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Fahrverbotwegfall – eingehende Begründung des Ausnahmecharakters

OLG Hamm

Az: 2 Ss OWi 82/07

Beschluss vom 01.03.2007


Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Hagen gegen das Urteil des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 07. August 2006 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 01. 03. 2007 auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft sowie nach Anhörung des Betroffenen bzw. seines Verteidigers beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird auf Kosten der Staatskasse als unbegründet verworfen.

Gründe:

I.

Der Landrat des Märkischen Kreises hat mit Bußgeldbescheid vom 15. Februar 2006 gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften eine Geldbuße in Höhe von 100,00 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats mit der Maßgabe nach § 25 Abs. 2 a StVG festgesetzt.
Auf den hiergegen rechtzeitig eingelegten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht Lüdenscheid ihn durch das angefochtene Urteil wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße in Höhe von 200,00 € verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen.

Es hat u.a. folgende persönliche und tatsächliche Feststellungen getroffen:

„I.
Der nicht vorbelastete Betroffene ist Hilfsarbeiter. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein monatliches Nettoeinkommen ist unterdurchschnittlich.

II.

„Am 10.01.2006 gegen 16.46 Uhr befuhr der Betroffene als Fahrzeugführer in Neuenrade die Dahler Straße mit einem VW Wohnmobil mit dem amtlichen Kennzeichen XXXXXXX. Er befand sich innerhalb geschlossener Ortschaft, fuhr aber stadtauswärts in Annäherung an den Ortsausgang. Die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hielt er aufgrund unaufmerk-samen Verhaltens nicht ein. Er fuhr 81 km/h.

Die erhöhte Geschwindigkeit wurde mit einem Laser-Gechwindigkeits-messgerät vom Typ LR 90-235/P, das geeicht war, aus einer Entfernung von 107 m gemessen. Das Display des Messgerätes wies eine Geschwindigkeit von 84 km/h auf. Unter Berücksichtigung eines Toleranzabzuges von 3 km/h ergibt sich eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 31 km/h innerorts. Das Messgerät arbeitete einwandfrei. Der Messbeamte J. bediente es ordnungsgemäß.

Das Fahrzeug des Betroffenen wurde alsbald angehalten. Der Betroffene räumte sein Fehlverhalten gegenüber der Polizei ein und entschuldigte sich damit, dass er nicht gedacht habe, so schnell zu fahren.“

Das Absehen von der Verhängung des noch im Bußgeldbescheid gem. § 4 Abs. 2 BKatV festgesetzten einmonatigen Regelfahrverbotes hat das Amtsgericht wie folgt begründet:

„Das Gericht hat ausnahmsweise von der Verhängung des Regelfahrverbots abgesehen. Es ist davon überzeugt, dass der mit dem Fahrverbot verfolgte Erziehungszweck bei dem Betroffenen auch durch eine hohe Geldbuße – hier 200,00 € – erreicht werden kann. Eine Geldbuße von 200,00 € trifft den Betroffenen, der von einem Hilfsarbeiterlohn lebt und drei Familienmitglieder unterhalten muss, besonders schwer.

Hinzu kommt, dass der Betroffene in Wechselschicht bei einer Entfernung zum Arbeitsplatz von knapp 15 km arbeitet. Es ist gerichtsbekannt, dass er von Neuenrade aus seine Arbeitsstelle zu den seiner Schicht entsprechenden Tages- und Nachtzeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln teilweise nur schwer oder gar nicht erreichen kann. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass der Angeklagte das Fahrverbot während seines Jahresurlaubes vollstrecken lassen kann. Der Betroffene hatte in der Zeit vom 26.06. bis zum 01.08.2006 Jahresurlaub, den er in der Türkei verbracht hat. Wenngleich er zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass ein Bußgeldverfahren mit drohendem Fahrverbot gegen ihn anhängig war, hat es das Gericht in dem vorliegenden Fall nicht für zumutbar erachtet, von der geplanten Urlaubsreise in sein Heimatland Abstand zu nehmen. Zum einen ging es hierbei erkennbar um die Aufrechterhaltung seiner familiären Bindungen zu Verwandten und Bekannten in der Türkei. Zum anderen würden es die finanziellen Möglichkeiten des Betroffenen nicht erlaubt haben, seine Urlaubsreise in die Türkei zusammen mit seiner Familie etwa mit öffentlich zugänglichen Verkehrsmitteln wie einem Flugzeug durchzuführen; sein Wohnmobil hat er sich erkennbar angeschafft, um derartige lange Reisen zusammen mit seiner Familie kostengünstiger durchzuführen.

Schließlich konnte das Gericht nicht unberücksichtigt lassen, dass der unvorbelastete Betroffene bei einer nur um 1 km/h geringeren Geschwindigkeit, nämlich bei einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 30 km/h, lediglich eine Geldbuße von 60,00 € verwirkt hätte; ein Fahrverbot wäre in diesem Fall nach der Bußgeldkatalogverordnung nicht anzuordnen gewesen.

In einer Gesamtschau erscheinen dem Gericht die hier zu berücksichtigenden Umstände so gravierend, dass von einer erheblichen Härte für den Betroffenen im Falle eines Fahrverbotes ausgegangen werden müsste. Es hat daher von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen, nicht ohne die Regelgeldbuße von 100,00 € auf eine Geldbuße von immerhin 200,00 € zu erhöhen, wobei dieser Betrag für den Betroffenen als Familienvater eine erhebliche Belastung darstellt, die schon für sich allein den ansonsten mit einem Fahrverbot verfolgten Erziehungszweck beim Betroffenen erreicht.“

Das Urteil ist der Staatsanwaltschaft Hagen, die nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hatte, zunächst ohne Gründe zugestellt worden, da die Staatsanwaltschaft vor der Hauptverhandlung keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt und der Betroffene auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet hatte. Das begründete Urteil ist der Staatsanwaltschaft sodann am 05. Oktober 2006 zugestellt worden. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, die sie unter näheren Ausführungen mit der Sachrüge begründet und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat und der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist.

II.

Der zulässigen und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde muss der Erfolg versagt bleiben.

Die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs hat keine sachlich-rechtlichen Fehler ergeben.

Ausweislich der Entscheidungsgründe hat das Amtsgericht nicht verkannt, dass bei der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung um 31 km/h innerhalb geschlossener Ortschaft neben der gemäß § 1 BkatV zu bestimmenden Geldbuße wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers gemäß § 4 Abs. 1 BkatV i. V. m. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1 a (Geschwindigkeitsüberschreitungen) im Anhang zu Nr. 11 BKat regelmäßig ein Fahrverbot von einem Monat in Betracht kommt. Der Tatrichter ist bei der Begründung des Rechtsfolgenausspruchs weiterhin zutreffend davon ausgegangen, dass nur ausnahmsweise von der Anordnung des Fahrverbots abgesehen werden kann (vgl. § 4 Abs. 4 BkatV).

Ein solcher Ausnahmefall ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen wesentliche Besonderheiten aufweist, wobei schon eine Vielzahl für sich genommen gewöhnlicher und durchschnittlicher Umstände ausreicht, wenn der Tatrichter aufgrund dessen die Überzeugung gewinnt, dass es der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots im Einzelfall nicht bedarf, da der an sich mit der Verhängung eines Fahrverbots erstrebte erziehende Zweck ausnahmsweise auch mit einer erhöhten Geldbuße erreicht werden kann (vgl. BGH NJW 1997, 1398).

Für diesen Fall des Abweichens von der Regelahndung bedarf es indes, anders als im Fall der Verhängung eines Regelfahrverbots, einer eingehenden, auf Tatsachen gestützten Begründung (vgl. BGH, a.a.O.). Die Entscheidung, dass trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat, unterliegt in erster Linie der Würdigung des Tatrichters (vgl. BGHSt 38, 231,237 = NZV 1992, 286, 288; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 25 StVG Rdnr. 24 m. w. Nachw.), die durch das Rechtsbeschwerdegericht nur in eingeschränktem Umfange, nämlich auf das Vorliegen von Ermessensfehlern hin, überprüft werden kann und im Zweifel „bis zur Grenze des Vertretbaren“ zu respektieren ist (vgl. Beschluss des erkennenden Senats, VRS 91, 138 f.). Nur bei solchen Fehlern, insbesondere wenn das Tatgericht die Grenzen seiner Ermessensfreiheit durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 337 Rdnr. 16), ist seine Entscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren angreifbar (vgl, hierzu auch die Entscheidung des hiesigen 4. Senats für Bußgeldsachen, NZV 1996, 118, 119 m. w. Nachw.). Solche Rechtsfehler sind der angefochtenen Entscheidung nicht zu entnehmen.

Trotz der als grober Verstoß gegen die Pflichten eines Kfz-Führers gewerteten erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung hat das Amtsgericht im Hinblick auf die familiäre und berufliche Situation des Betroffenen von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen. Es hat eine Reihe von Umständen erörtert, die nach seiner Überzeugung den vorliegenden Fall zugunsten des Betroffenen vom Normalfall abweichen lassen. Die vom Amtsgericht genannten Gründe – bislang keine straßenverkehrsrechtliche Vorbelastung des Betroffenen, kurzfristige Unaufmerksamkeit, minimaler Handlungsunwert, Einsehen des Fehlverhaltens und Tätigkeit in Wechselschicht in einem Betrieb mit äußerst schlechter Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel – sind, jeweils für sich allein betrachtet zwar nicht geeignet, eine Ausnahme von der Verhängung des Regelfahrverbots zu rechtfertigen. Es ist nach den amtsgerichtlichen Feststellungen auch weder eine denkbar geringe Gefährlichkeit noch eine persönliche Härte ganz außergewöhnlicher Art gegeben; auch hätten, was die beruflichen Konsequenzen angeht, noch ergänzende Feststellungen dazu getroffen werden können, ob es dem Betroffenen z. B. möglich ist, während der Zeit des Fahrverbotes seinen Schichtdienst regelmäßig zu einer Zeit zu verrichten, in der er seinen Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. Den Hinweis der Staatsanwaltschaft, der Betroffene könne die Strecke von 15 km zu seinem Arbeitsplatz notfalls mit dem Fahrrad zurücklegen, hält der Senat im vorliegenden Fall allerdings für nicht angebracht – der Betroffene wohnt und arbeitet im Sauerland mit nicht unerheblichen Steigungen und er hat Wechselschicht.

In ihrer Gesamtheit, gestützt vor allem auf den persönlichen Eindruck, den der Tatrichter von dem Betroffenen im Hauptverhandlungstermin gewonnen hat, wonach es sich um eine einmalige Entgleisung gehandelt habe, ist die Entscheidung des Amtsgerichts aber, auch im Hinblick auf den an sich mit der Verhängung eines Fahrverbots verfolgten Zweck, die Verkehrssicherheit zu gewährleisten bzw. zu erhöhen, vertretbar und damit vom Rechtsbeschwerdegericht hinzunehmen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob nicht auch eine andere Entscheidung vertretbar gewesen wäre.

Die Erhöhung der Regelgeldbuße auf 200,00 € erscheint im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen – er ist Hilfsarbeiter mit unterdurchschnittlichem Einkommen und hat zwei Kinder – als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme angemessen. Aufgrund des Umstandes, dass der Betroffene selbst nicht Rechtsbeschwerde eingelegt hat, er also die Festsetzung der Geldbuße von 200 € hinnimmt, gibt er nach Auffassung des Senats zu erkennen, dass er offenbar in der Lage ist, die Geldbuße zu zahlen. Damit war die ansonsten erforderliche eingehendere Prüfung und Erörterung der finanziellen Lage des Betroffenen – insbesondere wie empfindlich und nachhaltig den Betroffenen die Geldbuße trifft – entbehrlich.

III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 46, 79 Abs. 3 OWiG.

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