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Fahrerlaubnisentziehung bei Verkehrsauffälligkeiten

VG Osnabrück

Az: 6 B 21/12

Beschluss vom 23.04.2012


Die aufschiebende Wirkung der Klage (6 A 43/12) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.02.2012 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.

Der im Jahr 1985 geborene Antragsteller erwarb erstmals im Dezember 2003 eine Fahrerlaubnis auf Probe. Diese wurde ihm – nach vorheriger Verpflichtung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar und anschließender schriftlicher Verwarnung – vom Antragsgegner im November 2007 entzogen, nachdem er während der Probezeit drei Verkehrszuwiderhandlungen (jeweils Geschwindigkeitsüberschreitungen) begangen hatte. Im Dezember 2007 wurde der Antragsteller vom Amtsgericht E. wegen einer fahrlässigen Trunkenheitsfahrt zu einer Geldstrafe verurteilt; gleichzeitig wurde ihm die Fahrerlaubnis auch auf strafrechtlicher Grundlage entzogen. Nach Ablauf der insoweit festgesetzten Sperrfrist wurde ihm im September 2009 eine neue Fahrerlaubnis (u.a. Klasse CE) erteilt.

Am 17.01.2012 teilte ein Beamter des Einsatz- und Streifendienstes der Polizeistation F. dem Antragsgegner Folgendes mit:

„Am 12.01.2012 gegen 06:00 Uhr befuhr Unterzeichner … die G. Straße in F. als Linksabbieger in Richtung . straße. Die Fahrbahn war nass, es regnete nicht. Bei Zufahrt auf die „Rot“ zeigende LZA innerhalb der Linksabbiegespur nahte aus Richtung I. der Führer des Pkw VW Golf, amtliches Kennzeichen … Dieser fuhr augenscheinlich mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit. Ein Rechtsabbiegevorgang in die H. straße erfolgte bei einem geschätzten Erreichen der Haftungsgrenze und unter starker Pkw-Neigung nach links. Bei der anschließenden Extrembeschleunigung des VW Golf entstand aufgrund eines offenkundigen Auspuffschadens eine nicht unerhebliche Geräuschentwicklung. Diese führte beim Fahrer bei anschließender Verfolgung jedoch keineswegs zu einer defensiveren Fahrweise, sondern die Gänge wurden jeweils bei starker Beschleunigung im Hoch-Drehzahlbereich ausgefahren. Die Verfolgung des Pkw wurde … unmittelbar aufgenommen. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit der H. straße ist … auf 30 km/h begrenzt. Ein Fahrbahnschweller zu Beginn eines starken Gefällebereichs im Übergang zur J. straße wurde von dem Betroffenen regelrecht „überflogen“. … Die abknickende Vorfahrt nach links in den K. weg … erfolgte wiederum mit Extremgeschwindigkeit für die örtlichen Verhältnisse. Auf weitere Verkehrssituationen nahm der Betroffene keine Rücksicht. Ein verlangsamendes Fahrzeug in Höhe des passierten K. Krankenhauses wurde ohne geringste Unterbrechung der wiederum starken Beschleunigung überholt. … Von dort aus ist eine zulässige Höchstgeschwindigkeit … von 50 km/h erlaubt. Es wurde eine Nachfahrgeschwindigkeit von ca. 75 km/h … vom Tachometer des Funkstreifenwagens abgelesen. Aufgrund der extrem gefahrenträchtigen Fahrweise des Betroffenen wurde bei der weiteren Verfolgung das Blaulicht eingeschaltet. Ohne weitere Haltsignale stoppte der Betroffene daraufhin …

Herr L. … begründete seine Fahrweise mit Eile zu einem rechtzeitigen Arbeitsbeginn bei der Firma … Er zeigte sich in Anbetracht der festgestellten und vorgehaltenen gefährlichen Fahrweise in keiner Weise einsichtig. … Eine polizeiliche Belehrung schien ihn dabei nicht zu überzeugen. Die Uneinsichtigkeit blieb bestehen.

Herr L. setzte seine Fahrt in Richtung M. fort. Er wurde weiter verfolgt. Eine Nachfahrgeschwindigkeit von 55 km/h war gegeben. Ohne eigentliches Abbremsen fuhr er in den Kreisverkehr Ecke N. Straße ein. Dabei schnitt er unter Komplettüberfahrt des erhöhten Pflasterbereichs den Kreisverkehr und schwenkte nach rechts in die O. Straße ein. Dort beschleunigte er wiederum stark, so dass er nach ca. 200 m in Höhe des Ortsausgangsschildes bereits wieder eine deutlich überhöhte Geschwindigkeit erreichte. ….“

Mit Schreiben vom 19.01.2012 wies der Antragsgegner den Antragsteller unter Wiedergabe des von der Polizei mitgeteilten Sachverhalts und unter Hinweis auf die vom Antragsteller in den Jahren 2004, 2006 und 2007 begangenen Verkehrsverstöße darauf hin, dass erhebliche Bedenken an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestünden und forderte ihn auf der Grundlage des § 11 Abs. 3 Nr. 4 FeV unter Fristsetzung auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen. Nachdem der Antragsteller darauf nicht reagiert, insbesondere nicht sein Einverständnis mit der geforderten Begutachtung erklärt hatte, hörte ihn der Antragsgegner am 03.02.2012 zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an; daran schloss sich eine – letztlich ergebnislose – E-Mail-Korrespondenz mit dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers über die Berechtigung einer solchen Maßnahme sowie die Frage, wo die geforderte Begutachtung ggf. durchgeführt werden solle, an.

Mit Bescheid vom 20.02.2012 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis und begründete dies mit den in seinem Schreiben vom 19.01.2012 dargelegten Eignungszweifeln, die der Antragsteller in der Folgezeit nicht ausgeräumt habe.

Ausweislich einer Mitteilung des Polizeikommissariats P. vom 29.02.2012 soll der Antragsteller am 05.02.2012 gegen 1:10 Uhr ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr geführt haben, obwohl er unter dem Einfluss berauschender Mittel stand. Nach den dieser Mitteilung beigefügten Befundberichten der Partnerschaftspraxis für Laboratoriumsmedizin und Mikrobiologie, Q., vom 07.02.2012 und der Laborarztpraxis Dr. R., S., vom 06./24.02.2012 wurden in der dem Antragsteller in diesem Zusammenhang entnommenen Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von 0,91 ‰ sowie THC in einer Konzentration unter 1,0 ng/ml und THC-Carbonsäure in einer Konzentration von 7,7 ng/ml festgestellt.

Der Antragsteller hat gegen den Bescheid vom 20.02.2012 am 27.02.2012 Klage erhoben (6 A 43/12) und zugleich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Er macht geltend, dass ihm die Fahrerlaubnis schon deshalb nicht hätte entzogen werden dürfen, weil die zugrunde liegende Gutachtenanordnung des Antragsgegners vom 19.01.2012 rechtswidrig gewesen sei. Der Antragsgegner habe ungeprüft den Bericht eines einzelnen Polizeibeamten übernommen, in dem ihm ein vermeintlich verkehrsrechtswidriges Verhalten vorgeworfen worden sei. Objektivierbare Anhaltspunkte für einen konkreten Verkehrsverstoß ergäben sich aus diesem Bericht nicht und seien auch vom Antragsgegner nicht benannt worden; der von dem Polizeibeamten mitgeteilte Sachverhalt sei noch nicht einmal in irgendeiner Weise im Rahmen eines Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens geprüft, geschweige denn bestandskräftig festgestellt worden. Selbst wenn die in dem Bericht gegen ihn erhobenen Vorwürfe, er sei zu schnell, mit defektem Auspuff und in einem Kreisverkehr nicht weit genug rechts gefahren, zuträfen, ergäben sich daraus keine Zweifel an seiner Fahreignung, die die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen. Dies gelte erst recht für den Vorwurf, er habe sich bei der Kontrolle durch den Polizeibeamten uneinsichtig gezeigt. Soweit der Antragsgegner darüber hinaus auf die vorangegangene Entziehung der Fahrerlaubnis im Jahr 2007 und die dieser Maßnahme zugrunde liegenden früheren Verkehrsverstöße verweise, seien diese im vorliegenden Verfahren nicht zu berücksichtigen, weil sie mittlerweile mehr als vier Jahre zurücklägen und seinerzeit bereits entsprechend sanktioniert worden seien. Dass der angefochtene Bescheid letztlich auf insgesamt sachwidrigen Erwägungen beruhe, zeige sich schließlich auch daran, dass der Antragsgegner auf den Vorschlag, vor einer Eignungsbegutachtung den Ausgang eines etwaigen Ordnungswidrigkeitenverfahrens abzuwarten, ohne plausible Begründung nicht eingegangen sei und auch seine grundsätzlich – wenn auch nicht auf dem vom Antragsgegner übersandten Erklärungsvordruck – erklärte Bereitschaft, ggf. ein Gutachten vorzulegen, als unzureichend bezeichnet habe. Soweit der Antragsgegner nunmehr behaupte, er (der Antragsteller) habe am 05.02.2012 unter dem Einfluss von Alkohol und Cannabis ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr geführt, stehe dies bislang nicht fest; im Übrigen sei der angefochtene Bescheid darauf auch nicht gestützt worden. Angesichts dieser Gesamtumstände bestehe erst recht kein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, zumal er aus beruflichen Gründen dringend auf seine Fahrerlaubnis angewiesen sei (wird ausgeführt).

Der Antragsteller beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20.02.2012 wiederherzustellen und ihm für das vorliegende Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen.

Er verweist auf die Gründe des angefochtenen Bescheides und auf die weitere Verkehrsauffälligkeit des Antragstellers am 05.02.2012. Ergänzend macht er geltend, dass sich aus dem Vorfall am 12.01.2012 hinreichend objektivierbare Tatsachen ergäben, die die Fahreignung des Antragstellers in Frage stellten. Ob insoweit ein Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden sei, sei unerheblich.

II.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.

Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen belastenden Verwaltungsakt, dessen sofortige Vollziehung die Behörde gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat, wiederherstellen. Bei dieser Entscheidung bedarf es einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung einerseits und dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts andererseits, bei der insbesondere auch die bereits überschaubaren Erfolgsaussichten des im Hauptsacheverfahren eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen sind. Diese Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus, weil der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung mutmaßlich rechtswidrig ist.

Gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde auf die fehlende Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen, wenn dieser sich weigert, sich einer nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften vorgesehenen Eignungsuntersuchung zu unterziehen oder das von der Behörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Anordnung einer solchen Untersuchung ihrerseits rechtmäßig war (vgl. BVerwG, U. v. 5.07.2001 – 3 C 13.01 -, NJW 2002, 78 m.w.N.); dies ist hier bezüglich der an den Antragsteller ergangenen Gutachtenanordnung des Antragsgegners vom 19.01.2012 aller Voraussicht nach zu verneinen.

Der Antragsgegner hat seine Gutachtenanordnung auf § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV, wonach bei einem erheblichen Verstoß oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens verlangt werden kann, gestützt und dies mit dem am 17.01.2012 von der Polizeistation F. mitgeteilten Sachverhalt, den vom Antragsteller in den Jahren 2004, 2006 und 2007 begangenen Verkehrsverstößen sowie dessen „Uneinsichtigkeit“ anlässlich des Vorfalls am 12.01.2012 begründet. Dies hält einer rechtlichen Überprüfung mutmaßlich nicht stand, weil der Antragsgegner damit den Anwendungsbereich des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV überdehnt und die damit konkurrierenden Vorschriften über das sog. Punktsystem (§ 4 StVG) nicht hinreichend in den Blick genommen haben dürfte. Insoweit verweist die Kammer zunächst auf die Gründe des Beschlusses des OVG Berlin-Brandenburg vom 10.12.2007 (- 1 S 145.07 -, juris m.w.N.), in dem zu dem Verhältnis zwischen den Vorschriften über das Punktsystem einerseits und den allgemeinen Vorschriften über die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Eignungsüberprüfung von Fahrerlaubnisinhabern andererseits Folgendes ausgeführt worden ist:

“ ….. Dem Schutz vor Gefahren, die sich aus einer Häufung von Verkehrsverstößen ergeben, trägt das Gesetz grundsätzlich durch das Punktsystem gemäß § 4 StVG Rechnung. Das Punktsystem findet jedoch keine Anwendung, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer Maßnahmen auf Grund anderer Vorschriften, insbesondere der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG, ergibt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVG). Diese Öffnungsklausel ermöglicht es nicht, aus Verkehrsverstößen Eignungsbedenken ohne Rücksicht auf das Punktsystem herzuleiten. Grundsätzlich ergibt sich aus der Punktebewertung der einzelnen Verkehrsordnungswidrigkeiten nach dem Bußgeldkatalog die eignungsrelevante Gewichtung der einzelnen Verkehrsverstöße, und das Punktsystem als solches bestimmt mit der Anzahl der Punkte die Häufigkeit der Verstöße, die erforderlich sind, bis es zu den nach § 4 Abs. 3 StVG vorgesehenen abgestuften Maßnahmen kommt. Die Ausnahme vom Punktsystem kann systematisch nur dahin verstanden werden, dass besondere Gründe dafür vorliegen müssen, dass ein Fahrerlaubnisinhaber auch schon, bevor er 18 Punkte erreicht und ohne die Möglichkeit, von den nach dem Punktesystem vorgesehenen Angeboten und Hilfestellungen Gebrauch zu machen, ohne vorangegangene Warnung als fahrungeeignet angesehen werden kann (vgl. Beschluss des Senats vom 6. Juni 2007 – OVG 1 S 55.07 – S. 5 des Abdrucks, juris Rn. 7 a.E., BayVGH, Beschluss vom 2. Juni 2003 – 11 CS 03.743 – zitiert nach Juris). Diese besonderen Gründe müssen sich aus Art und/oder Häufigkeit der Verkehrsverstöße ergeben und in spezifischer Weise Bedeutung für die Eignung zur Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr haben. ….“

Bereits zuvor hatte der VGH München (B. v. 02.06.2003 – 11 CS 03.743 -, juris) in vergleichbarer Weise entschieden:

“ …. Der Antragsteller hat durch die …. geahndeten Straftaten (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort am … und vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis am …) sowohl erheblich als auch wiederholt gegen Strafgesetze verstoßen. Daraus folgt aber, wie sich insbesondere aus § 11 Abs. 1 Satz 3 und § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV ergibt, nicht gewissermaßen automatisch seine Fahrungeeignetheit. Nach diesen Vorschriften bedarf es vielmehr zusätzlich der Feststellung, dass aufgrund solcher Verstöße die Eignung ausgeschlossen ist. Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen der sich in solchen Verstößen offenbarenden charakterlichen Mängel ist überdies die spezielle Regelung in § 4 StVG zu beachten (vgl. …). Nach dem Punktsystem des § 4 StVG kommt die Entziehung der Fahrerlaubnis bei dem vom Antragsteller erreichten Punktstand nicht in Betracht. Die Voraussetzungen, unter denen die Fahrerlaubnis unabhängig vom erreichten Punktstand nach § 3 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG zu entziehen ist, dürften nicht gegeben sein. ….. Allerdings können Umstände des Einzelfalls schon vor Erreichen von 18 Punkten die Feststellung mangelnder Fahreignung rechtfertigen. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG ist die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG dann auch außerhalb des Punktsystems zulässig und geboten (vgl. …). Im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber mit dem Punktsystem bewusst auch die Straßenverkehrsteilnahme von Kraftfahrern mit einem nicht unerheblichen „Sündenregister“ in Kauf genommen und die Entziehung der Fahrerlaubnis bei 18 oder mehr Punkten von der dem Fahrerlaubnisinhaber zuvor eingeräumten Möglichkeit, bestimmte Angebote und Hilfestellungen wahrzunehmen, abhängig gemacht hat, muss die Fahrerlaubnisbehörde jedoch Zurückhaltung üben, wenn sie aus Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze, die mit weniger als 18 Punkten zu bewerten sind, auf die charakterliche Ungeeignetheit des Fahrerlaubnisinhabers schließen will (vgl. …). Es müssen deshalb besondere Gründe dafür vorliegen, dass ein Fahrerlaubnisinhaber im konkreten Fall auch ohne Erreichen von 18 Punkten und ohne die Möglichkeit, von den nach dem Punktsystem vorgesehenen Angeboten und Hilfestellungen Gebrauch zu machen, als fahrungeeignet angesehen werden kann ….. „

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze durfte der Antragsteller aller Voraussicht nach nicht zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens aufgefordert werden. Insoweit ist schon nicht erkennbar, dass sich der Antragsgegner des Konkurrenzverhältnisses zwischen § 4 StVG und §§ 11 ff. FeV – mit der daraus resultierenden Folge, dass eine Gutachtenanordnung außerhalb des Maßnahmenkatalogs nach dem Punktsystem das Vorliegen (zumindest) eines besonders gewichtigen Verkehrsverstoßes erfordert – überhaupt bewusst war. In der Begründung der Gutachtenanordnung bzw. des nachfolgenden Entziehungsbescheides vom 20.02.2012 hat dies jedenfalls keinen Niederschlag gefunden; dort hat sich der Antragsgegner vielmehr auf eine Wiedergabe des von der Polizei mitgeteilten Vorfalls am 12.01.2012 und eine Auflistung der früheren Verkehrsauffälligkeiten des Antragstellers beschränkt und daraus – ohne weitergehende Erwägungen anzustellen – den Schluss gezogen, dass erhebliche, nur durch ein entsprechendes Eignungsgutachten ausräumbare Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers bestünden.

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Abgesehen davon dürften die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV auch tatsächlich nicht vorgelegen haben. Soweit der Antragsgegner in diesem Zusammenhang (auch) auf die vom Antragsteller in den Jahren 2004, 2006 und 2007 begangenen Verkehrsverstöße abgestellt hat, können diese – jedenfalls für sich genommen – nicht mehr tragend als Begründung für eine zum jetzigen Zeitpunkt fehlende Fahreignung des Antragstellers herangezogen werden. Diese Verkehrsverstöße sind sämtlich während der im Anschluss an die erstmalige Erteilung der Fahrerlaubnis im Jahr 2003 laufenden Probezeit begangen und seinerzeit nach Maßgabe des § 2 a Abs. 2 StVG – zuletzt durch Entziehung der Fahrerlaubnis im Jahr 2007 – sanktioniert worden. Im September 2009 ist dem Antragsteller sodann, ohne dass er sich zuvor einer Eignungsbegutachtung unterziehen musste, eine neue Fahrerlaubnis erteilt worden. Anhaltspunkte dafür, dass die früheren Verkehrsauffälligkeiten – ggf. in Verbindung mit dem aktuellen Vorfall am 12.01.2012 – Ausdruck einer generellen Haltung bzw. Einstellung des Antragstellers sind, sich dauerhaft und hartnäckig über bestehende Verkehrsvorschriften hinwegzusetzen (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, aaO, m.w.N.), sind nicht ersichtlich und auch vom Antragsgegner nicht vorgetragen worden; dagegen spricht im Übrigen schon, dass der Antragsteller nach Aktenlage in der Zeit zwischen der Neuerteilung der Fahrerlaubnis und dem Vorfall im Januar 2012 nicht wieder verkehrsauffällig geworden ist. Auch der letztgenannte Vorfall, der offensichtlich Auslöser für die streitige Gutachtenanordnung war, stellt keinen „besonders gewichtigen“ Verkehrsverstoß im oben umschriebenen Sinne dar. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass der Antragsgegner im bisherigen Verlauf des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens nicht konkret dargelegt hat, gegen welche Verkehrsvorschriften der Antragsteller mit dem von der Polizei mitgeteilten Verhalten verstoßen haben soll. Vielmehr hat er dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers, der diese Frage im Rahmen der Anhörung ausdrücklich problematisiert hatte, per E-Mail vom 16.02.2012 lediglich mitgeteilt, dass „Ihrem Mandanten keine konkrete Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeworfen (wird), sondern die in meinem Schreiben vom 19.01.2012 aufgeführten Verstöße“; in diesem Schreiben ist – soweit es den Vorfall am 12.01.2012 betrifft – ein konkreter Verkehrsverstoß, der Anknüpfungspunkt für eine Gutachtenanordnung sein könnte, jedoch ebenfalls nicht benannt worden. Abgesehen davon wäre die Gutachtenanordnung voraussichtlich auch dann rechtswidrig, wenn der Antragsteller die ihm in der Anhörung im Bußgeldverfahren vom 16.02.2012 vorgeworfenen Verkehrsverstöße (Fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit, Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot, Inbetriebnahme eines Fahrzeugs trotz übermäßiger Geräuschentwicklung, Nichtmitführen der Zulassungsbescheinigung) tatsächlich begangen haben und deshalb zwischenzeitlich mit einer Geldbuße belegt worden sein sollte. Denn diese Verstöße rechtfertigen für sich genommen – ohne Hinzutreten weiterer, vom Antragsgegner allerdings nicht dargelegter eignungsrelevanter Umstände – ihrer Art und ihrem Gewicht nach noch nicht die Annahme, dass im vorliegenden Fall eine Anwendung der abgestuften Maßnahmen nach dem Punktsystem (§ 4 Abs. 3 StVG) nicht ausreicht, sondern statt dessen eine sofortige Eignungsüberprüfung des Antragstellers außerhalb des Punktsystems erforderlich ist. In diesem Zusammenhang kommt nicht zuletzt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass nach Aktenlage im Zeitpunkt der Gutachtenanordnung im Verkehrszentralregister keinerlei Eintragungen zulasten des Antragstellers bestanden, so dass nicht einmal Anlass für eine Verwarnung gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG bestand (vgl. dazu VG München, B. v. 14.07.2010 – M 6a S 10.2707 -, juris). Sollte der Antragsgegner seine Eignungszweifel dagegen ganz allgemein aus der in dem Polizeibericht beschriebenen „rasanten Fahrweise“ des Antragstellers und/oder dessen „Uneinsichtigkeit“ gegenüber dem Polizeibeamten hergeleitet haben, hätte dies, was angesichts des dargelegten rechtlichen Maßstabs keiner vertiefenden Erörterung bedarf, eine Gutachtenanordnung auf der Grundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV erst recht nicht gerechtfertigt. Demgemäß war dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu entsprechen.

An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass der Antragsteller am 05.02.2012 unter dem Einfluss von Alkohol und Cannabis ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr geführt haben soll. Dies kann zwar, soweit sich dieser Vorwurf vom Tatsächlichen her erhärten lässt, einen zur Entziehung der Fahrerlaubnis führenden Eignungsmangel i.S.d. §§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, 46 Abs. 1 FeV i.V.m. Ziff. 8.1 und/oder 9.2.2 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV begründen. Dieser – erst nach Erlass des angefochtenen Bescheides bekannt gewordene und demgemäß zu dessen Begründung nicht herangezogene – Umstand kann im Rahmen des vorliegenden Entziehungsverfahrens jedoch nicht berücksichtigt werden; andernfalls würde die auf gänzlich anderen Erwägungen beruhende Begründung des angefochtenen Bescheides in rechtlich unzulässiger Weise vollständig ausgewechselt. Sollte sich der insoweit gegen den Antragsteller erhobene Tatvorwurf bestätigen, müsste der Antragsgegner ggf. einen neuen Entziehungsbescheid mit einer der veränderten Sachlage angepassten Begründung erlassen.

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