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Fahrerlaubnisentziehung – Verhältnismäßigkeit

Kammergericht Berlin

Az: 3 Ws 153/11 – 1 AR 446/11

Beschluss vom 01.04.2011


In der Strafsache gegen wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr u.a. hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 1. April 2011 beschlossen:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 24. Januar 2011 über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Angeklagten aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse.

G r ü n d e:

Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeklagten mit der am 5. August 2010 vor der großen Strafkammer des Landgerichts Berlin erhobenen Anklage zur Last, sich in Berlin zwischen dem 23. Oktober 2003 und dem 17. September 2008 durch 13 selbständige Handlungen in sechs Fällen wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Sachbeschädigung und in weiteren sechs Fällen wegen vollendeten und in einem wegen versuchten Betruges strafbar gemacht zu haben. Er soll am 23. Oktober und 25. November 2003, 10. Oktober 2005, 25. Oktober 2007 und 23. Mai 2008 vorsätzlich einen Verkehrsunfall herbeigeführt, hierbei andere Fahrzeuge beschädigt und anschließend den Schaden unter Vorspiegelung eines ihn begünstigenden Unfallverlaufs bei den jeweiligen Haftpflichtversicherungen geltend gemacht haben. Mit Beschluss vom 24. Januar 2011 hat die Strafkammer die Anklage unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen und dem Angeklagten zugleich die Fahrerlaubnis nach § 111a StPO vorläufig entzogen und die Beschlagnahme seines Führerscheins angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde. Sein Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Rechtfertigen dringende Gründe die Annahme, dass die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB endgültig entzogen werden wird, kann sie das Gericht nach § 111a StPO bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorläufig entziehen. Voraussetzung dieser vorbeugenden Maßnahme ist ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, dass der Tatrichter zu der Überzeugung gelangt, dem Beschuldigten oder Angeklagten mangele es an der erforderlichen charakterlichen Eignung. Von dem Fehlen letzterer ist in den Fällen des

§ 69 Abs. 2 StGB regelmäßig auszugehen, wenn nicht gewichtige Gründe dagegen sprechen [vgl. Meyer-Goßner, StPO 53. Aufl., § 111a Rdn. 2]. Wenngleich § 315b StGB nicht zu den Verkehrsstraftaten im engeren Sinn gehört, weil er in erster Linie verkehrsfremde Eingriffe erfasst, kann dennoch ein Verkehrsteilnehmer selbst wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr bestraft werden, sofern er die Unaufmerksamkeit oder Fehleinschätzung eines anderen Verkehrsteilnehmers ausnutzt und durch sein Fahrverhalten vorsätzlich einen Unfall mit der Möglichkeit einer für ihn vorteilhaften Schadensregulierung herbeiführt [vgl. BGH NJW 1999, 430]. Dies gilt auch, wenn sein Verhalten äußerlich verkehrsgerecht erscheint. Denn die vorsätzliche Schädigung eines anderen Verkehrsteilnehmers ist stets ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung [vgl. BGH NZV 1992, 157]. Etwas anderes gilt für den, der seine verkehrsgerechte Teilnahme am Straßenverkehr mit der Hoffnung verbindet, dass ihm ein Unfall Gelegenheit zu einer vorteilhaften Schadensregulierung bietet, selbst wenn er das Unfallgeschehen billigend in Kauf nimmt.

Vorliegend ist jedoch hiervon nicht auszugehen. Vielmehr lassen es die Häufigkeit und der Verlauf der Unfälle der Jahre 2003 bis 2008 in hohem Maße wahrscheinlich erscheinen, dass der Angeklagte Fahrfehler anderer Verkehrsteilnehmer ausnutzte, um vorsätzlich einen Unfall herbeizuführen, und hierzu sein Fahrzeug in verkehrsfeindlicher Art und Weise einsetzte. Zu dieser Ansicht gelangten in den Fällen 1 und 8 der Anklageschrift bereits die Zivilgerichte, vor denen der Angeklagte seine Schadensersatzansprüche erfolglos geltend machte, nachdem die gegnerischen Haftpflichtversicherungen eine Regulierung abgelehnt hatten. Auch in den Fällen 3 und 6 hatte er mit der wahrheitswidrigen Unfallschilderung letztlich keinen Erfolg und in den Fällen 10 und 12 hatten die Zeugen B. und K. sowie der Sachverständige W. den Eindruck, der Unfall sei von dem Angeklagten provoziert worden bzw. vermeidbar gewesen. Angesichts dessen ist gegen die Annahme dringender Gründe im Sinne des § 111a StPO nichts zu erinnern.

2. Gleichwohl kann der Beschluss des Landgerichts nach § 111a StPO nicht bestehen bleiben. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist unverhältnismäßig. Als prozessuale Zwangsmaßnahme ist sie den verfassungsrechtlichen Grundsätzen verpflichtet, insbesondere demjenigen der Verhältnismäßigkeit und der Beachtung des Beschleunigungsgebotes [vgl. BVerfG NJW 2005, 1767]. Wenngleich eine Fahrerlaubnis auch noch mit Erhebung der Anklage oder später vorläufig entzogen werden kann [vgl. OLG Hamm NZV 2002, 380], sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Bleibt dieser nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitze seiner Fahrerlaubnis und nimmt beanstandungsfrei am Straßenverkehr teil, wächst sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert. Wann letztere nicht mehr in Betracht kommt, wird von der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet [vgl. insoweit BVerfG NJW 2005, 1767 m.N.] und hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Hier liegt die letzte Tat nach § 315b Abs. 1 StGB über zwei Jahre zurück. Spätestens mit dem Bericht des LKA vom 25. Mai 2009 waren Anzahl, Art und Umfang der einzelnen Taten bekannt und im Wesentlichen ausermittelt. Dem Angeklagten war unter Hinweis auf den Vorwurf des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr rechtliches Gehör gewährt worden und es hätte nahegelegen, bereits zu diesem Zeitpunkt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zu beantragen. Tatsächlich geschah dies jedoch erst mit Erhebung der Anklage Anfang August 2010, ohne dass ersichtlich ist, welche Umstände der früheren Antragstellung entgegenstanden. Hinzu kommt, dass auch nach Eingang der Anklage am 5. August 2010 über fünf Monate bis zum Erlass des nunmehr angefochtenen Beschlusses nach § 111a StPO vergingen. Angesichts dieser erheblichen Verzögerung erweist sich der erst im Januar 2011 erfolgte vorläufige Entzug der Fahrerlaubnis als rechtlich nicht mehr vertretbar. Durch diese Vorgehensweise hat das Vertrauen des Angeklagten in den vorläufigen Erhalt seiner Fahrerlaubnis in einem Umfang an Gewicht gewonnen, dass es das von den Ermittlungsbehörden nunmehr erstmals betonte Sicherungsinteresse der Allgemeinheit überwiegt. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben.

3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO. Eine Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst, weil es sich um ein Zwischenverfahren handelt.

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