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Gewaltopferentschädigung für die Folgen der Tätlichkeit eines Kindes denkbar

Bundessozialgericht

Az.: B 9/9a VG 3/06 R

Urteil vom 08.11.2007

Vorinstanzen:

Sozialgericht Hildesheim, Az.: S 7 VG 29/00

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Az.: L 5 VG 8/05, Urteil vom 19.07.2006


Entscheidung:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. Juli 2006 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz (OEG)) iVm dem Bundesversorgungsgesetz.

Sie ist die Mutter des 1991 geborenen und im Alter von 5 1/2 Jahren verstorbenen F. Dieser spielte am 19.2.1997 mit dem damals 4 1/2-jährigen Y. am Hochwasser führenden Fluss Nette. Dabei fiel er in den Fluss und ertrank. Seine Leiche wurde erst Wochen später gefunden.

Am 9.6.1998 beantragte die Klägerin Versorgung. Sie sei durch den Tod ihres Sohnes psychisch stark beeinträchtigt, leide unter Depressionen und habe ihre Lebensfreude verloren. Der Beklagte lehnte den Antrag ab, weil ein vorsätzlicher rechtswidriger Angriff des Y. auf F. nicht nachgewiesen sei. Selbst wenn er geschubst worden sein sollte, lasse sich nicht feststellen, dass der zur Tatzeit 4 1/2-jährige „Täter“ ihn bewusst in den Fluss stoßen und eine Straftat habe begehen wollen (Bescheid vom 31.3.2000; Widerspruchsbescheid vom 29.8.2000).

Das Sozialgericht Hildesheim (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 23.3.2005). Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19.7.2006), nachdem es aus dem Parallelverfahren der Eltern des F. (B 9/9a VG 2/06 R) das neuropädiatrisch-sozialpädiatrische Gutachten der Diplom-Psychologin Dr. D. vom 25.4.2006 u. a. zur Frage der Einsichtsfähigkeit eines normal entwickelten 4 1/2-jährigen Kindes beigezogen hatte. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Nach keiner der denkbaren Sachverhaltsvarianten, wie sie sich aus den polizeilichen Protokollen über die Vernehmung von Zeugen des Vorgangs vom 19.2.1997 ergäben, liege ein vorsätzlicher tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 OEG vor. Weitere Ermittlungen seien deshalb nicht erforderlich. Sollte F. ausgerutscht und in den Fluss gefallen sein, fehle es schon an einem Tatbeitrag des Y. Sollten die beiden gerangelt haben und F. hierbei abgerutscht und in den Fluss gefallen sein, hätte Y. allenfalls fahrlässig gehandelt. Auch wenn Y. den verstorbenen Sohn der Klägerin entweder ohne äußeren Anlass oder im Rahmen einer Rangelei bzw. eines Streits absichtlich in den Hochwasser führenden Fluss geschubst haben sollte, fehle ein tätlicher Angriff, zumindest aber der Vorsatz.

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1 Abs. 1 OEG. Das LSG hätte bei ausreichender Würdigung der Zeugenaussagen zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass sich Y. hinter F. gestellt und ihn dann mit beiden Händen ins Wasser geschubst habe. Y. habe dabei vorsätzlich gehandelt, denn auch ein schuldunfähiges, aber handlungsfähiges Kind könne mit natürlichem oder bedingtem Vorsatz einen rechtswidrigen tätlichen Angriff begehen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.7.2006 und den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 23.3.2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 31.3.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.8.2000 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr wegen des ihren Sohn F. betreffenden Geschehens vom 19.2.1997 Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 19.7.2006 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er hält eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich.

II.

Die Revision der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache begründet.

Nach § 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Danach kann Anspruch auf Entschädigung auch haben, wer – wie die Klägerin von sich behauptet – als „Sekundäropfer“ durch die gegen einen anderen verübte Gewalttat geschädigt worden ist (vgl. dazu Loytved, NZS 2004, 516 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BSG). Für den Vorsatz des Täters gilt der strafrechtliche Vorsatzbegriff: Wissen um die und Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand (zumeist einer Körperverletzung) gehörenden objektiven Merkmale. Es genügt natürlicher Vorsatz, der sich nur auf den tätlichen Angriff, nicht auf den Körperschaden richten muss (vgl. BSG NJW 1993, 880; juris RdNr. 14 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BSG).

Schuldhaft braucht der Angreifer nicht gehandelt zu haben. Insofern findet die strafrechtliche Altersgrenze (von 14 Jahren) für die Schuldfähigkeit (§ 19 Strafgesetzbuch (StGB)) keine entsprechende Anwendung. Ebenso wenig gilt in diesem Zusammenhang das Mindestalter (von 7 Jahren) für eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit (§ 828 Abs. 1 BGB).

Zu Recht hat das LSG angenommen, auch ein erst 4 1/2-jähriges Kind könne grundsätzlich Täter eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sein. Das OEG kennt insoweit keine starre Altersgrenze. Es billigt Versorgung auch demjenigen zu, der durch den Angriff eines noch nicht 14-jährigen und damit nach strafrechtlichen Maßstäben schuldunfähigen Kindes geschädigt wird, und versagt sie prinzipiell ebenso wenig dem Opfer eines noch nicht 7-jährigen „Täters“, der zivilrechtlich für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich ist (vgl. BT-Drucks 7/2506 S 14; BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 S 58 mwN). Das OEG begrenzt die staatliche Entschädigungspflicht wegen der Folgen kindlicher Gewalttaten insoweit altersunabhängig allein mit dem Merkmal „vorsätzlich“. Dazu hat das LSG für den Senat bindend (vgl. § 163 SGG) festgestellt, dass ein Kind im Alter von 4 1/2 Jahren durchaus in der Lage ist, bei einfachen Handlungsabläufen die unmittelbaren Folgen ungefähr vorherzusehen.

Ob am 19.2.1997 ein „vorsätzlicher tätlicher Angriff“ des Y. auf F. erfolgt ist oder ein solcher ausgeschlossen werden kann, lässt sich im Revisionsverfahren nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat diesen Begriff verkannt und deshalb den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.

Zu Unrecht fordert das LSG für den als „feindselige“ Einwirkung auf den Körper eines anderen definierten tätlichen Angriff die Fähigkeit des Täters, seine Handlung moralisch zu bewerten. Feindselig handelt nach der Rechtsprechung des Senats bereits, wer (objektiv) gegen das Strafgesetz verstößt, indem er den Körper eines anderen verletzt (BSGE 81, 288, 292 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 12). Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (also eine fehlende Einsichtsfähigkeit), betrifft die Schuldfähigkeit des Täters (vgl. Tröndle/Fischer, 54. Aufl., § 20 StGB RdNr. 3), auf die es im Rahmen des § 1 OEG nicht ankommt.

Auch der Auffassung des LSG, wonach ein „impulsiv“ handelnder Täter keinen natürlichen Vorsatz habe, lässt sich nicht folgen. Die mangelnde Fähigkeit zur oder der Verlust der Impulskontrolle macht den Täter zwar möglicherweise schuldunfähig, schließt aber ein Handeln mit natürlichem Vorsatz nicht aus (vgl. BGH, NStZ 2004, 324; juris RdNr. 10 ff; Tröndle/Fischer aaO).

Das LSG hat außerdem zwar zu Recht eine „Rangelei“ oder eine „Schubserei“ als unter Kindern im Vorschulalter übliche Verhaltensweise qualifiziert und die staatliche Entschädigungspflicht für daraus entstandene Verletzungsfolgen – mangels Rechtswidrigkeit – unter Hinweis auf Rechtsprechung des Senats verneint (vgl. BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 14; SozR 3800 § 1 Nr. 6). Im vorliegenden Fall trägt diese Erwägung aber nur, wenn es sich tatsächlich lediglich um eine übliche Rangelei oder Schubserei gehandelt haben sollte. Das ist bisher nicht festgestellt.

Danach kommt es hier entscheidend auf den äußeren Ablauf des Geschehens vom 19.2.1997 an, den das LSG, allein gestützt auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle von Zeugen – nicht aber des Y., noch nicht hinreichend aufgeklärt und auch mit den von ihm angenommenen Sachverhaltsvarianten nicht erschöpfend beschrieben hat. Es bleibt insbesondere offen, ob sich aus dem Hergang des Ereignisses nicht auf Rechtswidrigkeit und natürlichen Vorsatz schließen ließe, wenn Y., wie von der Klägerin behauptet, sich hinter den dem Wasser zugewandten F. gestellt und ihn mit beiden Händen und größerem Krafteinsatz – nach dem äußeren Bild planvoll handelnd – ins Wasser gestoßen haben sollte. Zur Beantwortung dieser Frage dürften zahlreiche Einzelheiten aufzuklären sein: z.B. Standort des F. (u.a. Entfernung vom Fluss), Art des angeblichen Stoßes (Ausführung, Kraftentfaltung, unmutiger Puff im Vorbeigehen oder Stoß direkt in Richtung Wasser), Größe, Gestalt und Gewicht der beteiligten Kinder.

Der Senat kann die danach erforderlichen Ermittlungen nicht nachholen (§ 163 SGG). Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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