassung:

Im anliegenden Urteil befasste sich der Europäische Gerichtshof mit der Frage, ob einem Stellenbewerber, auch dann eine Entschädigung unter Diskriminierungsgesichtspunkten verlangen kann, wenn eine Bewerbung aussschließlich mit dem Zweck erfolgt ist, im Falle der (beabsichtigten) Ablehnung eine Entschädigung zu erlangen. Der EuGH verneinte diese Frage und eröffnete damit nationalen Gerichten die Möglichkeit, eine Entschädigung im Einzelfall wegen Rechtsmissbräuchlichkeit nicht zuzusprechen.


Europäischer Gerichtshof

Az: C 423/15

Urteil vom 28.07.2016


Tenor

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sind dahin auszulegen, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, nicht unter den Begriff „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmungen fällt und, wenn die nach Unionsrecht erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.


Gründe

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) und von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23).

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Nils-Johannes Kratzer und der R+V Allgemeine Versicherung AG (im Folgenden: R+V) über Ansprüche auf Entschädigung, materiellen Schadensersatz und Unterlassung, die Herr Kratzer geltend macht, weil er meint, R+V habe ihn wegen seines Alters und seines Geschlechts diskriminiert, als sie seine Bewerbung um eine ausgeschriebene Stelle abgelehnt habe.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2000/78

Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“

In Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

a)      die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position einschließlich des beruflichen Aufstiegs;

…“

Art. 17 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“

 Richtlinie 2006/54

 Art. 1 der Richtlinie 2006/54 bestimmt:

„Ziel der vorliegenden Richtlinie ist es, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen.

Zu diesem Zweck enthält sie Bestimmungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf

a)      den Zugang zur Beschäftigung einschließlich des beruflichen Aufstiegs und zur Berufsbildung,

…“

In Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Im öffentlichen und privaten Sektor einschließlich öffentlicher Stellen darf es in Bezug auf folgende Punkte keinerlei unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben:

a)      die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position einschließlich des beruflichen Aufstiegs;

…“

Art. 18 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten treffen im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnungen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der einer Person durch eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts entstandene Schaden – je nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten – tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird, wobei dies auf eine abschreckende und dem erlittenen Schaden angemessene Art und Weise geschehen muss. …“

In Art. 25 der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten legen die Regeln für die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Anwendung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“

 Deutsches Recht

§ 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes vom 14. August 2006 (BGBl. 2006 I S. 1897) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AGG) lautet:

„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

§ 2 Abs. 1 AGG sieht vor:

„Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf:

1.      die Bedingungen, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen, für den Zugang zu unselbstständiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, sowie für den beruflichen Aufstieg,

… “

§ 6 Abs. 1 AGG bestimmt:

„Beschäftigte im Sinne dieses Gesetzes sind

1.      Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,

Als Beschäftigte gelten auch die Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis sowie die Personen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist.“

In § 7 Abs. 1 AGG heißt es:

„Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“

§ 15 Abs. 1 und 2 AGG lautet:

„(1)      Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

(2)      Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Im März 2009 schrieb R+V Trainee-Stellen für Hochschulabsolventen der Fachrichtungen Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsmathematik, Wirtschaftsinformatik und Jura aus.

Als Anforderungskriterien waren in der Ausschreibung ein sehr guter Hochschulabschluss, der nicht länger als ein Jahr zurückliegt oder innerhalb der nächsten Monate erfolgt, und qualifizierte, berufsorientierte Praxiserfahrung, z. B. durch Ausbildung, Praktika oder Werkstudententätigkeit, aufgeführt. Für Bewerbungen im Bereich Jura wurden außerdem das erfolgreiche Absolvieren beider Staatsexamina und eine arbeitsrechtliche Ausrichtung oder medizinische Kenntnisse verlangt.

Herr Kratzer bewarb sich um eine Trainee-Stelle der Fachrichtung Jura und betonte, dass er nicht nur alle in der Ausschreibung genannten Kriterien erfülle, sondern dass er als Rechtsanwalt und ehemaliger leitender Angestellter einer Versicherungsgesellschaft über Führungserfahrung verfüge und gewohnt sei, Verantwortung zu übernehmen und selbständig zu arbeiten. Er besuche außerdem einen Fachanwaltskurs für Arbeitsrecht und betreue wegen des Todes seines Vaters ein umfangreiches medizinrechtliches Mandat, so dass er im Medizinrecht über einen erweiterten Erfahrungshorizont verfüge.

Am 19. April 2009 lehnte R+V die Bewerbung von Herrn Kratzer ab. Sie könne ihm derzeit keine Einsatzmöglichkeit anbieten.

Am 11. Juni 2009 richtete Herr Kratzer eine schriftliche Beschwerde an R+V und machte einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 14 000 Euro wegen Altersdiskriminierung geltend.

Daraufhin lud R+V Herrn Kratzer für Anfang Juli 2009 zu einem Vorstellungsgespräch bei ihrem Personalleiter ein und wies darauf hin, dass die Absage automatisch generiert worden sei und so nicht ihren Intentionen entsprochen habe.

Herr Kratzer lehnte diese Einladung ab und schlug vor, nach Erfüllung des von ihm geltend gemachten Entschädigungsanspruchs über seine Zukunft bei R+V zu sprechen.

Er erhob beim Arbeitsgericht Wiesbaden eine Klage auf Entschädigung in Höhe von 14 000 Euro wegen Altersdiskriminierung. Anschließend erfuhr er, dass R+V die fraglichen vier Trainee-Stellen ausschließlich mit Frauen besetzt hatte, obwohl bei den für diese Stellen eingegangenen Bewerbungen die Verteilung auf die Geschlechter fast paritätisch gewesen war, und forderte daraufhin eine weitere Entschädigung in Höhe von 3 500 Euro aufgrund einer Diskriminierung wegen des Geschlechts.

Das Arbeitsgericht Wiesbaden wies die Klage ab. Die dagegen beim Hessischen Landesarbeitsgericht eingelegte Berufung von Herrn Kratzer blieb ebenfalls ohne Erfolg.

Daraufhin legte er Revision zum vorlegenden Gericht ein.

Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54 dahin gehend auszulegen, dass auch derjenige „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ sucht, aus dessen Bewerbung hervorgeht, dass nicht eine Einstellung und Beschäftigung, sondern nur der Status als Bewerber erreicht werden soll, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird:

Kann eine Situation, in der der Status als Bewerber nicht im Hinblick auf eine Einstellung und Beschäftigung, sondern zwecks Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen erreicht wurde, nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden?

 Zu den Vorlagefragen

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, unter den Begriff „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmungen fällt und ob eine solche Situation nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.

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Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig (vgl. u. a. Urteil vom 25. Oktober 2012, Rintisch, C-553/11, EU:C:2012:671, Rn. 15). In diesem Rahmen beschränkt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs darauf, sich anhand der Sach- und Rechtslage, wie sie das vorlegende Gericht dargestellt hat, zur Auslegung oder zur Gültigkeit des Unionsrechts zu äußern, um dem vorlegenden Gericht sachdienliche Hinweise für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu geben (vgl. u. a. Urteil vom 9. November 2006, Chateignier, C-346/05, EU:C:2006:711, Rn. 22).

Folglich sind die Vorlagefragen des Bundesarbeitsgerichts auf der Grundlage der Sachverhaltsangaben in der Vorlageentscheidung zu beantworten.

Nach der Vorlageentscheidung ist das Ausgangsverfahren dadurch gekennzeichnet, dass Herr Kratzer seine Bewerbung um eine Trainee-Stelle bei R+V nicht eingereicht hat, um diese Stelle zu erhalten, sondern nur, um den formalen Status als Bewerber zu erlangen, und zwar mit dem alleinigen Ziel, auf der Grundlage der Richtlinien 2000/78 und 2006/54 eine Entschädigung geltend zu machen.

Ein Sachverhalt, der Merkmale aufweist, wie sie in der Vorlageentscheidung beschrieben sind, fällt grundsätzlich nicht in den Geltungsbereich der Richtlinien 2000/78 und 2006/54.

Schon ihrem jeweiligen Titel nach betreffen diese Richtlinien den Bereich Beschäftigung und Beruf bzw. Arbeit und Beschäftigung.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich sowohl aus dem Titel und den Erwägungsgründen als auch aus dem Inhalt und der Zielsetzung der Richtlinie 2000/78, dass diese einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleich behandelt wird, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen aus einem der in ihrem Art. 1 genannten Gründe – darunter auch das Alter – bietet (vgl. u. a. Urteile vom 16. Oktober 2007, Palacios de la Villa, C-411/05, EU:C:2007:604, Rn. 42, vom 13. September 2011, Prigge u. a., C-447/09, EU:C:2011:573, Rn. 39, und vom 13. November 2014, Vital Pérez, C-416/13, EU:C:2014:2371, Rn. 28).

Ziel der Richtlinie 2006/54 ist nach ihrem Art. 1 Abs. 1, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen.

Insbesondere ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 sowie Art. 1 Abs. 2 Buchst. a und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54, dass diese Richtlinien für eine Person gelten, die eine Beschäftigung sucht, und zwar auch in Bezug auf die Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen für diese Beschäftigung (vgl. Urteil vom 19. April 2012, Meister, C-415/10, EU:C:2012:217, Rn. 33).

Bei einer Person, die eine Stellenbewerbung unter Umständen wie den in Rn. 29 des vorliegenden Urteils beschriebenen einreicht, ist jedoch offensichtlich, dass sie die Stelle, um die sie sich formal bewirbt, gar nicht erhalten will. Daher kann sie sich nicht auf den durch die Richtlinien 2000/78 und 2006/54 gewährten Schutz berufen. Eine andere Auslegung wäre unvereinbar mit dem von diesen Richtlinien verfolgten Ziel, zu gewährleisten, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ bzw. „in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“ gleich behandelt wird, indem dem Betroffenen ein wirksamer Schutz gegen bestimmte Diskriminierungen, u. a. beim „Zugang zur Beschäftigung“, geboten wird.

Eine solche Person kann zudem unter derartigen Umständen weder als Opfer im Sinne von Art. 17 der Richtlinie 2000/78 und Art. 25 der Richtlinie 2006/54 noch als eine Person, der ein Schaden entstanden ist, im Sinne von Art. 18 der Richtlinie 2006/54 angesehen werden.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darf sich niemand in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Europäischen Union berufen (vgl. Urteil vom 13. März 2014, SICES u. a., C-155/13, EU:C:2014:145, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Die Feststellung eines missbräuchlichen Verhaltens verlangt das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Tatbestandsmerkmals (vgl. Urteil vom 13. März 2014, SICES u. a., C-155/13, EU:C:2014:145, Rn. 31).

Was zum einen das objektive Tatbestandsmerkmal betrifft, muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der von der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde (vgl. insbesondere Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C-110/99, EU:C:2000:695, Rn. 52, und vom 13. März 2014, SICES u. a., C-155/13, EU:C:2014:145, Rn. 32).

Zum anderen erfordert eine solche Feststellung ein subjektives Tatbestandsmerkmal: Es muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils ist. Denn das Missbrauchsverbot greift nicht, wenn die fraglichen Handlungen eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines Vorteils (vgl. Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 75, vom 22. Dezember 2010, Weald Leasing, C-103/09, EU:C:2010:804, Rn. 30, und vom 13. März 2014, SICES u. a., C-155/13, EU:C:2014:145, Rn. 33).

Zum Beweis für das Vorliegen dieses zweiten Tatbestandsmerkmals, das auf die Absicht der Handelnden abstellt, kann u. a. der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C-110/99, EU:C:2000:695, Rn. 53 und 58, vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 81, vom 21. Februar 2008, Part Service, C-425/06, EU:C:2008:108, Rn. 62, sowie vom 13. März 2014, SICES u. a., C-155/13, EU:C:2014:145, Rn. 33).

Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind (vgl. Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C-110/99, EU:C:2000:695, Rn. 54, vom 21. Juli 2005, Eichsfelder Schlachtbetrieb, C-515/03, EU:C:2005:491, Rn. 40, vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 76, und vom 13. März 2014, SICES u. a., C-155/13, EU:C:2014:145, Rn. 34).

Ließe sich zum einen objektiv feststellen, dass trotz formaler Einhaltung der in den Richtlinien 2000/78 und 2006/54 vorgesehenen Bedingungen der Zweck dieser Richtlinien nicht erreicht wurde, und zum anderen, dass Herr Kratzer eine Scheinbewerbung um eine Stelle mit dem wesentlichen Ziel eingereicht hat, nicht diese Stelle anzutreten, sondern sich auf den durch diese Richtlinien gewährten Schutz zu berufen, um einen ungerechtfertigten Vorteil zu erlangen – was zu prüfen Sache des vorlegende Gerichts ist –, wäre somit anzunehmen, dass sich Herr Kratzer missbräuchlich auf diesen Schutz beruft.

Unter diesen Umständen sind Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, nicht unter den Begriff „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmungen fällt und, wenn die nach Unionsrecht erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.


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