VGH Baden-Württemberg
Az: 10 S 137/11
Urteil vom 10.05.2011
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 13. Dezember 2010 – 1 K 4745/10 – wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 6.250,– EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ist der Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts bei Beschwerden gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beschränkt. Danach prüft der Verwaltungsgerichtshof nur die in einer rechtzeitig eingegangenen Beschwerdebegründung dargelegten Gründe.
Auf dieser Grundlage hat die Beschwerde keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe führen nicht dazu, dass entgegen dem Beschluss des Verwaltungsgerichts die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 7 Satz 2 3. Alt. StVG) sofort vollziehbare Verfügung des Antragsgegners vom 08.11.2010 anzuordnen ist. Auch bei einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO hat das Gericht eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung und dem Interesse des Betroffenen, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens von Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, vorzunehmen, bei der aber die gesetzgeberische Entscheidung für den grundsätzlichen Vorrang des Vollzugsinteresses zu beachten ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 80 VwGO, RdNrn. 114 sowie 152 m.w.N.). Umstände, die abweichend von der gesetzgeberischen Entscheidung für eine sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts eine Aussetzung rechtfertigen, liegen hier nicht vor. Die auf der Grundlage von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG mit Bescheid vom 08.11.2010 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis ist nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung rechtmäßig, und es sind keine Gründe ersichtlich, welche trotz der Annahme der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sprechen könnten.
Wie bereits das Verwaltungsgericht ausführlich und zutreffend dargelegt hat, liegen die Voraussetzungen für eine Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG vor. Für die Antragstellerin haben sich mit Begehung einer weiteren, mit drei Punkten zu ahndenden Geschwindigkeitsüberschreitung am 14.08.2009 20 Punkte ergeben. Von diesem Punktestand hatte die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entziehungsverfügung vom 08.11.2010 auszugehen, obwohl die Rechtskraft des den Geschwindigkeitsverstoß vom 14.08.2009 ahndenden Bußgeldbescheides erst am 17.09.2010 eingetreten und der Punktestand zwischenzeitlich wieder unter 18 Punkte gefallen ist. Denn die in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG normierte unwiderlegliche Vermutung der Fahrungeeignetheit wird bereits durch die Begehung einer zum Erreichen von 18 Punkten führenden weiteren Zuwiderhandlung und nicht erst mit Eintritt der Rechtskraft der die Zuwiderhandlung ahndenden Entscheidung ausgelöst; auch kommen einem Fahrerlaubnisinhaber, der einen Stand von 18 oder mehr Punkten erreicht hat, nachfolgende Tilgungen – unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem Erlass der Entziehungsverfügung eintreten – bei der Anwendung von § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG nicht zu Gute (sog. Tattagprinzip, vgl. ausführlich Beschluss des Senats vom 07.12.2010 – 10 S 2053/10 -, VBlBW 2011, 194). Von diesen Grundsätzen ist der Antragsgegner bei der Ermittlung des maßgeblichen Punktestandes zutreffend ausgegangen. Die Anwendung des Tattagprinzips hat die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren nicht mehr in Zweifel gezogen.
Entgegen der erstmals im Beschwerdeverfahren vertretenen Ansicht der Antragstellerin war ihr Punktestand auch nicht fiktiv aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bzw. des Übermaßverbots auf unter 18 Punkte zu reduzieren, weil die Ahndung einer am 20.05.2005 begangenen Zuwiderhandlung infolge verzögerter amtsgerichtlicher Entscheidung über den von der Antragstellerin ergriffenen Rechtsbehelf erst mit der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 25.03.2008 rechtskräftig wurde und dadurch eine frühere Tilgung von Punkten – mit der Folge einer Verhinderung nachfolgender Überschreitung von 18 Punkten – vereitelt worden wäre.
Auszugehen ist mit dem Verwaltungsgericht davon, dass die Ergreifung von Rechtsbehelfen gegen die Ahndung von punkteträchtigen Verkehrsordnungswidrigkeiten, ein dadurch verzögerter Rechtskrafteintritt und ein gemäß § 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG entsprechend späterer Anlauf der jeweiligen Tilgungsfrist grundsätzlich in die Risikosphäre des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers fällt. Ein von der Antragstellerin diesbezüglich geargwöhnter „Vorwurf“ der Rechtsbehelfseinlegung ist damit nicht verbunden; vielmehr richten sich die mit der Rechtsbehelfseinlegung zwangsläufig einhergehenden Folgen der Hinausschiebung von Rechtskrafteintritt und Tilgung nach den objektivrechtlichen Bestimmungen des Punktsystems nach §§ 4, 29 StVG, ggf. unter Einbeziehung von berücksichtigungsfähigen weiteren mit Punkten zu ahndenden Verkehrszuwiderhandlungen. Die von der Antragstellerin sinngemäß aufgeworfene Frage, ob ausnahmsweise anderes gelten kann, wenn die Hinausschiebung der Tilgungsreife aus nicht vom Betroffenen zu vertretenden Gründen, insbesondere wegen objektiv unangemessen langer Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens, das erwartbare normale Maß deutlich übersteigt, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner abschließenden Beantwortung. Denn die geltend gemachte Verzögerung des amtsgerichtlichen Verfahrens ist bei wertender Betrachtung entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin noch nicht als so gravierend anzusehen, dass sie als im Rechtssinne wesentliche Ursache einer Überschreitung von 18 Punkten gelten müsste und die Antragstellerin deshalb so zu stellen wäre, als ob die Tilgungsreife des Verkehrsverstoßes vom 20.10.2005 (und damit auch der früheren Verstöße aus den Jahren 2003 bis 2005) bereits vor den nachfolgenden Geschwindigkeitsüberschreitungen eingetreten wäre.
Bereits die im angefochtenen Bescheid an sechster Stelle aufgeführte Ordnungswidrigkeit vom 16.03.2006, deren Ahndung am 13.06.2006 rechtskräftig wurde, führte gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG zu einer Ablaufhemmung der Tilgungsfristen für die ersten vier Verkehrsordnungswidrigkeiten aus den Jahren 2003 bis 2005, und zwar bis zum Eintritt der Tilgungsreife der Ordnungswidrigkeit vom 10.03.2006, d.h. (ohne die einjährige Überliegefrist nach § 29 Abs. 6 StVG) bis zum 13.06.2008, vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 3 StVG. Vor allem muss die Antragstellerin sich entgegenhalten lassen, dass sie in Kenntnis des Umstands, dass die Ahndung der Geschwindigkeitsüberschreitung vom 20.10.2005 erst mit dem Beschluss des OLG Karlsruhe vom 25.03.2008 rechtskräftig wurde und gemäß § 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG erst von da an die zweijährige Tilgungsfrist zu laufen begann, am 20.05.2009 und am 14.08.2009 zwei weitere mit je 3 Punkten zu Buche schlagende Geschwindigkeitsüberschreitungen begangen hat, die zu einer Erhöhung des Punktestandes und weiterer Ablaufhemmung der Tilgungsfrist führten. Selbst wenn aber, anknüpfend an den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe, von einer maximal vertretbaren Zeitdauer von zwei Jahren für die Verhängung eines Fahrverbots und auch für den rechtskräftigen Abschluss des zugrunde liegenden Rechtsbehelfsverfahrens ausgegangen würde, wäre Rechtskraft am 20.10.2007 eingetreten und die Tilgungsfrist am 20.10.2009 abgelaufen, also deutlich nach der eine erneute Ablaufhemmung auslösenden Geschwindigkeitsüberschreitung vom 20.05.2009. Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass ein Betroffener einen rascheren (zwei Jahre unterschreitenden) Abschluss eines über zwei gerichtliche Instanzen geführten Rechtsbehelfsverfahrens erreicht, um möglichst bald folgenlos – ohne Addierung der neu verhängten zu den früher erworbenen Punkten – Verkehrsverstöße begehen zu können, vermag der Senat nicht zu erkennen.
Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen zutreffend bemerkt, dass die Antragstellerin offenbar notorisch und unbelehrbar zu schnell fährt und auch bei als offen unterstellter Rechtslage die gebotene Interessenabwägung wegen des gefahrträchtigen Fahrverhaltens der Antragstellerin zu ihren Lasten ausfällt.
Die mit dieser Entscheidung für die Antragstellerin verbundenen Nachteile in Bezug auf ihre berufliche Tätigkeit und ihre private Lebensführung müssen von ihr im Hinblick auf den hohen Rang der durch die Verkehrsteilnahme eines ungeeigneten Kraftfahrers gefährdeten Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit und das entsprechende öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit hingenommen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2 und 3, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen Nrn. 1.5 und 46.3, 46.5 und 46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004 (VBlBW 2004, 467). Die Antragstellerin war im Besitz einer 1982 erteilten vormaligen Fahrerlaubnis der Klasse 3. Diese entspricht gemäß § 6 Abs. 7 FeV i.V.m. Anlage 3 I. nunmehr den neuen Fahrerlaubnisklassen B, BE, C1, C1E, M, S und L, von denen nach § 6 Abs. 3 FeV die Klassen B, C1 und E von selbständiger, bei der Streitwertbemessung zu berücksichtigender Bedeutung sind. Danach ist von einem Streitwert von 12.500,– EUR für das Hauptsacheverfahren auszugehen, so dass sich für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch Halbierung ein Streitwert von 6.250,– EUR ergibt (vgl. ausführlich Beschluss des Senats vom 13.12.2007 – 10 S 1272/07 -, […]).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.