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Geschwindigkeitsüberschreitung um mehr als 116 % innerorts – Fahrlässigkeit?

OLG Hamm

Az: 2 Ss OWi 401/06

Beschluss vom 31.07.2006


Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Witten vom 03. April 2006 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 31. 07. 2006 durch den Richter am Oberlandesgericht als Einzelrichter nach Anhörung und auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 79 Abs. 5 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 OWiG beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde wird auf Kosten des Betroffenen verworfen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die §§ 41 Abs. 2, 49 StVO, 24, 25 StVG zu einer Geldbuße von 100 € verurteilt und außerdem ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde, mit der die Verletzung materiellen Rechts gerügt worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel mit der Maßgabe zu verwerfen, dass der Betroffene nur wegen eine fahrlässigen Verstoßes verurteilt worden ist.

II.
Das Amtsgericht hat folgende tatsächliche Feststellungen getroffen:

„Am 06. September 2005 befuhr der Betroffene auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle gegen 12.09 Uhr mit seinem Pkw Seat, amtl.- Kennzeichen: XXXXXX, die Sprockhöveler Straße in Witten in Fahrtrichtung Herbeder Straße. Die Sprockhöveler Straße ist eine nicht breit ausgebaute enge Durchgangsstraße und verläuft innerhalb geschlossener Ortschaft. Sie ist an beiden Straßenseiten mit Wohn- und Geschäftshäusern bebaut. Wegen der Wohnbebauung und eines nahe gelegenen Kindergartens ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Zeichen 274 zu § 41 Abs. 2 StVO auf 30 km/h begrenzt.

Beim Passieren der Messstelle am 06. September 2005 gegen 12.09 Uhr wurde die Geschwindigkeit des vom Betroffenen geführten Fahrzeugs mit 68 km/h gemessen und auf Bild Nr. 3 dokumentiert, was abzüglich des Toleranzwertes von 3 km/h eine den Feststellungen zugrunde zu legende Geschwindigkeit von 65 km/h ergibt.“

II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Vielmehr war das Rechtsmittel entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft nach § 349 Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 79 Abs. 3 OWiG als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

Über die Antragsbegründung der Generalstaatsanwaltschaft hinaus weist der Senat nur auf Folgendes zusätzlich hin:

Es ist vorliegend – insoweit entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft – insbesondere nicht die Annahme des Amtsgerichts zu beanstanden, der Betroffene habe vorsätzlich gehandelt.

Ausweislich der Urteilsgründen hat der Betroffene nach Erstattung des Sachverständigengutachtens die objektive Geschwindigkeitsüberschreitung eingeräumt. Subjektiv hat er auch seine gefahrene Geschwindigkeit erkannt. Dabei stellt bereits der Grad der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ein starkes Indiz für vorsätzliches HandeIn (vgl. u.a. Senat in DAR 1999, 178 = VRS 96, 291 = NZV 1999, 301; Beschluss des 3. Senats für Bußgeldsachen des OLG Hamm vom 8. November 2005, 3 Ss 702/05; vgl auch KG NZV 2004, 598) dar (vgl. dazu auch BGHSt 43, 241). Bei der Entscheidung ob vorsätzliches Handeln zu bejahen ist, kommt es zunächst auf die relative Geschwindigkeitsüberschreitung an, das heißt auf das Verhältnis zwischen der gefahrenen und der vorgeschriebenen Geschwindigkeit. Je höher die prozentuale Überschreitung ausfällt, desto eher wird sie von einem Kraftfahrer auf Grund der stärkeren Fahrgeräusche und der schneller vorbeiziehenden Umgebung bemerkt (so auch 3. Senat für Bußgeldsachen des OLG Hamm, a.a.O., – für den außerörtlichen Bereich; KG, a.a.O.; OLG Rostock VRS 108, 376). Dies gilt nach Auffassung des Senats auch innerorts und vorliegend für den Betroffenen um so mehr, als nach den Urteilsgründen die befahrene Straße im Bereich der Geschwindigkeitsbegrenzung eine nicht breit ausgebaute enge Durchgangsstraße und an beiden Seiten mit Wohn- und Geschäftshäusern bebaut war. Für den Betroffenen konnten also gar keine Zweifel bestehen, dass er sich innerorts befand.

Der Betroffene hat die Geschwindigkeitsüberschreitung auch billigend in Kauf genommen. Auch wenn es keine genauen, durch wissenschaftliche Erhebungen gesicherte Erkenntnisse geben mag, kann davon ausgegangen werden, dass ordnungsgemäß aufgestellte Vorschriftzeichen von Verkehrsteilnehmern in aller Regel wahrgenommen werden (BGH, a.a.O.). Wenn der Betroffene daher – wie sich aus den Urteilsgründen entnehmen lässt – bei der Art der dargestellten Bebauung das aufgestellte Geschwindigkeitsbegrenzungsschild nicht sieht, so drängt sich geradezu die Annahme auf, er habe sich in einer Weise vom Verkehrsgeschehen abgewandt, dass Regelverstöße billigend von ihm in Kauf genommen werden, er mithin also bedingt vorsätzlich gehandelt hat ( OLG Koblenz OLGSt StVG § 25 Nr.31). Dafür spricht auch die mitgeteilte Einlassung des Betroffenen, er habe auf die Geschwindigkeit nicht geachtet, er sei in Gedanken schon bei der Arbeit gewesen.

Ausgehend hiervon, nämlich einer innerorts erfolgten Geschwindigkeitsüberschreitung um mehr als 116 % und einer zusätzlich erfolgten absoluten Geschwindigkeitsüberschreitung von 35 km/h innerorts in einer Tempo-30-Zone, bedarf die Annahme ggf. gleichwohl doch vorliegenden fahrlässigen Handelns der Feststellung besonderer Umstände (KG, a.a.O.), die sich aber weder aus der Einlassung des Betroffenen noch aus der Rechtsbeschwerdebegründung ergeben. Damit ist das Amtsgericht entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft zutreffend von einem vorsätzlichen Verstoß ausgegangen.

Die vom Amtsgericht festgesetzten Rechtsfolgen sind ebenfalls nicht zu beanstanden. Insbesondere kann nicht (mehr) von einem so genannten Augenblicksversagen im Sinne des Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, a.a.O.) ausgegangen werden. Die dem Betroffenen zur Last zu legende Pflichtwidrigkeit hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie nur auf eine grob pflichtwidrige Vernachlässigung der vom Betroffenen zu fordernden Aufmerksamkeit zurückzuführen ist (vgl. dazu Senat in StraFo 2000, 234 = zfs 2000, 319 = DAR 2000, 325 = VRS 98, 452 = NZV 2000, 341).

Nach allem war damit das Rechtsmittel mit der sich aus § 473 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 79 Abs. 3 OWiG ergebenden Kostenfolge zu verwerfen.

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