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Fahrerlaubnisentziehung wegen Stalking

OVG Nordrhein-Westfalen – Az.: 16 B 1416/12 – Beschluß vom 28.02.2013


Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 3. Dezember 2012 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage VG Münster 10 K 3093/12 wird wiederhergestellt bzw. angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis durch Ordnungsverfügung vom 30. Oktober 2012 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.

Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand erweist sich die Frage der Erfolgsaussicht der Klage als offen; es lässt sich weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung des Antragsgegners feststellen. Die folglich ausschlaggebende „reine“, d.h. von der Einschätzung der Erfolgsaussichten der Klage gelöste Interessenabwägung führt zu einem Überwiegen des Aufschubinteresses des Antragstellers.

Im gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich die Frage der gesundheitlichen bzw. charakterlichen Fahreignung des Antragstellers nicht mit der gebotenen Sicherheit beantworten. Die vorliegenden Gutachten und Stellungnahmen, insbesondere veranlasst durch sog. Stalkingverhalten des Antragstellers zum Schaden dreier junger Frauen teilweise in der Form des Hinterherfahrens mit dem Auto und daneben durch weitere Straftaten, vermitteln ein unklares, zum Teil auch uneinheitliches Bild.

Die vom Verwaltungsgericht angenommene offensichtliche Erfolglosigkeit der Klage kann bereits mit Blick auf das in einem vorangegangenen Fahrerlaubnisentziehungsverfahren erstellte Fahreignungsgutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Psychotherapie Dr. H. aus W. vom 29. August 2006 nicht angenommen werden. Nach diesem Gutachten ist der seinerzeitige Zustand des Klägers am ehesten als eine Persönlichkeitsstörung zu bewerten, wobei sowohl eine paranoide als auch eine schizoide Störung in Betracht komme, gegebenenfalls auch eine Kombination beider Arten. Derartige Persönlichkeitsstörungen seien, so das Gutachten, nicht mit einer Psychose gleichzusetzen. Im Falle des Antragstellers sei die Persönlichkeitsstörung auch nicht so ausgeprägt, dass Denken und Handeln in Bezug auf den Verkehr deutlich eingeschränkt seien. Menschen wie der Antragsteller seien häufig schwierig im Umgang mit anderen Menschen, stellten jedoch für den Straßenverkehr keinerlei Gefährdung dar. Sein Verhalten sei für die betroffenen Frauen sicherlich sehr lästig, aber nicht mit Gefahren für den Straßenverkehr verbunden. Ergänzend teilte Dr. H. unter dem 25. September 2006 mit, seinem vorangegangenen Gutachten lägen die Begutachtungs-Leitlinien vom Februar 2000 zugrunde. Dort würden die beim Antragsteller gegebenen Persönlichkeitsstörungen nicht aufgelistet; es werde lediglich von organischen Persönlichkeitsstörungen gesprochen, denen in der Regel anders als beim Antragsteller anzunehmen Hirnveränderungen zugrunde lägen. Eine Persönlichkeitsstörung wie beim Antragsteller führe nur in Ausnahmefällen zum Verlust der Fahreignung, so dass keine Änderung der vordem geäußerten Einschätzung gerechtfertigt sei. Die Ereignisse des Jahres 1998, die zu einer Einweisung des Antragstellers nach dem PsychKG geführt hätten, seien wegen der seitdem vergangenen Zeit nicht mehr aussagekräftig. Insbesondere leide der Antragsteller nicht unter einer Psychose.

Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, wonach die Persönlichkeitsstörung(en) des Antragstellers unter Nr. 7.6 der Anlage 4 zur FeV bzw. unter Nr. 3.10.5 der Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung zu subsumieren seien, obwohl es dort jeweils um beim Antragsteller nicht festgestellte schizophrene Psychosen geht, dürfte mit dieser gutachterlichen Stellungnahme nicht zu vereinbaren sein, und zwar ungeachtet des Umstandes, dass seit der Untersuchung des Antragstellers durch Dr. H. weitere Vorfälle stattgefunden haben, die Zweifel an der seelischen Gesundheit des Antragstellers hervorrufen können.

Auch aus den neueren gutachterlichen Stellungnahmen ergibt sich kein grundlegend anderes Bild. Das Gutachten der Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Forensische Psychiatrie Dr. T. aus S. vom 8. Mai 2010 befasst sich mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der Verhandlungsfähigkeit des Antragstellers; Schlussfolgerungen auf die Fahreignung des Antragstellers lassen sich jedenfalls für Laien nicht mit der erforderlichen Klarheit ziehen. Bemerkenswert erscheinen dem Senat aber Äußerungen der Gutachterin, wonach der Eindruck einer erheblich gestörten Eigenwahrnehmung des Antragstellers sowie eines augenscheinlich veränderten Realitätsbezuges (Beiakte III Bl. 116) bzw. einer „als deutlich gestört imponierende[n] Realitätswahrnehmung unter gänzlicher Ausblendung eigenen Verhaltens“ (III 120) entstanden sei. Weiter heißt es (III 122), es werde in einer unkorrigierbar erscheinenden Weise immer wieder die unumstößliche Überzeugung einer ihm widerfahrenen Schädigung und Beeinträchtigung seiner Person in der Öffentlichkeit sowie seines Lebens und seiner Existenz deutlich und in seiner Wahrnehmung ziehe der Antragsteller Parallelen des Verhaltens des [ihn vormals vertretenden und nachfolgend von ihm tätlich angegriffenen] Rechtsanwaltes T. zu [dem zeitlich letzten Stalkingopfer] M.H. mit einer ihm auch dort widerfahrenden Schädigung in seiner Wahrnehmung der Realität im Sinne eines gegen ihn gerichteten feindseligen Komplottes. Der Antragsteller sehe sich einer ihm letztlich feindlich gesonnenen und ihn beeinträchtigenden und schädigenden Umwelt gegenüber, der er hilflos ausgeliefert sei (III 126). Dieses Erleben zeige über Jahre einen unumstößlichen und unkorrigierbaren Charakter, und ein Hinterfragen sowie auch differenzierteres Betrachten seiner Position scheine ihm auch nicht im Ansatz möglich; man gewinne eindeutig den Eindruck, der Antragsteller sei so in diesem Erleben gefangen, dass ihm ein anderes Verhalten letztlich gar nicht möglich sei (III 127). Zusammenfassend gelangt die Gutachterin zu dem Ergebnis, dass man vom Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung mit schizoiden, selbstunsicheren und paranoiden Zügen auszugehen habe (III 128); diese Diagnose erreiche im Fall des Antragstellers den Grad einer schweren Persönlichkeitsstörung mit einer Durchdringung des gesamten Persönlichkeitsgefüges mit einer nahezu ausschließlich durch das Störungsbild geprägten Realitätswahrnehmung ohne kritische Distanzierung, so dass diese schwere Persönlichkeitsstörung den Grad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des Gesetzes gemeint ist wohl § 20 StGB erreichen dürfte (III 129). Aufgrund dieses im Vergleich zu dem Gutachten Dr. H1. aktuelleren Befundes ist von einer schwerer wiegenden seelischen Erkrankung (nicht lediglich einer „einfachen“, sondern einer schweren Persönlichkeitsstörung) des Antragstellers auszugehen. Da außerdem einzelne Formulierungen in dem Gutachten von Frau Dr. T. (etwa: „Schädigung in seiner Wahrnehmung der Realität“) in die Richtung eines wahnhaften Erlebens weisen, ist anders als möglicherweise bei bloßer Berücksichtigung des fachärztlichen Gutachtens Dr. H1. auch nicht von der Prognose einer offensichtlich erfolgreichen Klage auszugehen. In die Richtung eines wahnhaften Erlebens könnte auch das Schreiben des Antragstellers an die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners vom 9. November 2012 weisen, in dem mit roter Schrift hervorgehoben in schwer nachvollziehbarer Weise von Gott und den Engeln die Rede ist, wobei aber im Letzten unklar bleibt, ob dies als missglückte Verwendung des Stilmittels der Ironie oder als Hinweis auf einen weiteren Realitätsverlust des Antragstellers zu bewerten ist.

Die weiteren Gutachten vermitteln im Hinblick auf die Art des seelischen Leidens des Antragstellers kein genaueres Bild. Der als Amtsarzt hinzugezogene Kreismedizininaldirektor Dr. U. berichtete unter dem Datum des 18. Juni 2012, der Antragsteller trage sehr vage, ausweichend und „zensierend“ vor. Es sei nicht gelungen, die Motive und inneren Einstellungen zu den problematischen Verhaltensweisen nachzuvollziehen. Das beim Antragsteller beobachtete Verhalten lasse sich aber ohne Widersprüche mit der vorbeschriebenen Persönlichkeitsstörung vereinbaren. Zu möglicherweise realitätsverzerrenden Wahrnehmungen könne keine Aussage getroffen werden. Aufgrund der nur spärlich getätigten Aussagen mit nur bruchstückhaften Informationen zu Geschehnissen und inneren Einstellungen könnten auch nicht mit dem nötigen Maß an Sicherheit Aussagen zu der aktuellen Fahrtauglichkeit des Antragstellers getroffen werden. Das Gutachten der ABV (Aktiv in Beruf und Verkehr, Gesellschaft für Angewandte Betriebspsychologie und Verkehrssicherheit; Begutachtungsstelle für Fahreignung) in F. vom 11. September/2. Oktober 2012 hält abschließend fest, der Antragsteller habe während der Untersuchung sehr kühl und distanziert gewirkt, ein tieferer Zugang zu seiner Erlebniswelt sei nicht möglich gewesen. Zu den Ursachen für die ihm angelasteten Vorfälle habe er sich nicht äußern wollen. Die Frage nach inhaltlichen Denkstörungen und Halluzinationen habe nicht beantwortet werden können. Das Erscheinungsbild und der psychische Befund lasse sich mit der mehrfach vorbeschriebenen Persönlichkeitsstörung vereinbaren. Da aber kein näherer Zugang zu der Erlebniswelt des Antragstellers gelungen sei, könne die Frage nach möglichen Beeinträchtigungen der Realitätswahrnehmung nicht beantwortet werden; daher könne eine sonstige wahnhafte (psychotische) Störung nicht sicher ausgeschlossen werden.

Wenngleich nicht ohne weiteres nachvollzogen werden kann, wie das Gutachten der ABV F. aus dem als wahrscheinlichste Diagnose bezeichneten Befund (lediglich) einer paranoiden oder schizoiden Persönlichkeitsstörung zur Verneinung der Fahreignung des Antragstellers gelangen konnte die normative Ableitung dieser Fahreignungsbeurteilung wird nicht verdeutlicht , zeigt doch dieses Gutachten wie auch schon das Vorgutachten des Dr. U. , dass sich die seelische Erkrankung des Antragstellers, die vermutlich zwischen einer (schweren) Persönlichkeitsstörung und einer Psychose angesiedelt sein dürfte, deshalb nicht mit letzter Gewissheit bestimmen lässt, weil der Antragsteller den Gutachtern kaum oder gar nicht Einblick in seine Gedanken und Gefühlswelt gegeben hat. Dem Antragsteller wird daher vor einer im Hauptsacheverfahren schwerlich zu umgehenden neuerlichen Begutachtung vorab zu verdeutlichen sein, dass die Sanktion des § 11 Abs. 8 FeV nicht nur bei einer vollständigen Verweigerung einer Untersuchung bzw. der Vorenthaltung eines erstellten Gutachtens greift, sondern auch im Falle der hier ganz offenkundig gegebenen Verweigerung einer hinreichenden Mitwirkung bei einer Begutachtung. Da dem Antragsteller diese mögliche Konsequenz einer mangelnden Mitwirkung nicht vorab verdeutlicht worden ist, müsste er vor einer erneuten Begutachtung auf die ihm drohende Rechtsfolge des § 11 Abs. 8 FeV, also der fingierten Fahrungeeignetheit, hingewiesen werden. Im Hinblick auf die Anwendung dieser Bestimmung ergibt sich für den Senat auch kein Unterschied zwischen einem bewussten „Mauern“ des Antragstellers und dem Fall, dass sein karges Aussageverhalten als Teil des krankhaften Geschehens bewertet werden muss.

Ergänzend weist der Senat unter Bezugnahme auf das amtsärztliche Gutachten des Dr. U. darauf hin, dass auch die Sehfähigkeit des Antragstellers näherer Klärung bedarf.

Ist nach alledem derzeit von einer offenen Prognoselage in Hinblick auf die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers auszugehen, führt die allgemeine Interessenabwägung zu einem Überwiegen des persönlichen Interesses des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Hierfür ist ausschlaggebend, dass dem Antragsteller bislang nie eine Zuwiderhandlung im Straßenverkehr als Führer eines Kraftfahrzeuges zur Last gelegt worden ist. Wenngleich der Antragsteller in der Vergangenheit sein Fahrzeug zum Zwecke des sog. Stalkings nutzte, indem er etwa den betroffenen Frauen in Schrittgeschwindigkeit hinterherfuhr oder diese am Arbeitsplatz aufsuchte, ist ein deutlicher Bezug zur Sicherheit des Straßenverkehrs nicht erkennbar. Die Verhinderung nicht verkehrsspezifischer Straftaten oder einfach nur lästigen Verhaltens gehört nicht zu den Aufgaben des Fahrerlaubnisrechts; etwas anderes kann erst dann gelten, wenn zweifelsfrei gegebenenfalls mit Hilfe der Fiktion des § 11 Abs. 8 FeV eine nach der Bewertung durch die Anlage 4 zur FeV als schwer zu bezeichnende seelische Erkrankung als Triebfeder des Fehlverhaltens des Antragstellers feststeht, die ohne weiteres auch anders als bisher auf dessen Verhalten als Kraftfahrer durchschlagen könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 sowie 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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