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Folgen einer chiropraktischen Behandlung – Aufklärungspflicht eines Orthopäden

OLG Koblenz, Az.: 5 U 1461/13, Beschluss vom 27.02.2014

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 29. Oktober 2013 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor der angefochtenen Entscheidung wie folgt gefasst wird:

a. Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt, soweit die Klägerin vom Beklagten wegen dessen Behandlung der Anspruchstellerin am 19. Juni 2008 materiellen und immateriellen Schadensersatz beansprucht,

b. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin auch die noch nicht festgestellten Verdienstausfallschäden des Jahres 2011 sowie alle zukünftigen Schäden zu ersetzen, die die Klägerin infolge der von dem Beklagten am 19. Juni 2008 an ihr vorgenommenen chiropraktischen Manipulation noch erleiden wird,

c. Die Entscheidung über die erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

2. Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das angefochtene Urteil und der Senatsbeschluss sind vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin durch Leistung einer Sicherheit von 110% des beizutreibenden Betrages abwenden, es sei denn, die Klägerin leistet entsprechende Sicherheit.

4. Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 90.000 €.

Gründe

Folgen einer chiropraktischen Behandlung - Aufklärungspflicht eines Orthopäden
Symbolfoto: Von Teeradej /Shutterstock.com

Die Berufung ist aus den Erwägungen des Senatsbeschlusses vom 5. Februar 2014 unbegründet. Dort hat der Senat seine Absicht, das Rechtsmittel nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, wie folgt erläutert:

„1. Die 1954 geborene Klägerin, eine Fachärztin für Allgemeinmedizin, suchte am 19. Juni 2008 wegen Rückenschmerzen, die seit einigen Tagen persistierten, die Praxis des beklagten Orthopäden auf. Neben der klinischen Untersuchung fertigte der Beklagte Röntgenbilder, die keinerlei knöcherne Verletzungen zeigten. Sodann nahm der Beklagte eine chirotherapeutische Manipulation, nämlich einen sogenannten Panthersprung und einen Kreuzhandgriff, vor.

Vier Tage später ergab die von der Klägerin andernorts veranlasste MRT – Untersuchung eine Fraktur der massa lateralis des os sacrum beidseits, eine Fraktur des Querfortsatzes am Lendenwirbelkörper 5 beidseits sowie Knochenmarksödeme und Hämatome im Rückenbereich. Später wurden symphysennahe Mehrfragmentfrakturen des oberen und unteren Schambeinastes links mit Fragmentdislokation festgestellt.

All das führt die Klägerin auf ihre chirotherapeutische Behandlung durch den Beklagten zurück. Sie sei nicht darüber aufgeklärt worden, dass derartige Schäden eintreten könnten; daher sei der Eingriff mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig. Der Beklagte habe einen Dauerschaden verursacht, weshalb er nicht nur ein auf 50.000 € zu bezifferndes Schmerzensgeld schulde, sondern auch den bereits eingetretenen materiellen Schaden von 65.000 € ersetzen müsse. Daneben begehrt die Klägerin die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihr neben weiterem materiellem Schadensersatz den künftigen nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden zu ersetzen.

Der Beklagte hat um Abweisung der Klage gebeten. Er habe die Klägerin darüber informiert, dass der chirotherapeutische Eingriff geeignet sei, die akuten Beschwerden zu lindern. Eine weitere Aufklärung habe er bei der Klägerin als ärztlicher Kollegin für entbehrlich halten dürfen. Die am 23. Juni 2008 andernorts festgestellten Schäden beruhten nicht auf den von ihm vorgenommenen Manipulationen.

2. Das Landgericht, auf dessen Entscheidung zur weiteren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes Bezug genommen wird, hat Sachverständigenbeweis erhoben. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Prof. Dr. L. hat sich mehrmals schriftlich geäußert und die beiden Gutachten in der Schlussverhandlung des Landgerichts mündlich erläutert; auch darauf wird verwiesen.

Hiernach hat das Landgericht „den mit der Klage geltend gemachten Anspruch“ dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Der Beklagte hafte wegen Schlechterfüllung des Behandlungsvertrages, aber auch aus unerlaubter Handlung. Über die Risiken seiner chiropraktischen Manipulation habe er die Klägerin nicht aufgeklärt, was den Eingriff mangels wirksamer Einwilligung der Patientin rechtswidrig mache. Dass der Körperschaden vom Beklagten am 19. Juni 2008 verursacht worden sei, stehe nach den Feststellungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen fest.

3. Mit der Berufung hält der Beklagte an seinem Antrag auf Abweisung der Klage fest. Er wiederholt, vertieft und ergänzt sein erstinstanzliches Vorbringen nach Maßgabe der Berufungsbegründung vom 29. Januar 2014, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird.

4. Das Rechtsmittel ist aussichtslos, weil das angefochtene Urteil den Berufungsangriffen standhält.

a. Die Berufung beanstandet nicht, dass das Landgericht, das über zwei Zahlungsanträge und einen Feststellungsantrag zu entscheiden hatte, undifferenziert „den Klageanspruch“ dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt hat.

Der Senat beabsichtigt, diesen missverständlichen Tenor von Amts wegen neu zu fassen. Dieses Erfordernis ergibt sich daraus, dass über den Feststellungsantrag nicht durch Grundurteil entschieden werden durfte. Denn ein Feststellungsanspruch ist nicht „nach Grund und Betrag streitig“ im Sinne von § 304 Abs. 1 ZPO.

Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist aber mit soeben noch hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass das Landgericht beide Zahlungsanträge, gerichtet einerseits auf immateriellen und andererseits auf materiellen Schadensersatz, dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, daneben aber dem Feststellungsantrag schon jetzt umfassend stattgegeben hat. All das kann der Senat durch eine Neufassung des Urteilstenors klarstellen.

Allerdings darf bei Geltendmachung mehrerer Ansprüche ein Grundurteil nur ergehen, wenn für das Bestehen eines jeden Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte gegeben sind (BGH VI ZR 8/57). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt; die Berufung erhebt insoweit auch keine Beanstandung.

b. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Landgericht eine Schadensersatzhaftung des Beklagten bejaht.

aa. Soweit die Berufung beanstandet, das Landgericht habe den Antrag auf Parteianhörung des Beklagten zum Inhalt der Aufklärung übergangen, ist das Verfahren des Landgerichts nicht zu beanstanden.

Im Ausgangspunkt ist zwar richtig, dass die erweiterte gerichtliche Sachaufklärungs- pflicht im Arzthaftungsprozess es in der Regel gebietet, zum Inhalt der gewöhnlich unter vier Augen stattfindenden Patientenaufklärung die Beteiligten des Gesprächs zumindest anzuhören (§ 141 ZPO), um aufgrund des persönlichen Eindrucks bei der Befragung durch das Gericht einen verlässliche Entscheidungsgrundlage zu gewinnen.

Das enthebt jedoch weder den Arzt noch den Patient der aus dem Beibringungsgrundsatz abzuleitenden Verpflichtung, zum Inhalt der Aufklärung vorzutragen.

Dieser Verpflichtung ist der Beklagte nachgekommen, indem er behauptet hat, der Klägerin gesagt zu haben, er beabsichtige einen chirotherapeutischen Eingriff, der Linderung verschaffen könne, was aber nicht zwangsläufig so sein müsse.

Dieses Vorbringen hat das Landgericht als zutreffend unterstellt und gleichermaßen zutreffend als unerheblich erachtet. Dass der Beklagte die Patientin nicht wortlos mit chiropraktischen Griffen überraschte, versteht sich von selbst. Gleichermaßen selbstverständlich erscheint, dass er insoweit keine Erfolgsgarantie übernahm. Für die entscheidende Frage einer wirksamen Risikoaufklärung ist all das ohne Bedeutung. Einer Parteianhörung oder gar einer Parteivernehmung bedurfte es daher nicht.

bb. Soweit die Berufung wiederholt, hier habe sich kein typisches, eingriffsspezifisches Risiko verwirklicht, so dass eine Aufklärung nicht geschuldet gewesen sei, kann dem nicht gefolgt werden. Das Risiko mag selten sein; es hat jedoch besonders belastende Folgen, wenn es eintritt. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass über derartige Risiken aufgeklärt werden muss.

Dass die Impulsenergie bei derartigen Eingriffen nicht exakt steuerbar ist, woraus sich zwingend ergibt, dass das Maß des Zuträglichen leicht überschritten werden kann, begründet eine gesteigerte Aufklärungspflicht, weil ein aufgeklärter Patient eine „Behandlung auf`s Geratewohl“ eher ablehnen wird als Eingriffe, die 100% – ig beherrschbar sind. Über die von der Berufung in den Blick gerückten Unwägbarkeiten hätte die Klägerin vorab informiert werden müssen, um derart aufgeklärt eigenverantwortlich entscheiden zu können, ob sie sich auf die chiropraktischen Fähigkeiten des Beklagten einlassen wollte.

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cc. Die Anforderungen an die Aufklärungspflicht sind nicht dadurch eingeschränkt oder gar aufgehoben, dass die Klägerin selbst Ärztin für Allgemeinmedizin ist.

Welche Risiken einem Eingriff spezifisch anhaften, ist in der Regel nur Ärzten der jeweiligen Fachrichtung bekannt. Dass die Klägerin das Fachwissen eines chiropraktisch tätigen Orthopäden hatte, zeigt der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte nicht auf. Welche in ihrer Gesamtheit nahezu unüberschaubaren Risiken Eingriffe in den verschiedenen medizinischen Fachrichtungen haben, ist Ärzten anderer Fachrichtungen in der Regel nicht bekannt. Noch unwahrscheinlicher ist derartiges Fachwissen, wenn es sich, wie die Berufung an anderer Stelle behauptet, um ein außerordentlich seltenes Risiko handelt.

dd. Mit dem erstmals in zweiter Instanz erhobenen Einwand einer hypothetischen Einwilligung kann der Berufungsführer aus prozessualen Gründen nicht mehr gehört werden (BGH NJW 2009, 1209 -1212).

c. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die Überzeugung gewonnen hat, der Eingriff des Beklagten habe die konkreten Schäden verursacht. Die Berufung verkennt, dass richterliche Überzeugung keine mathematische Gewissheit erfordert. Es reicht ein Grad von Wahrscheinlichkeit, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet. Da die vom Kläger vor seinen chiropraktischen Eingriffen gefertigten Röntgenbilder keine Verletzungen zeigen, deutet auch zur Überzeugung des Senats alles darauf, dass der wenige Tage später durch Bildgebung gesicherte dramatische Befund vom Beklagten herbeigeführt wurde.

Dass die von der Berufung in den Blick gerückte Medikation der Klägerin die erheblichen Verletzungen verursacht haben könnte, ist fernliegend, wenn nicht gar ausgeschlossen. Der Senat muss daher dem Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dieser Frage nicht nachgehen.

Soweit die Berufung mit diesem Vorbringen eine besondere Anfälligkeit der Klägerin behauptet, verkennt der Beklagte, dass ihn diese besondere Anfälligkeit gegebenenfalls hätte veranlassen müssen, die Risiken seiner chiropraktischen Manipulationen noch kritischer zu sehen, was die Anforderungen an die Aufklärung der Klägerin weiter erhöhte.

Im Übrigen wird der Ursachenzusammenhang nicht dadurch unterbrochen, dass der Arzt statt eines vermeintlich umfassend belastbaren Patienten einen solchen mit erheblichen Beeinträchtigungen weiter und tiefer greifend geschädigt hat.

d. Auf die Frage, ob eine erkennbare Osteoporose vorlag, kommt es nicht an. Eine umfassende Risikoaufklärung schuldete der Beklagte auch dann, wenn dies nicht der Fall war.

5. Nach alledem ist die Berufung aussichtslos. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO sind gegeben; insbesondere verspricht eine mündliche Verhandlung keinen Erkenntnisgewinn.“

Der Beklagte hat sich zu alledem nicht geäußert.

Sein Rechtsmittel musste mit den Nebenentscheidungen aus §§ 97Abs. 1, 708 Nr.10,711 ZPO zurückgewiesen werden.

 

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