Thüringer Oberlandesgericht
Az.: 4 U 594/09
Urteil vom 10.02.2010
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 10.06.2009 – 3 O 701/07 – wie folgt abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.000,00 EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.04.2007 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits (beider Instanzen) übernehmen der Kläger 1/3 und die Beklagte 2/3.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
I.
Der – am 28.07.1984 geborene – Kläger verlangt Schmerzensgeld wegen eines am 03.08.2004 auf dem Bolzplatz der Beklagten erlittenen Unfalls, bei dem er erhebliche Verletzungen, u.a. eine querverlaufende Prellmarke am Hals und Schürfwunden mit Schwellungen links frontal im Gesicht (in Augenhöhe) und am linken Ellenbogen erlitt. Er spielte am Unfalltag gegen 20.30 Uhr gemeinsam mit anderen Jugendlichen Fußball auf dem im Eigentum der Beklagten stehenden Bolzplatz in M.. Der Bolzplatz war umrandet mit einer Maschendrahtumzäunung, die sich seit geraumer Zeit – aufgrund von Vandalismus – in einem verwahrlosten und beklagenswerten Zustand befand; der Zustand der Zaunanlage war der Beklagten und auch dem Kläger bekannt.
Das Landgericht hat über den bestrittenen Unfallhergang – wegen der Einzelheiten des Parteivortrags wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen (§ 540 ZPO) – Beweis durch Einvernahme der Zeugen W., S., L. und H. (zum Unfallhergang) und der Zeugen Sch. und Sch. (zum Zustand des Zaunes) und durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des H. W. (ebenfalls zum Zustand des Zaunes; Zaunhöhe und Spanndraht) umfangreich Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsprotokolle vom 17.10.2007 (Bl. 84 ff., Bd. I) und 30.01.2008 (Bl. 134 ff., Bd. I) und das Gutachten des SV W. (vom 30.06.2008) Bezug genommen.
Das Landgericht hat mit Urteil vom 10.06.2009 die Klage abgewiesen. Es ist zwar aufgrund des Beweisergebnisses von dem Unfallereignis, wie vom Kläger geschildert, ausgegangen, hat aber dennoch eine Einstandspflicht der Beklagten verneint, weil es von einer ausreichenden Kontrolle und Instandhaltung des Bolzplatzes/der Zaunanlage ausgegangen ist. Es hat dabei ausgeführt, eine Kontrolldichte im Abstand von 4 bis 6 Wochen sei ausreichend. Im Übrigen sei dem Kläger ein ganz überwiegendes Mitverschulden (Eigenverschulden) anzurechnen, da er regelmäßig auf dem Bolzplatz Fußball gespielt habe, ihm mithin der Zustand der (beschädigten) Zaunanlage bekannt sei; gegenüber diesem Mitverschulden trete eine Haftung der Gemeinde wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht zurück.
Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 24.06.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22.07.2009 Berufung eingelegt und diese – nach Gewährung einer Fristverlängerung bis 29.09.2009 – am 24.09.2009 begründet. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 24.09.2009 (Bl. 283 ff, Bd. II d.A.) Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des LGs Gera vom 10.06.2009 – 3 O 701/07 – die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 1.500,- € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt – unter Verteidigung des Urteils –
die Berufung zurückzuweisen und
(zu ihren Gunsten) die Revision zuzulassen.
II.
Die statthafte und – da fristgerecht eingelegt und begründet – auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 511, 517, 519, 520 ZPO) hat in der Sache Erfolg und führt zur Abänderung des erstinstanzlichen Urteils im tenorierten Umfang. Unter Anrechnung eines hälftigen Mitverschuldensanteils (des Klägers) hält der Senat für die auf Grund des Unfalls erlittenen erheblichen Verletzungen und Schmerzen ein Schmerzensgeld von insgesamt 1.000,- € für angemessen; die Beklagte ist hierfür einstandspflichtig wegen Verletzung ihrer allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, da diese Verletzung für den Unfall vom 03.08. 2004 jedenfalls mitursächlich war.
Im Einzelnen gilt Folgendes:
1.
Die Verkehrssicherungspflicht einer Gemeinde für ihren Bolzplatz bestimmt sich allein nach Privatrecht, also nach § 823 BGB; sie gehört nicht zu der der Polizei nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PAG (Thür.) obliegenden Aufgabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren (st. Rechtsprechung des 4. ZS des Thür. OLG für Thüringen; ebenso BGH und andere Obergerichte für ihren Bereich). Die Verweisung des Rechtsstreits vom AG Rudolstadt an das LG Gera war mithin rechtlich nicht geboten.
2.
Die Gemeinde haftet daher aufgrund der Verletzung ihrer allgemeinen Verkehrssicherungspflicht (privatrechtlich) und nicht nach den Grundsätzen der Amtshaftung, auch wenn der Bolzplatz – wie hier – zur öffentlichen Benutzung freigegeben war (dazu OLG Köln v. 11.2.1985 – 7 U 95/84; zit. nach juris), weil die Benutzung des Bolzplatzes wegen der schadhaften Zaunanlage für die Nutzer gefährlich war, wie dies der streitgegenständliche Unfall beweist, und die Gemeinde ihren Sicherungspflichten nicht, jedenfalls nicht genügend nachgekommen ist. Weder reichte hier eine 4 bis 6-wöchig ausgeübte Kontrolldichte, noch das jeweilige vereinzelte Nachbessern schadhafter Stellen aus, den mit dem (äußerst schadhaften) Zustand der Zaunanlage verbundenen Gefahren wirksam zu begegnen. War die Zaunanlage mit den zumutbaren Haushaltsmitteln nicht in einem gefahrlosen Zustand zu halten, hätte der (stark beschädigte) Zaun insgesamt abgebaut oder der Bolzplatz ganz geschlossen werden müssen.
Als Grundstücks eigentümerin und Betreiberin des Bolzplatzes hat die Beklagte für den – soweit wie möglich „gefahrlosen“ – Zustand des Grundstücks und damit auch der Zaunanlage einzustehen (dazu grds. BGH NJW 1994, 3348; BGH NJW-RR 1990, 409; BGH NJW 1999 2364). Dies gilt grundsätzlich gegenüber befugten Benutzern, soweit sich deren Benutzung im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs bewegt (vgl. hierzu BGH NJW 1985, 1078; OLG Jena VersR 1998, 903), aber auch bei bestimmungswidrigem, aber vorhersehbar unbefugtem Gebrauch, z.B. durch minderjährige Kinder. Damit muss bei Kindern immer gerechnet werden, weil diese erfahrungsgemäß aus ihrem Spieltrieb, ihrer Unerfahrenheit und ihrem Leichtsinn heraus Gefahren meist (noch) nicht zutreffend einzuschätzen vermögen und geneigt sind, Verbote zu missachten (dazu BGH NJW 1980, 1159; BGH NJW 1991, 2340; BGH NJW 1994, 3348). Der am 28.07.1984 geborene Kläger war zur Unfallzeit 20 Jahre alt; mithin volljährig und hat am Unfalltag mit anderen Jugendlichen gespielt. Es ist daher von einer befugten Benutzung des Bolzplatzes auszugehen, so dass – (zu Gunsten der Beklagten) fallbezogen – als Maßstab der hier anzuwendenden Verkehrssicherungspflicht nicht der erhöhte gilt, den die Rechtsprechung für (reine) Kinderspielplätze anwendet.
3.
Aber auch bei Beachtung dieses (hier Fall bezogen verminderten) Maßstabs ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art (also auch bei Betreiben eines Bolzplatzes) – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden (vgl. BGH NJW 2007, 1683 m.w.Nw.).
Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind.
Der Betreiber einer Sport- und Spielanlage braucht demnach zwar nicht allen denkbaren Gefahren vorzubeugen. Die Verkehrssicherungspflicht erfordert jedoch regelmäßig den Schutz vor Gefahren, die über das übliche Risiko bei der Anlagenbenutzung hinausgehen, vom Benutzer nicht vorhersehbar und für ihn nicht ohne Weiteres erkennbar sind. Der Umfang der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen richtet sich insbesondere danach, welcher Grad an Sicherheit bei der Art des Spiel- bzw. Sportgeräts und dem Kreis der dafür zugelassenen Benutzer typischerweise erwartet werden kann (vgl. BGH a.a.O.).
Aus den genannten Grundsätzen folgt, dass sich (auch) eine Sportanlage in einem technisch einwandfreien Zustand befinden muss. Der Betreiber einer Sportanlage ist verpflichtet, bei Planung, Konstruktion, Bau und Betrieb alle technisch und wirtschaftlich zumutbaren Maßnahmen auszuschöpfen, um den Benutzer den höchst möglichen Sicherheitsstandard zu bieten. Das gilt ohne Einschränkung auch für eine zusätzliche Teilanlage der Sportanlage, wie hier den Zaun, dessen Zustand und Verkehrssicherheit natürlich auch an den Anforderung der allgemeinen Verkehrssicherung zu messen ist. Die Beklagte hat – unabhängig von der Frage der Kontrolldichte – den Zaun jeweils nahezu in dem Zustand belassen, wie er hier für den streitgegenständlichen Unfall ursächlich geworden ist (s. Zeugenaussagen).
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme 1. Instanz hat die Gemeinde den schadhaften und gefährlichen Zustand des Zaunes gekannt und – von einzelnen Nachbesserungsarbeiten abgesehen (s. die Zeugen Schilling und Schwarz) – quasi sehenden Auges den ständigen Vandalismus des Zaunes toleriert, ohne diesen ganz zurück zu bauen oder durch einen stabileren Zaun zu ersetzen. Dabei kommt es – nach Auffassung des Senats – auch nicht darauf an, dass diese beiden Zeugen „einzelne Spanndrähte“ nicht gesehen haben wollen. Nach den Aussagen der anderen Zeugen haben diese den Unfallverlauf, wie ihn der Kläger geschildert hat, voll bestätigt, so dass mit dem Landgericht davon auszugehen ist, dass dieser Unfallverlauf auch bewiesen wurde.
Einer weiteren Beweisaufnahme durch Vernehmung weiterer Zeugen, wie von der Beklagten erstinstanzlich dazu benannt, diese Zeugen hätten keine Verletzungen des Klägers in den nachfolgenden Tagen anlässlich eines Kinobesuchs bemerkt, bedarf es nicht. In der Sitzung vom 15.04.2009 (s. Prot. Bl. 245, 246) hat der Beklagtenvertreter diesen Beweisantrag nicht mehr wiederholt. Soweit der Beklagtenvertreter im Berufungsverfahren erneut die Verletzung des Klägers/einzelne Verletzungsfolgen durch den Zaun in Abrede stellt, kann er damit nicht mehr gehört werden. Auch eine erneute und weitere Beweisaufnahme 2. Instanz erscheint dem Senat in Bezug auf solche indirekten Zeugen nicht notwendig.
4.
Nach den obigen Ausführungen ist eine Verletzung der der Gemeinde obliegenden VSP in Bezug auf den Bolzplatz/Zaunanlage hier gegeben. Diese Verletzung ist auch für den Unfall mitursächlich gewesen. Nach dem – bewiesenen – Unfallhergang hat sich der Kläger an einem einzelnen Spanndraht verletzt, als er dem Ball hinterher sprang, der über das Spielfeld hinaus geschossen und der durch den schadhaften Zaun nicht aufgefangen wurde. Der Kläger, der nur auf den Ball achtete, lief mit dem Hals auf den Spanndraht auf und wurde durch die Wucht des Aufpralls ungebremst zu Fall gebracht. Dabei zog er sich erhebliche Verletzungen (Prellungen und Schürfwunden) am Hals, am Kopf in Augenhöhe links und am linken Ellbogen zu, wie die zur Akte gereichten Lichtbilder (Bl. 5 ff. d.A.) eindrucksvoll belegen.
Diese Unfallverletzungen werden auch durch die in der Akte befindlichen Arztberichte der Thüringen-Kliniken bestätigt.
Andererseits kommt bei dem zum Unfall 20 jährigen Kläger ein Mitverschulden in Betracht, weil auch er den schadhaften Zustand des Zaunes gekannt hat. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass er im Eifer des Gefechts und in der konkreten Spielsituation die damit verbundenen Gefahren sicher nicht richtig eingeschätzt und beachtet hatte, einmal ganz abgesehen davon, ob er in einer solchen Spielsituation den einzelnen Spanndraht überhaupt wahrgenommen hat. Unter Berücksichtigung aller Umstände und des vom Senat hoch bewerteten Mitverschuldens (Eigenverschuldens) erschien dem Senat ein Schmerzensgeld in der ausgeurteilten Höhe angemessen, aber auch ausreichend.
5.
Die zuerkannten Zinsen rechtfertigen sich aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.
III.
Die Nebenentscheidungen bezüglich Kosten (Kostenquote) und vorläufiger Vollstreckbarkeit beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Revisionsgründe liegen ersichtlich nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO); es handelt sich um einen Einzelfall, den der Senat im Lichte der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung des BGH und anderer Oberlandesgerichte entschieden hat.