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Elterngeld: Steuerklassenwechsel für höheres ist kein Rechtsmissbrauch

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen

Az.: L 13 EG 40/08

Urteil vom 12.12.2008

Vorinstanz: Sozialgericht Dortmund, Az.: S 11 EG 40/07, Entscheidung vom 28.07.2008


Auf die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.07.2008 wird die Klage des Klägers zu 2) abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1). Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Berücksichtigung eines Steuerklassenwechsels bei der Berechnung der Höhe des Elterngeldes.

Die Klägerin zu 1) ist Mutter der am 00.00.2007 geborenen N O.

Als Landesbeamtin war sie in der Gruppe A12 Stufe 05 der Landesbesoldungsordnung mit Bruttobezügen von monatlich 2927,08 Euro im Jahr 2007 (ohne Einmalzahlungen und vermögenswirksame Leistungen) eingestuft. Der Kläger zu 2), ihr Ehemann, ist Angestellter im öffentlicher Dienst und nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Gruppe 09 Stufe 04 mit entsprechenden Bruttobezügen (ohne Sonderzahlungen) von 2816,33 Euro eingruppiert.

Die Kläger hatten zunächst die Steuerklasse 4 gewählt. Mit Wirkung zum Mai 2007 – fünf Monate vor der Geburt ihrer Tochter N – wechselten die Kläger die Steuerklasse. Die Klägerin zu 1) wechselte in die Steuerklasse 3, der Kläger zu 2) in die Steuerklasse 5. Dadurch stieg das der Klägerin zu 1) ausgezahlte Nettoeinkommen um rund 316 Euro (von 2254,66 Euro auf 2570,68 Euro). Das monatliche Nettoeinkommen des Kl. zu 2) sank im Gegenzug um rund 469 Euro (von 1615,36 Euro auf 1146,03) Euro. Die Summe der Nettoeinkommen beider Eheleute sank damit monatlich um ca. 153 Euro und für den vom Steuerklassenwechsel betroffenen Zeitraum insgesamt um rund 766 Euro.

Am 17.10.2007 beantragte die Klägerin zu 1) für die ersten 12 Lebensmonate des Kindes Elterngeld. Der Kläger zu 2) meldete unter Hinweis auf spätere Antragstellung einen Anspruch für zwei Bezugsmonate an.

Mit Schreiben vom 24.10.2007 bat das Versorgungsamt E die Klägerin zu 1) um Mitteilung der Gründe für ihren Steuerklassenwechsel.

Mit Datum vom 28.10.2007 antworteten die Kläger, laut Einkommenssteuerrecht seien die Steuerklassen frei wählbar. Den Wechsel hätten sie vorgenommen, da sie aufgrund des höheren Bruttoeinkommens der Klägerin zu 1) von einer für sie günstigeren Steuerkonstellation ausgingen. Sie verwiesen dabei auf Ziffer 2.7.3.3 der Richtlinien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Bundeselterngesetz vom 18.12.2006.

Mit Bescheid vom 05.11.2007 gewährte das Versorgungsamt E unter der zwischen den Beteiligten nicht streitigen Berücksichtigung von beamtenrechtlichen Mutterschutzbezügen Elterngeld von monatlich 1485,97 Euro vom 02.10.2007 bis 01.10.2008. Dabei berechnete das Versorungsamt das Nettoeinkommen der Klägerin zu 1) auch für die Monate ab Mai 2007 unter Zugrundelegung der Steuerklasse 4 und ließ somit den Steuerklassenwechsel unbeachtet.

Den dagegen rechtzeitig erhobenen Widerspruch wies die Bezirksregierung Münster mit Bescheid vom 29.11.2007 zurück. Ein bewusst mit dem erkennbaren Ziel der Elterngelderhöhung vorgenommener Steuerklassenwechsel sei unbeachtlich, weil er kein schutzwürdiges Interesse verfolge.

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Klage haben die Kläger ihr Begehren weiter verfolgt.

Die Klägerin zu 1) hat erstinstanzlich beantragt,

den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 05.11.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2007 zu verurteilen, bei der Berechnung des Elterngeldanspruches von der tatsächlich gewählten Steuerklassenkonstellation auszugehen und dementsprechend höheres Elterngeld zu bewilligen

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf die angefochtenen Bescheide bezogen.

Mit dem angefochtenen Urteil vom 28.07.2008 hat das Sozialgericht Dortmund den Beklagten antragsgemäß verurteilt, bei der Berechnung des von der Kl. zu 1) beanspruchten Elterngeldes die tatsächlich gewählte Steuerklasse zugrunde zu legen. Nettoeinkommen im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 u. 2 i.V.m. Abs. 7 S. 1 BEEG sei das tatsächlich auch in Anbetracht des Lohnsteuerklassenwechsels, erzielte Nettoeinkommen. Wie das SG Augsburg im Urteil vom 08.07.2008 (S 10 EG 15/08) unter Hinweis auf die parlamentarische Diskussion zu Recht eingehend dargelegt habe, sei dem Gesetzgeber durchaus bewusst gewesen, dass eine entsprechende Steuerklassenwahl die Höhe des Elterngeldes beeinflussen könne. Wenn der Gesetzgeber trotzdem keine entsprechende Regelung in das Gesetz aufnehme, dürfe der Beklagte dies nicht zum Anlass nehmen, die ausdrücklich nicht vorgegebene fiktive Berechnung des in Bezug genommenen Nettoeinkommens über die Hintertür von Verwaltungsvorschriften bzw. Richtlinien doch noch einzuführen. Ungelöste Hausaufgaben des Parlaments bzw. des Gesetzgebers ließen sich dadurch nicht kompensieren. Somit sei der Beklagte gehalten, die nach dem Einkommenssteuergesetz mögliche und zulässige freie Steuerklassenwahl zu beachten und das so erzielte Nettoeinkommen der Berechnung des Elterngeldes zugrunde zu legen. Darin liege kein rechtsmissbräuchliches Verhalten, zumal sich wegen des Progressionsvorbehalts ohnehin eine faktische teilweise Besteuerung des Elterngeldes, insbesondere bei Niedrigverdienern, ergebe.

Seine rechtzeitig eingelegte Berufung hat der Beklagte durch die Bezirksregierung Münster damit begründet, die einschlägigen Richtlinien zum Bundeselterngeldgesetz erklärten einen Steuerklassenwechsel, der erkennbar allein den Anspruch auf Elterngeld erhöhen solle, für unbeachtlich, weil damit keine schutzwürdigen Interessen verfolgt würden. Es sei gesicherte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes zum Mutterschaftsgeld, dass eine anspruchsberechtigte Frau rechtsmissbräuchlich handele, wenn sie durch einen Steuerklassenwechsel allein den Zweck verfolge, einen höheren Zuschuss zu erhalten. Ähnlich habe das Bundesarbeitsgericht hinsichtlich der Überbrückungshilfe nach dem Ruhestandstarif der deutschen Bahn und des Aufstockungsbetrages nach dem Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit geurteilt. Da die Kläger die Steuerklassen ohne erkennbare steuerlich nachvollziehbare Gründe nützten, liege eine missbräuchliche Beeinflussung der elterngeldrelevanten Bemessensgrundlage vor. Der Steuerklassenwechsel sei daher unbeachtlich.

Der Vertreter des Beklagten beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.07.2008 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Dem schriftsätzlichen Vortrag der Kläger lässt sich der Antrag entnehmen,

die Berufung zurückzuweisen.

Es gebe keinerlei gesetzliche Regelung zum Steuerklassenwechsel in Bezug auf das Elterngeld. Daher könne ihr Steuerklassenwechsel auch nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden. Der Verweis des Beklagten auf die Verwaltungsvorschrift des Bundesfamilienministeriums sei verwunderlich. Laut den Richtlinien liege in der Regel kein Anhaltspunkt für Missbrauch vor, wenn der Partner mit der Lohnsteuerklasse 3 zumindest etwas mehr als der andere Partner verdiene, weil die Grenzen, bis zu der die Steuerklassenkombination 4/4 günstiger ist, nicht allgemein bekannt seien. Die ungelösten Hausaufgaben des Gesetzgebers könnten durch die Richtlinien zum Elterngeld nicht kompensiert werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird verwiesen auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten und die Gerichtsakte.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne die Kläger verhandeln und entscheiden, weil die ordnungsgemäß zugestellte Ladung sie auf diese Möglichkeit hingewiesen hat, vgl. § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG.

Klage und Berufung richten sich, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, inzwischen gegen den Beklagten, weil nach der Auflösung der Versorgungsämter durch das 2. Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in NRW vom 30.10.2007 (GVBl. NRW 2007, S. 482) die Versorgungsämter mit Ablauf des 31.12.2007 aufgelöst worden sind und der Beklagte seit dem 01.01.2008 für Aufgaben nach dem BEEG zuständig ist. Dadurch hat der Beklagte kraft Gesetzes gewechselt; einer Zustimmung der Beteiligten dazu bedurfte es nicht.

Die zulässige Berufung ist im tenorierten Umfang begründet. Auf die Berufung des Beklagten war die Klage des Klägers zu 2) abzuweisen, weil sie von vornherein unzulässig war. Streitgegenstand des Verfahrens war nur der Bescheid vom 05.11.2007, der an die Klägerin zu 1) adressiert war und der nur die Zahlung des Elterngeldes für die ersten 12 Lebensmonate an sie regelte. Rechte des Klägers zu 2) berührte dieser Bescheid nicht. Für seine dagegen erhobene Klage fehlte ihm die Klagebefugnis. Der Kläger zu 2) hat weder dargetan noch ist sonst ersichtlich, wie der allein an seine Ehefrau adressierte und ausschließlich ihre Rechte regelnde Bescheid ihn im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG beschweren könnte. Dementsprechend hat das Sozialgericht auch keinen Antrag des Klägers zu 2) aufgenommen oder darüber im Tenor seines Urteils entschieden.

Im Übrigen, soweit sie die Klage der Klägerin zu 1) betrifft, ist die zulässige Berufung unbegründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht dazu verurteilt, bei der Berechnung ihres Elterngeldes auch ab Mai 2007 von der dann tatsächlich gewählten Steuerklasse 3 und den sich daraus ergebenen Steuerabzugsbeträgen auszugehen.

Zwar haben die Kläger angesichts ihres annähernd gleich hohen Bruttoeinkommens mit der Wahl der Steuerklassen 3 für die Klägerin zu 1) und 5 für den Kläger zu 2) ihre Steuerlast rein steuerlich gesehen unnötig erhöht, weil diese Steuerklassenkombination erst ab einer Einkommensverteilung von etwa 60 zu 40 Prozent die Steuerlast zu optimieren beginnt (vgl. Wrede, Betriebsberater (BB) 1996, S. 566). Unterhalb dieser Grenze führt sie zu einem überhöhten Lohnsteuervorabzug. Die Steuerklassenwahl der Kläger hatte einerseits das Nettoeinkommen der Klägerin zu 1) monatlich um 316 Euro erhöht, das addierte Nettoeinkommen der Kläger durch die stärkere vorläufige Verlagerung der Steuerlast auf den Kläger zu 2) monatlich jedoch im Ergebnis um 153 Euro gesenkt.

Indes lässt das Steuerrecht die Wahl einer solchen – rein steuerlich gesehen – ungünstigen Steuerklasse in § 39 Abs. 3 b S. 2 EStG ohne Weiteres zu. Der Wechsel der Klägerin in die Steuerklasse 3 verstieß auch weder gegen die Vorschriften des Bundeselterngeld- und Erziehungszeitgesetzes (BEEG) (1.), noch war er rechtsmissbräuchlich und daher unbeachtlich für die Elterngeldberechnung (2.).

1.

Die Vorschriften des BEEG schließen einen Wechsel in eine – von der vorläufigen Steuerlast her gesehen – ungünstigere Steuerklasse zur Erzielung höheren Elterngelds nicht aus. Der geringere Lohnsteuervorabzug beim Elterngeldberechtigten infolge eines solchen Steuerklassenwechsels erhöht vielmehr die Bemessungsgrundlage des Elterngelds.

a) § 2 Abs. 7 Satz 1 BEEG definiert Einkommen als den Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten (u.A.) reduziert um die auf dieses Einkommen entfallenden Steuern. Als auf das Einkommen entfallende Steuern gelten für die Eltergeldberechnung nach § 2 Abs. 7 S. 3 BEEG die (regelmäßig im Wege des Lohnsteuervorabzugs) „abgeführten“ Lohnsteuern. Daher kann die Berechnung nach S. 4 der Vorschrift aufgrund der monatlichen Lohn- und Gehaltsbescheinigungen des Elterngeldberechtigen erfolgen und deren Angaben zum Lohnsteuervorabzug übernommen werden (vgl. Begründung zur Gesetz gewordenen Beschluss-Empfehlung des federführenden Ausschusses für Familie, Frauen, Senioren und Jugend, BT-Drs.16/2785, S.44, linke Spalte sowie nunmehr Ziffer 2.7.3.1 der Anwendungshinweise des Bundesfamilienministeriums).

b) Dieser eindeutige Wortlaut des BEEG ist nicht nach Sinn und Zweck einschränkend dahingehend auszulegen, dass ein allein zur Erhöhung des Elterngelds vorgenommener Wechsel in eine – mit Blick auf die gemeinsame Steuerlast der Ehegatten – ungünstigere Steuerklasse für die Elterngeldberechnung unbeachtlich wäre. Ein solcher Gesetzeszweck lässt sich weder dem Wortlaut (aa) noch der Entstehungsgeschichte des BEEG (bb) entnehmen.

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(aa) Der Zweck des BEEG lässt sich nicht allein auf den Ersatz des nach Steuern erzielten Erwerbseinkommens reduzieren. Das Elterngeld zielt darauf ab, Eltern in der Frühphase der Elternschaft zu unterstützen und dazu beizutragen, dass sie in diesem Zeitraum selbst für ihr Kind sorgen können. Dafür soll jeder betreuende Elternteil, der seine Erwerbstätigkeit unterbricht oder reduziert, einen an seinem individuellen Einkommen „orientierten“ Ausgleich für finanzielle Einschränkungen im ersten Lebensjahr des Kindes erhalten (BEEG-Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Drucksache 16/1889, S. 2, 1. Spiegelstrich). Das Elterngeld bildet das Nettoeinkommen des betreuenden Elternteils dafür auf der Grundlage der § 2 ff. BEEG allerdings nicht eins zu eins ab; vielmehr hat der Gesetzgeber das Prinzip der Einkommensersatzleistung vielfältig durchbrochen. Das zeigt einerseits die Ausnahme von Einmal- sowie von steuerfreien Zahlungen (vgl. Senat, Urteil vom 26.09.2008 – L 13 EG 27/08 – JURIS), andererseits etwa die Gewährung des Geschwisterbonus in § 2 Abs. 4 BEEG sowie die Aufstockungsregeln für Einkommen unter 1000 Euro in § 2 Abs. 2 BEEG.

Ebenso wenig überzeugt der Einwand der Beklagten, das nach dem Wechsel der Steuerklasse erzielte Erwerbseinkommen spiegele nicht die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der Antrag stellenden Person wider. Denn das BEEG nimmt nicht den Elterngeldberechtigten isoliert, sondern die Ehegatten als Erwerbsgemeinschaft im Blick, wie etwa die Regelung zu den Partnermonaten in § 4 Abs. 2 S. 2 BEEG sowie die Anrechnungsregel des § 4 Abs. 3 S. 2 BEEG zeigen. Das Elterngeld soll auch dazu dienen, die Lasten von Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung zwischen den Ehepartner gerechter zu verteilen. Vor diesem Hintergrund läuft eine zeitweilige Verschiebung der Steuerlast innerhalb der Erwerbsgemeinschaft der Eltern zum Zweck des Bezugs höheren Elterngelds den Zwecken des BEEG nicht zuwider. Noch weniger liegt darin eine Verletzung von Gemeinwohlinteressen, wie die Beklagte meint.

(bb) Wie das SG zu Recht ausgeführt hat, spricht zudem der Gang der parlamentarischen Erörterungen eher für eine Absicht des Gesetzgebers, einen Steuerklassenwechsel, wie ihn die Klägerin vorgenommen hat, zuzulassen (so schon SG Augsburg Urt. v. 08.07.2008 – S 10 EG 15/08 Juris Rz. 12 m.w.Nw.; ebenso SG Aachen, Urt. v.23.09.2008 S 13 EG 36/07 Juris Rz. 22 m.w.Nw.). Denn die Opposition im Bundestag hatte das Problem des niedrigeren Verdienstes von Müttern mit der Steuerklasse 5 konkret angesprochen und sogar darauf hingewiesen, ein Wechsel der Steuerklasse werde bei der Berechnung des Arbeitsgeberzuschusses zum Mutterschaftsgeld (vgl. dazu etwa BAG, Urt. v. 18.09.1991 – 5 AZR 581/90 Juris, Rz. 15 ff.) als unzulässig angesehen (Redebeitrag der Abgeordneten Lenke (FDP) zur abschließenden Lesung des BEEG-Entwurfs, BT-Plenarprotokoll 16/55, Seite 5357 A). Demgegenüber hatten Abgeordnete der Regierungsfraktionen in der Debatte betont, ein Wechsel in die Steuerklasse 3 sei jederzeit ohne Weiteres möglich (BT-Plenarprotokoll 16/55, Seite 5356). Wörtlich hat die parlamentarische Staatssekretärin aus dem Bundesfinanzministerium Dr. I (SPD) ausgeführt (BT-Plenarprotokoll 16/55 , S. 5356, rechte Spalte Buchstabe D):

„Wenn eine Frau schwanger wird, dann kann sie also zum Finanzamt gehen und eine andere Steuerklasse wählen, so dass der Berechnung des Elterngeldes dann natürlich ein anderes Einkommen zugrunde liegt“ (das Protokoll verzeichnet Beifall bei der SPD und der CDU/CSU).

An solchen eindeutigen Äußerungen der Vertreter der parlamentarischen Mehrheit im Gesetzgebungsverfahren muss sich der Gesetzgeber festhalten lassen (vgl. K.F. u. H.C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage, § 79, S. 627 f.).

Anders als der Beklagte meint, lässt sich der ursprünglichen Gesetzesbegründung ebenfalls kein dem freien Steuerklassenwechsel entgegenstehender Wille des Gesetzgebers entnehmen. Soweit die Begründung ausführt (Beschlussempfehlung und Bericht des federführenden Ausschusses für Familien, Frauen, Senioren und Jugend, BT-Drucksache 16, 2785, S. 43) , steuerrechtlich zulässige Gestaltungsoptionen sollten nicht den Bezug eines deutlich erhöhten Elterngeldes ermöglichen, bezieht sich diese Passage, wie der Zusammenhang zeigt, nur auf die Bestimmung des Begriffs der positiven Einkünfte. Insoweit hat der Gesetzgeber aber – anders als beim Steuerklassenwechsel – eine an sich steuerrechtlich zulässige Gestaltungsoption, nämlich die Geltendmachung negativer Einkünfte und damit den Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten, im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des federführenden Ausschusses für Familien, Frauen, Senioren und Jugend, BT-Drucksache 16, 2785, S. 43).

Die vom Beklagten zitierten Anwendungshinweise des Bundesfamilienministeriums spiegeln ebenfalls nicht den Willen des Gesetzgebers wider. Nicht einmal der parlamentarische Gesetzgeber kann durch eine nachträgliche Willensäußerung nach Abschluss des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens, etwa durch eine „klarstellende“ Gesetzesänderung, eine „authentische Interpretation“ seines – angeblichen – ursprünglichen Willens erzwingen, soweit dieser nicht hinreichend im Gesetzestext zum Ausdruck gekommen war (vgl. BSG, Urteil vom 29.08.2006 – B 13 RJ 47/04 R – JURIS, Randziffer 67 ff. mit weiteren Nachweisen). Dies gilt umso mehr für norminterpretierende Verwaltungsvorschriften des federführenden Ministeriums.

2.

Der Steuerklassenwechsel der Klägerin verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben; er ist nicht rechtsmissbräuchlich und daher von der Beklagten zu beachten.

Will der Gesetzgeber vermeiden, dass Bürger gesetzlich eingeräumte Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, kann er entsprechende Vorschriften erlassen. Ansonsten dürfen Berechtigte vom Gesetz gewährte Vergünstigungen ohne Einschränkung in Anspruch nehmen, wenn sie deren Voraussetzungen erfüllen (vgl. BSGE 41, 263, 267 ff.).

Allerdings hat das Bundessozialgericht den Grundsatz von Treu und Glauben und dessen Unterfall des Rechtsmissbrauchs als ungeschriebene Begrenzung der Geltendmachung von Sozialleistungen anerkannt (vgl. BSG, Urteil vom 22.03.1995 – 10 RAr 1/94 – Juris, Rz. 24 m.w.N.; zu weiteren Konstellationen von Treu und Glauben vgl. BSGE, 46, S. 187, 189 m.w.Nw.). Die Feststellung von Rechtsmissbrauch hat sich dabei am Schutzzweck der Norm (BSGE 59, S. 40, 45 ff.) und an ihrem rechtsethischen Gehalt (vgl. BSG, Urteil vom 22.03.1995 – 10 RAR 1/94 – Juris, Randziffer 24 m.w.N.) zu orientierten. Insbesondere darf ein Recht nicht ausschließlich funktionswidrig genutzt werden (vgl. BSGE 46, S. 187, 189 ff. zur Funktionsmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 315 a RVO).

Einen Verstoß gegen die Schutzzwecke des BEEG und einen ausschließlich funktionswidrigen Gebrauch ihrer Rechte braucht die Klägerin zu 1) sich nicht vorhalten zu lassen. Wie oben unter 1) b) ausgeführt lässt sich dem BEEG keine Beschränkung auf einen reinen Einkommensersatz entnehmen. Das unterscheidet das Elterngeld vom Zuschuss zum Mutterschaftsgeld, das allein auf den Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile gerichtet ist (vgl. BAG, Urt. v. 18.09.1991 – 5 AZR 581/90 Juris, Rz. 15 ff.). Das Nettoeinkommen vor der Geburt durch einen Steuerklassenwechsel zu steigern, widerspricht daher nicht dem Zweck des Elterngeldes, einen finanziellen Schonraum für junge Familien zu schaffen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu fördern. Aus diesem Grund verletzt der Steuerklassenwechsel der Klägerin zu 1) gleichfalls nicht dem „rechtsethischen Gehalt“ des BEEG. Insbesondere hat die Klägerin zu 1) durch den Wechsel der Steuerklassen nicht gegen die aller Rechtsausübung zugrunde liegenden ungeschriebenen Verhaltensregelungen verstoßen, die unter der begrifflichen Klammer der Arglisteinrede einen Kernbestandteil der Rechtsfigur von Treu und Glauben bilden (vgl. Roth, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Auflage, § 242, Rz 104). Im Steuerklassenwechsel liegt kein vorwerfbares Vorverhalten, auf das sich die Klägerin zu 1) gegenüber dem Beklagten nicht berufen könnte. Steuerpflichtige dürfen, wie ausgeführt, ihre Steuerklassen frei wählen und dabei auch für sie ungünstigere Steuerklasse eintragen lassen.

Ebenso wenig vermag der Senat aus § 133 Abs. 3 SGB III einen in Treu und Glauben verwurzelten allgemeinen Rechtsgedanken zu entnehmen, aus dem für das BEEG die Unbeachtlichkeit eines gezielten Lohnsteuerklassenwechsel auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung folgt. Vielmehr trifft § 133 SGB III eine spezialgesetzliche Regelung zur Harmonisierung des Steuerrechts mit dem Sozialrecht. In der Gesetzesbegründung zur Schaffung dieser Vorschrift findet sich kein Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber einen Wechsel der Lohnsteuerklasse als missbräuchlich ansah. Vielmehr wollte er durch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung gerade die Wirksamkeit des steuerrechtlich zulässigen Wechsels der Lohnsteuerklassen für die Berechnung des Arbeitslosengeldes verhindern. Es hätte dem BEEG-Gesetzgeber freigestanden, eine Parallelregelung zu schaffen. Ihr Fehlen kann nicht auf dem Umweg über Treu und Glauben in Verbindung mit § 133 Abs. 3 SGB III ersetzt werden.

Die Klägerin treffen schließlich gegenüber der Beklagten keine erhöhten Treue- und Rücksichtsnahmepflichten, die dazu zwängen, den Lohnsteuerklassenwechsel als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Das unterscheidet sie maßgeblich von den Arbeitnehmern in den Konstellationen aus dem Arbeitsrecht, auf die der Beklagte seine Berufung stützen will. Das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis begründet besondere Nebenpflichten mit gesteigerter Treueprägung. In dieser gesteigerten Treuebindung kann ein Lohnsteuerklassenwechsel zur Erhöhung einer reinen Lohnersatzleistung als Verfolgung eines rücksichtslosen Eigennutzes zum Nachteil des Arbeitgebers gewertet werden (vgl. etwa das vom Beklagten zitierte Urteil des BAG vom 13.06.2006 – 9 AZR 423/05, Randziffer 14 ff. m.w.Nw.).

Davon unterscheidet sich die hier vorliegende Interessenlage jedoch maßgeblich. Die Klägerin verbindet mit dem Beklagten kein Dauerschuldverhältnis in Gleichordnungsposition, das einem Arbeitsverhältnis vergleichbar wäre und dem Beklagten gegenüber gesteigerte Rücksichtnahmepflichten begründet hätte. Ihre Rechtsbeziehungen zum Beklagten beschränkten sich auf die Beantragung und Entgegennahme des Elterngelds. Nach dem BEEG hat sie zudem, wie ausgeführt, auch keinen Anspruch auf reinen Lohnersatz, sondern auf eine am Einkommen lediglich „orientierte“ Ausgleichsleistung zur Familienförderung, die sozial und nach Förderungszielen gestaffelt ist (Geschwisterbonus, Aufstockungsregel). Zudem hätte der Gesetzgeber den Lohnsteuerklassenwechsel im BEEG allein zu Zwecken höheren Elterngeldes unschwer ausschließen können. Dagegen finanziert ein Arbeitgeber insbesondere durch seine Pflicht zur Zahlung des Zuschusses zum Mutterschaftsgeldes als Privater eine gemeinnützige Sozialleistung, deren Ausmaß und Gestaltung er nicht beeinflussen kann und bedarf deshalb – anders als Träger hoheitlicher Gewalt – des Schutzes durch den Satz von Treu und Glauben.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt zur Entscheidung in der Hauptsache.

Der Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil das Bundessozialgericht die zugrunde liegende Rechtsfrage noch nicht entschieden hat und sie von Bedeutung für eine Vielzahl unter Anderem beim Senat anhängiger Fälle ist.

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