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Fahrerlaubnisentziehung bei Mehrfachtätern

OVG NRW

Az: 16 B 1392/10

Beschluss vom 10.12.2010


Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. September 2010 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage 11 K 4448/10 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Juni 2010 wird hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis wiederhergestellt und hinsichtlich der Zwangsmittelandrohung angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des ersten und zweiten Rechtszugs.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I. Der 1955 geborene Antragsteller ist seit 1975 Inhaber einer Fahrerlaubnis der früheren Klassen 1 und 3. Bis zum Jahr 2007 sind keine gravierenderen Verkehrsverstöße aktenkundig. Am 7. Februar 2007 übersah der Antragsteller beim Linksabbiegen einen vorfahrtsberechtigten Motorroller. Bei dem Verkehrsunfall wurde der Fahrer des Rollers verletzt, ohne dass dauernde Schäden zurückblieben. Der nicht vorbestrafte Antragsteller wurde zu einer Strafe von 20 Tagessätzen verurteilt. Am 1. April 2007 überschritt der Antragsteller auf der BAB 1 am Kreuz ….West die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h; er fuhr mit einer Geschwindigkeit von 108 km/h. Am 29. Oktober 2007 wurde der Antragsteller wegen Erreichens von acht Punkten verwarnt.

Im Juli 2010 plante der Antragsteller, einen ihm gehörenden betagten Kleinwagen einigermaßen herzurichten und zu verkaufen. Weil von Gelegenheitsarbeiten und der monatlichen Unterstützung seiner Eltern lebend (Monatseinkommen zwischen 600 und 800 Euro), wollte er die Kosten einer Kurzzeitanmeldung für den Kleinwagen sparen und montierte während einer Woche die Kennzeichen seines zugelassenen Autos an den andernorts herzurichtenden Wagen. Dieses Geschehen wurde von einer Frau angezeigt, die von ihrem Balkon aus den Parkplatz beobachtete, auf dem die Umkennzeichnung stattfand. Der Antragsteller räumte die Taten ein. Wegen fünffachen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz wurde er mit einem Strafbefehl zu 50 Tagessätzen verurteilt.

Die Rechtsverstöße summierten sich im Januar 2010 nach den nicht bestrittenen Berechnungen des Antragsgegners auf 17 Punkte im Verkehrszentralregister.

Am 4. März 2010 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, ein medizinisch- psychologisches Gutachten beizubringen. Der Gutachter sollte zu der Frage Stellung nehmen, ob zu erwarten sei, dass der Antragsteller auch künftig erheblich gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde oder Beeinträchtigungen vorliegen, die das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der Klassen 1, 3, 4 und 5 in Frage stellen. Die Begründung der Gutachtenaufforderung besteht im Wesentlichen aus der Aufzählung der Verkehrsverstöße. Daran schließt sich an: „Aufgrund der wiederholten und schwerwiegenden Verkehrsverstöße bestehen bei mir erhebliche Zweifel an Ihrer Kraftfahreignung. Es ist daher nach … eine Überprüfung erforderlich.“

Der Antragsteller legte das geforderte Gutachten nicht vor. Daraufhin entzog der Antragsgegner ihm die Fahrerlaubnis und drohte die Anwendung unmittelbaren Zwangs an, wenn er seinen Führerschein nicht unverzüglich abliefere. Hiergegen erhob der Antragsteller fristgerecht Klage und beantragte gleichzeitig die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Diesen versagte ihm das Verwaltungsgericht. Hiergegen hat der Antragsteller fristgerecht Beschwerde eingelegt.

II. Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen überwiegt das Interesse des Antragstellers, seine Fahrerlaubnis vorläufig zu behalten, das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Entziehungsverfügung. Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung war es dem Antragsgegner verwehrt, auf die fehlende Kraftfahreignung des Antragstellers zu schließen, weil dieser das von ihm verlangte medizinisch-psychologische Gutachten nicht beigebracht hatte (vgl. § 11 Abs. 8 FeV).

§ 2 Abs. 8 StVG verleiht der Straßenverkehrsbehörde die Befugnis, ein medizinisch- psychologisches Gutachten anzufordern, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die Eignung oder Befähigung des Bewerbers begründen. Diese allgemeine Vorschrift gilt nach § 3 Abs. 1 Satz 3 StVG entsprechend im Verfahren auf Entziehung der Fahrerlaubnis. Die insofern speziellere Norm des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG sieht allerdings vor, dass zum Schutz vor Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern und -haltern ausgehen, die Fahrerlaubnisbehörde die in Absatz 3 genannten Maßnahmen (Punktesystem) zu ergreifen hat. Diese bestehen in der Verwarnung, der Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar und schließlich dem Verlust der Fahrerlaubnis beim Erreichen von 18 oder mehr Punkten.

Das Punktesystem sorgt einerseits für eine gleichmäßige Behandlung von Mehrfachtätern, andererseits räumt es ihnen die Möglichkeit ein, aufgetretene Mängel frühzeitig zu beseitigen. Gleichzeitig nimmt der Gesetzgeber mit dem Punktesystem in Kauf, dass auch Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnehmen, die sogar schwerwiegende Verkehrsverstöße begangen haben. Auch diesen soll die Fahrerlaubnis im Regelfall nicht entzogen werden, bevor ihnen die gesetzlich vorgesehenen Angebote und Hilfestellungen unterbreitet worden sind.

Von der Beschränkung auf die Maßnahmen nach dem Punktesystem und damit von dessen Spezialität lässt § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG allerdings eine Ausnahme zu. Das Punktesystem findet keine Anwendung, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer Maßnahmen auf Grund anderer Vorschriften, insbesondere der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1, ergibt.

Entscheidend ist demzufolge, ob frühere oder andere Maßnahmen als die des Punktesystems notwendig sind. Notwendig sind sie, wenn der Fahrerlaubnisinhaber als möglicherweise fahrungeeignet angesehen werden kann, obwohl ihm die Hilfestellungen des § 4 Abs. 3 StVG nicht angeboten worden sind und obwohl er die Schwelle von 18 Punkten noch nicht erreicht hat. Dazu müssen Umstände vorliegen, die den Schluss darauf zulassen, dass der Kraftfahrer auch dann nicht zu verkehrsordnungsmäßigem Verhalten zurückfindet, wenn er die präventiven Maßnahmen nach dem Punktesystem durchlaufen hat. Es muss alles dafür sprechen, dass er ungeeignet ist, am motorisierten Straßenverkehr teilzunehmen und keine Aussicht auf Besserung seines Verkehrsverhaltens besteht. Ausschlaggebend sind die Umstände des Einzelfalls, die nur in eng begrenzten, besonders gelagerten Ausnahmefällen vorliegen. Die Straßenverkehrsbehörde muss sich hier in Zurückhaltung üben und im Einzelnen darlegen, warum der Fahrerlaubnisinhaber sich von allen anderen „Punktetätern“ negativ abhebt.

Vgl. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 27. Mai 2009 – 10 B 10387/09 -, DAR 2009, 478 (= juris Rdn. 5); OVG Nds., Beschluss vom 21. November 2006 – 12 ME 354/06 -, NJW 2007, 313 (= juris Rdn. 5); BayVGH, Beschluss vom 2. April 2003 – 11 CS 02.2514 -, juris Rdn. 15; OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 10. Dezember 2007 – 1 S 145.07 -, juris Rdn. 3.

Das Merkmal „notwendig“ in § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dessen Ausfüllung der Straßenverkehrsbehörde kein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Ihre Bewertung unterliegt der unbeschränkten gerichtlichen Prüfung. Weder nach dem Wortlaut der Vorschrift noch nach dem Zusammenhang oder ihrem Sinn und Zweck soll der Behörde die Entscheidung allein zugewiesen sein, ob vom grundsätzlich vorrangigen Punktesystem abgewichen werden darf. Insbesondere verfügt die Straßenverkehrsbehörde weder über besondere Qualifikationen, noch ist ihre Entscheidung unvertretbar.

Zu den übrigen – hier nicht einschlägigen – Fallgruppen, in denen ein behördlicher Beurteilungsspielraum anzuerkennen ist, vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 114 Rdnr. 24a m. w. N.

Besteht die andere Maßnahme i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 StVG in der Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, muss sich aus der Begründung der Anordnung ergeben, warum die Behörde vom Punktesystem abweicht (vgl. § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV). Denn die Anordnung ist als reine Verfahrenshandlung nicht isoliert mit Rechtsmitteln angreifbar. Ihr Adressat muss vielmehr eigenständig prüfen, ob sie rechtmäßig und deswegen zu befolgen ist. Nur auf der Grundlage der Begründung muss der Betroffene einschätzen können, ob er sich trotz des Eingriffs in sein Persönlichkeitsrecht, der mit einer solchen Untersuchung verbunden ist, sowie der mit ihr einhergehenden Kosten der Begutachtung stellen will oder ob er die Risiken eingeht, die mit einer Verweigerung der Untersuchung verbunden sind. Deswegen ist es auch ausgeschlossen, eine unzureichende Begründung später nachzubessern.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001 – 3 C 13.01 -, NJW 2002, 78 (= juris Rdn. 25 f.); OVG NRW, Beschluss vom 3. Dezember 2007 – 16 B 749/07 -, VD 2008, 44 (= juris Rdn. 10).

Im Gegenzug werden sich die Erwägungen, die bei der von § 11 Abs. 3 FeV verlangten Ermessensausübung anzustellen sind, in aller Regel weitgehend mit den Gründen decken, die zur Bejahung der Notwendigkeit geführt haben.

Nach diesen Maßgaben erweist sich die Aufforderung des Antragsgegners, ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, als rechtswidrig. Der Antragsteller konnte die Beibringung verweigern, ohne dass der Antragsgegner nach § 11 Abs. 8 FeV auf dessen fehlende Kraftfahreignung schließen durfte.

Der Antragsgegner legt in seiner Gutachtenanforderung vom 4. März 2010 an keiner Stelle dar, dass er den Vorrang des Punktesystems zwar erkannt hat, aber aus ganz bestimmten Gründen ausnahmsweise davon abweicht. Die bloße Wiedergabe der Verkehrsverstöße genügt den Anforderungen an die Begründung nicht einmal im Ansatz. Die lediglich pauschale Bewertung der Verkehrsverstöße als „wiederholt und schwerwiegend“ lässt nicht hervortreten, worin sich diese Verstößen von denen aller anderen Kraftfahrer unterscheiden, die nach dem Punktesystem behandelt werden. Die wiederholte Begehung von Verkehrsverstößen ist nicht ungewöhnlich, sondern rechtfertigt das Punktesystem erst. Wie schwerwiegend ein Verkehrsverstoß einzustufen ist, ergibt sich aus dem ihm zugeordneten Punktwert.

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Die vorausgesetzte Begründung ist auch nicht ausnahmsweise entbehrlich, weil sie sich bei den gegebenen Verkehrsverstößen ohne weitere Erläuterung aufdrängen müsste. Vielmehr erscheinen die Verstöße zwar als erheblich, aber keineswegs als so außergewöhnlich, dass es aussichtslos erschiene, auf sie mit den (weiteren) Maßnahmen des Punktesystems zu reagieren. Das gilt umso mehr, als der Antragsteller sich im Verwaltungsverfahren weitgehend einsichtig gezeigt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 sowie 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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