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Glatteisunfall – Anwendbarkeit der Regeln über Anscheinsbeweis

LG Hamburg – Az.: 302 O 233/16 – Urteil vom 10.11.2017

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 50.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche nach einem Glättesturz geltend.

Die Klägerin ist gelernte Diplomkauffrau und war bei der Firma I. GmbH angestellt. In dieser Funktion verdiente sie brutto 3.300,00 € zuzüglich einer Pauschale für Reisekosten. Ab dem 01.09.2012 war die Klägerin arbeitslos und erhielt monatliche Leistungen in Höhe von 1.217,00 €.

Die Beklagte betreibt in H. N. einen Recyclinghof. Auf diesem sind die einzelnen Container in einer Senke so angeordnet, dass sie vom Rand ebenerdig befüllt werden können. Zu den räumlichen Gegebenheiten wird auf das Anlagenkonvolut B5 Bezug genommen.

Am 15.03.2013 begab sich die Klägerin zu dem Recyclinghof, um dort verschiedene Müllsorten zu entsorgen. Zu dieser Zeit befand sich neben dem Container für den „gelben Sack-Müll“ ein Rohr, durch das das Regenwasser der Überdachung auf den Fußweg geleitet wurde. Das Ausmaß der sich aufgrund der winterlichen Witterung gebildeten glatten Stellen ist zwischen den Parteien streitig. Die Klägerin entsorgte Müll in jenem Container und stürzte auf dem Rückweg, wobei sie sich erhebliche Verletzungen zuzog.

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 10.06.2013 (Anlage K11) warf die Klägerin der Beklagten die Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht vor, da sie auf einer Eisfläche auf dem Recyclinghof gestürzt sei und bat die Beklagte um Bestätigung ihrer Einstandspflicht. Mit Schreiben vom 17.06.2013 (Anlage K 13) bat die Beklagte die Klägerin weitere Unterlagen, die die Klägerin mit Schreiben vom 13.11.2013 (Anlage K 14) übermittelte. Mit Schreiben vom 19.11.2013 (Anlage K 16) verneinte die Beklagte das Vorliegen einer Verkehrssicherungspflichtverletzung, wies zugleich aber darauf hin, stets bereit zu sein, sachliche Argumente für eine möglichst streitfreie Einigung zu prüfen und stellte der Klägerin frei, Unterlagen vorzulegen oder Argumente vorzutragen, die eine sachliche Beurteilung ermöglichen. Mit weiterem Schreiben vom 02.01.2014 (Anlage K 19) bat Beklagte die Klägerin um Kennzeichnung der exakten Unfallstelle auf dem Lageplan des Recyclingshofes und Übersendung des Plans mit der Kennzeichnung zur weiteren Prüfung. Mit Schreiben vom 20.06.2014 (Anlage B4) bat die Beklagte die Klägerin um Nachbesserung, da auf der von ihr übersandten Karte des Recyclingshofes eine Kennzeichnung der Unfallstelle nicht zu erkennen sei.

Die Klägerin behauptet, sie sei auf einer großen Eisfläche ausgerutscht, die sie vorher nicht wahrgenommen habe. Diese sei nicht gestreut gewesen, vielmehr habe sich dort blankes Eis befunden.

Sie, die Klägerin, habe sich ihr rechtes Sprunggelenk gebrochen, das habe operativ behandelt werden müssen. Die Klägerin habe sich 8 Tage im Krankenhaus aufhalten müssen. Ergänzend wird auf den Arztbericht des Krankenhauses H. M.- H., vorgelegt als Anlage K2, verwiesen. Im Anschluss habe die Klägerin 6 Wochen lang eine Gipsschiene tragen müssen und habe ihren Fuß nicht belasten können. Eine Entfernung der Stellschrauben sei operativ am 30.04.2013 erfolgt, weiteres Material sei im Rahmen einer Operation am 14.04.2014 entfernt worden (Anlagen K3 und K4).

In der Zeit vom 23.03. bis 30.04.2013 habe die Klägerin ihre Wohnung im 1. Obergeschoss nicht selbständig verlassen können, bis zum 20.05.2013 habe sie Arzttermine ausschließlich mit dem Taxi wahrnehmen können. Erst ab September 2013 habe die Klägerin sich mehr oder weniger ohne Krücken fortbewegen können. Schmerzfreiheit sei erst im Sommer 2015 eingetreten, die Klägerin leide indes immer noch an erheblichen Beschwerden anlässlich von Witterungsveränderungen. Die Klägerin hält insoweit ein Schmerzensgeld von 7.500,00 € für angemessen.

Nach der Kündigung ihrer ehemaligen Wohnung zum 30.06.2013 habe sie, die Klägerin, ihren Umzug aufgrund ihrer unfallbedingten Einschränkungen nicht wie geplant selbst durchführen können, sondern habe eine Möbelspedition beauftragen müssen. Insoweit seien ihr Umzugskosten in Höhe von 1.733,23 € entstanden (Anlage K 5). Ferner seien ihr für Bohr-und Dübelarbeiten Kosten in Höhe von 290,06 € entstanden (Anlage K 11-2).

Am 21.06.2013 habe die Klägerin einen Maler beauftragen müssen, der die Bohrlöcher in den Wänden und der Decke ihrer ehemaligen Wohnung verspachtelt habe. Insoweit seien ihr Kosten in Höhe von 98,99 € entstanden (Anlage K 6). Darüber hinaus seien ihr Taxikosten sowie Zuzahlungen an die Krankenkasse und Kosten für Verbandsmaterial in Höhe von 113,00 €, 229,35 € und 17,80 € entstanden (Anlagenkonvolut K 7, Anlage K 8, 9).

Die Klägerin sei nicht in der Lage gewesen, die Pflege ihres Gartens selbst durchzuführen. Insoweit seien ihr Kosten in Höhe von 142,50 € entstanden (Anlage K 10).

Sie, die Klägerin, sei zu einem Vorstellungsgespräch am 18.04.2013 bei der T.- H. eingeladen worden, wo sie ab dem 01.05.2013 als Sachbearbeiterin im Referat Drittmittel hätte arbeiten können, dort hätte sie 1.842,00 € netto erhalten. Unfallbedingt sei es nicht zur Unterzeichnung des Arbeitsvertrages gekommen, so dass ihr in Höhe der Differenz zwischen dem Einkommen bei der T. H. und ihrer Arbeitslosenunterstützung ein monatlicher Schaden in Höhe von 625,00 € netto entstanden sei.

Für den Zeitraum vom 01.05. bis 31.08.2013 sei ihr insgesamt ein Schaden von 2.500,00 € entstanden.

Im August 2015 sei ihr, der Klägerin, nichts anderes übrig geblieben, als eine Stelle bei einer Zeitarbeitsfirma anzunehmen. In Höhe der Differenz zu dem bei der T.- H. möglichen Einkommen sei der Klägerin bis zum 31.12.2015 insgesamt ein Verdienstausfall Schaden in Höhe von 17.411,67 € entstanden.

Glatteisunfall - Anwendbarkeit der Regeln über Anscheinsbeweis
Symbolfoto: Von Zanna Lecko/Shutterstock.com

Zwischenzeitlich habe die Klägerin einen Rentenantrag stellen müssen, dessen eigentliche Ursache zunächst eine psychische Erkrankung gewesen sei, die sich aber unfallbedingt stark entwickelt und ausgebreitet habe.

Ihr, der Klägerin, sei darüber hinaus ein Haushaltsführungsschaden in Höhe von 15.357,12 € entstanden. Vom 15.03.2013 bis zum 27.05.2013 sei sie zu 100 %, bis zum 31.07.2013 zu 75 % und ab dem 01.08.2013 zu 50 % beeinträchtigt gewesen. Erst ab dem 01.07.2017 habe die Klägerin ihre Haushaltstätigkeit wieder zu 100 % ausüben können.

Noch heute leide die Klägerin sehr häufig unter erheblichen Beschwerden im rechten Sprunggelenk. Ihr drohe die Entwicklung einer Arthrose.

Die Klägerin hat am 28.7.2016 eingegangenen Schriftsatz Klage erhoben. Mit Schreiben vom 20.12.2016 hat die Urkundsbeamten der Geschäftsstelle den Klägervertreter darauf hingewiesen, dass der Gerichtskostenvorschuss nicht bezahlt worden sei. Am 30.01.2017 sind die von der Rechtsschutzversicherung der Klägerin geleisteten Gerichtskosten bei der Justizkasse H. eingegangen.

Die Klägerin beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500,00 € nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 15.03.2013 zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Schadensersatz in Höhe von 2.624,93 € nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Schadensersatz in Höhe von 15.357,12 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

4. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Schadensersatz in Höhe von 17.776,89 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

5. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtlichen Schaden zu ersetzen, der ihr aus dem streitgegenständlichen Unfall vom 15.03.2013 auf dem Recyclinghof, belegen A. A., H.- N., in Zukunft noch entstehen wird, sofern dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind.

Die Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, ihre Mitarbeiter seien angewiesen worden, zu Beginn des Dienstes und auch den Tag über immer wieder die Hoffläche zu streuen. Auch am Unfalltag sei mehrfach gestreut worden. Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin müsse sich angesichts des Umstandes, dass sie nach ihrer eigenen Schilderung die Eisfläche vor ihrem Sturz auf dem Weg zu einem Container bereits überschritten hatte und erst auf dem Rückweg gestürzt sei, ein erhebliches Mitverschulden anrechnen lassen.

Die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung.

Das Gericht hat die Klägerin persönlich nach § 141 ZPO angehört und hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Herrn A. B. als Zeugen. Auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 08.09.2017 und 12.10.2017 wird Bezug genommen. Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

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Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der Klägerin stehen die gegen die Beklagte geltend gemachten Ansprüche unter keinem erdenklichen rechtlichen Gesichtspunkt zu, insbesondere nicht aus §§ 823, 839, 253 BGB i.V.m. Art. 34 GG.

1. Es ist der Klägerin bereits nicht gelungen, eine Pflichtverletzung der Beklagten nachzuweisen. Verkehrssicherungspflichten beruhen auf dem Gedanken, dass jeder, der eine Gefahrenquelle schafft, die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz Dritter zu treffen hat. Dabei muss nicht für alle denkbaren, entfernten Möglichkeiten eine Schadenseintrittsvorsorge getroffen werden. Vielmehr sind nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die nach den Sicherungserwartungen des jeweiligen Verkehrskreises im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von Dritten tunlichst abzuwenden, die bei bestimmungsgemäßer oder bei nicht ganz fernliegender bestimmungswidriger Benutzung drohen (BGH NJW1978, 1629). Es muss nach sachkundigem Urteil die naheliegende Möglichkeit der Verletzung Rechtsgüter anderer bestehen (BGH VersR 1975, 812). Haftungsbegründend wird eine Gefahrenquelle, sobald sich aus der zu verantwortenden Situation vorausschauend für einen sachkundig Urteilenden die naheliegende Gefahr ergibt, dass Rechtsgüter Dritter verletzt werden können (BGH NJW 2004, 1449; Palandt BGB, 69. Aufl., § 823, 946). Es sind nur die Gefahren zu beseitigen, die für einen sorgfältigen Benutzer nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die man sich nicht rechtzeitig einstellen kann; jedem vor Augen stehende Gefahren, vor denen sich der Benutzer ohne Weiteres selbst schützen kann, lösen keine Verkehrssicherungspflichten aus (OLG Naumburg Urteil vom 19.10.2015, 1 U 34/15, VersR 2017, 113-115).

Nach allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung muss der Verletzte alle Umstände beweisen, aus denen eine Streupflicht erwächst und sich eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht ergibt. Er muss deshalb den Sachverhalt dartun und gegebenenfalls beweisen, aus dem sich ergibt, dass zur Zeit des Unfalls aufgrund der Wetter-, Straßen- oder Wegelage bereits oder noch eine Streupflicht bestand und diese schuldhaft verletzt worden ist (vgl. BGH, Urteile vom 29.09.1970 – VI ZR 51/69, VersR 1970, 1130, 1131 vom 27.11.1984 – VI ZR 49/83, VersR 1985, 243, 245 vom 12.06.2012 – VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727 f.; OLG Bamberg Urteil vom 09.07.2013 5 U 212/12, zit, nach juris). Die winterliche Räum- und Streupflicht beruht auf der Verantwortlichkeit durch Verkehrseröffnung und setzt eine konkrete Gefahrenlage, d. h. eine Gefährdung durch Glättebildung bzw. Schneebelag voraus. Grundvoraussetzung für die Räum- und Streupflicht auf Straßen oder Wegen ist das Vorliegen einer allgemeinen Glätte und nicht nur das Vorhandensein einzelner Glättestellen oder aber das Vorliegen von erkennbaren Anhaltspunkten für eine ernsthaft drohende Gefahr durch Glättebildung (BGH, Urteil vom 14.02. 2017 – VI ZR 254/16 –, juris; vgl. BGH, Urteil vom 12.06.2012 – VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727 f.: 20 – 30 cm große Eisfläche in der Mitte eines nicht gestreuten Zugangswegs; Beschlüsse vom 21.01.1982 – III ZR 80/81, VersR 1982, 299, 300 vom 26.02.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302 Rn. 4 mwN; OLG Jena NZV 2009, 599, 600 mwN). Ist eine Streupflicht gegeben, richten sich Inhalt und Umfang nach den Umständen des Einzelfalls (BGH, Urteile vom 29.09.1970 – VI ZR 51/69, aaO; vom 2.10.1984 – VI ZR 125/83, NJW 1985, 270 BGH, Urteil vom 5.07.1990 – III ZR 217/89, BGHZ 112, 74, 75 Beschluss vom 20.10.1994 – III ZR 60/94, VersR 1995, 721, 722). Bei öffentlichen Straßen und Gehwegen sind dabei Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs.

Die Räum- und Streupflicht besteht dabei nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGH, Urteil vom 05.07.1990 – III ZR 217/89, aaO, 75 f. mwN; vom 15.01.1998 – III ZR 124/97, VersR 1998, 1373, 1374 f.; Beschluss vom 20.10.1994 – III ZR 60/94, aaO). Bei Auftreten von Glätte im Laufe des Tages ist dem Streupflichtigen ein angemessener Zeitraum zuzubilligen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte zu treffen (vgl. BGH, Urteil vom 27.11.1984 – VI ZR 49/83, aaO; BGH, Beschlüsse vom 20.12.1984 – III ZR 54/84, VersR 1985, 189 vom 27.04.1987 – III ZR 123/86, VersR 1987, 989).

Wenn ein Schadensersatzanspruch – wie hier – auf § 823 BGB gestützt wird, hat regelmäßig derjenige, der durch eine Pflichtwidrigkeit verletzt zu sein behauptet, auch zu beweisen, dass zwischen dem Verstoß und dem bei ihm eingetretenen Schadensereignis ein ursächlicher Zusammenhang besteht; nicht etwa hat der Zuwiderhandelnde den Beweis dafür zu erbringen, dass es an einem solchen Zusammenhang fehlt (vgl. BGH, Urteile vom 04.10.1983 – VI ZR 98/82, NJW 1984, 432 ff.; vom 28.05.1957 – VI ZR 272/56, VersR 1957, 529, 530 f; vom 27.01.1959 – VI ZR 30/58, LM § 823 (J) BGB Nr. 11; vom 26.11.1963 – VI ZR 245/62, VersR 1964, 166, 167 und vom 24.09.1968 – VI ZR 160/67, VersR 1968, 1144).

Dem Geschädigten kann daher bei einem Verstoß gegen die Streupflicht nicht die Beweislast für die Ursächlichkeit des Nichtstreuens für seinen Unfall abgenommen, sondern es kann ihm lediglich unter bestimmten Voraussetzungen eine Beweiserleichterung in Form des Anscheinsbeweises zugebilligt werden. Die Annahme, dass ein für den Anscheinsbeweis typischer Geschehensablauf vorliegt, erfordert zunächst die Feststellung eines allgemeinen Erfahrungssatzes als einer aus allgemeinen Umständen gezogenen tatsächlichen Schlussfolgerung, die dann auf den konkreten Sachverhalt angewendet werden kann (BGHZ 7, 198, 200 f.). Das Schadensereignis muss also nach allgemeiner Lebenserfahrung eine typische Folge des (festgestellten) Haftungsgrundes darstellen (vgl. auch BGH, Urteile vom 09.05.1961 – VI ZR 197/60, VersR 1961, 828, 829 vom 05.05.1964 – VI ZR 72/63, LM § 823 (Ef) BGB Nr. 11 b; vom 27.05.1975 – VI ZR 42/74, VRS 49, 243, 247 und vom 25.01.1983 – VI ZR 92/81, VersR 1983, 440).

Bei Glatteisunfällen sind die Regeln über den Anscheinsbeweis anwendbar, wenn der Verletzte innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht zu Fall gekommen ist (vgl. BGH, Urteil vom 22.11.1965 – III ZR 32/65, VersR 1966, 90, 91 f; OLG Karlsruhe HRR 1939, 1023; OLG Frankfurt VersR 1980, 50, 51). In einem solchen Fall spricht (ähnlich wie bei einem Verstoß gegen konkret gefasste Unfallverhütungsvorschriften) nach dem ersten Anschein eine Vermutung dafür, dass es bei Beachtung der Vorschriften über die Streupflicht nicht zu den Verletzungen gekommen wäre, dass sich also in dem Unfall gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, deren Eintritt die Schutzvorschriften verhindern wollten. Diese Beweiserleichterung kann aber erst und nur dann Platz greifen, wenn zuvor festgestellt ist, dass die Streupflicht verletzt worden ist bzw. das Unfallereignis in einem Zeitraum stattgefunden hat, während dessen die Unfallstelle gestreut gewesen sein musste (BGH, Beschlüsse vom 26.02.2009 – III ZR 225/08, NJW 2009, 3302 f. vom 19.12.1991 – III ZR 2/91, BGHR BGB § 839 Abs. 1 S. 1 Streupflicht 7; vom 07.06.2005 – VI ZR 219/04, NJW-RR 2005, 1185).

Vorliegend ist das Gericht nach den Angaben der Klägerin und des Zeugen B. überzeugt, dass sich in dem Bereich des Recyclingshofs, der auf den als Anlage B5 und B6 vorgelegten Fotos erkennbar ist, neben der Anhäufung von Schnee in der Nähe des Fallrohres Glatteis gebildet hatte. Die Klägerin hat angegeben, in diesem Bereich, genau genommen auf dem zum Parken dienenden Fahrstreifen in Richtung des Fußwegs, gestürzt zu sein.

Es kann offenbleiben, ob angesichts des Umstands, dass der Beklagten nach den glaubhaften Schilderungen des Zeugen B. die Gefahrenquelle, resultierend aus einem Baumangel, bekannt gewesen ist, eine Streupflicht auch ohne das Vorliegen einer allgemeinen Glätte anzunehmen ist. Denn die Beklagte ist ihrer Streupflicht hinreichend nachgekommen. Wie ausgeführt, besteht die Räum- und Streupflicht nicht uneingeschränkt, sie muss vielmehr im Einzelfall zumutbar sein, wobei die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen zu berücksichtigen ist. Das Streuen muss in angemessener Zeit wiederholt werden, wenn das Streugut seine Wirkung verloren hat, wobei der zeitliche Abstand von den Umständen des Einzelfalles abhängt. In der Regel wird ein mehrfaches Streuen nur im Abstand von einigen Stunden gefordert, so wird es als zumutbar angesehen, einen verkehrswichtigen Weg tagsüber nach drei Stunden erneut zu streuen (Staudinger/Johannes Hager (2009) BGB § 823 E 127). Diesen Anforderungen ist die Beklagte gerecht geworden. Zwar hat die Klägerin bekundet, kein Streugut auf dem Boden gesehen zu haben, gleichzeitig hat sie aber eingeräumt, darauf nicht geachtet zu haben. Demgegenüber hat der Zeuge B. angegeben, den auf 1. Foto der Anlage B 6 abgebildeten Bereich fast jede Stunde gestreut zu haben, indem er mit der Schaufel Salz aus einem Eimer mit einem Radius von etwa zwei Metern verteilt habe. Er habe auch auf dem Gehweg gestreut und habe dabei auch den Fahrstreifen erfasst.

Bei der Würdigung von Zeugenaussagen und Parteianhörungen hat das erkennende Gericht von der Annahme auszugehen, nach der ein Zeuge bzw. eine Partei mit der Aussage weder der Grundannahme der Glaubhaftigkeit noch der Unglaubhaftigkeit unterliegt (st. Rspr. vgl. nur BGH, Urteil vom 30.07.1999, Az.: 1 StR 618/98, NJW 1999, 2746). Von dieser Prämisse ausgehend ist das Gericht nicht gehalten, einer Partei oder einem Zeugen nachzuweisen, dass er die Unwahrheit sagt. Die Partei bzw. der Zeuge muss im Gegenteil hinreichend viele Anhaltspunkte liefern, auf Grund derer sich das Gericht eine Überzeugung bilden kann, dass der Zeuge zumindest von einem subjektiv wahren Erlebnis berichtet.

Das Gericht hat nach der Vernehmung des Zeugen B. überzeugt, dass dieser in sehr kurzen Intervallen von nur etwa einer Stunde die Unfallstelle gestreut hat. Der Zeuge hat zudem anschaulich geschildert, bei einem Streuvorgang mit einer Schaufel einen Radius von etwa zwei Metern erfasst zu haben. Angesichts der von der Klägerin geschilderten Stelle ihres Sturzes auf dem zum Parken dienenden Fahrstreifen in Richtung des Fußwegs ist das Gericht überzeugt, dass der Zeuge bei dieser Technik auch diesen Bereich mit gestreut hat.

Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 25.10.2017 vorträgt, der Zeuge habe angegeben die Unfallstelle nur dann stündlich gestreut zu haben, wenn der Betrieb dies zugelassen habe, so hat diese Äußerung keinen Eingang in das Protokoll gefunden. Das Gericht hat vielmehr den Zeugen dahin verstanden, dass er durch seine Angabe „fast jede Stunde dort gestreut“ zu haben, bereits die Möglichkeit von Toleranzen berücksichtigt hat, er indes damit nicht zum Ausdruck bringen wollte, dass aufgrund anderweitiger betrieblicher Verpflichtungen das Intervall zwischen den Streuvorgängen deutlich vergrößert worden wäre. Eine geringfügige Verlängerung des Intervalls wäre zudem nach der bereits zitierten Rechtsprechung unschädlich.

Die Angaben des Zeugen sind glaubhaft, er hat plausible und konstante Angaben gemacht und hat von sich aus den auf dem Recyclinghof vorhandenen Baumangel, der letztlich zu der Eisbildung geführt hat, angesprochen. Damit hat der Zeuge gerade keine Entlastungstendenz gegenüber seiner Arbeitgeberin gezeigt, er hat vielmehr abgewogen und widerspruchsfrei ausgesagt und Erinnerungslücken offen eingeräumt. Er hat zudem einen glaubwürdigen Eindruck auf das Gericht gemacht, er hat ohne Belastungstendenz ausgesagt und war um eine wahrheitsgemäße Aussage bemüht.

2. Im Ergebnis kann offen bleiben, ob der Beklagten eine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorzuwerfen ist. Ihr Vorliegen könnte der Klage nicht zum Erfolg verhelfen, denn der Klägerin wäre gemäß § 254 BGB ein so überwiegendes Mitverschulden an ihrem Sturz anzulasten, dass eine Haftung der Beklagten ausscheiden würde.

Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat (vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2015 – VI ZR 206/14 –, m.w.N, juris). § 254 BGB ist eine Ausprägung des in § 242 BGB festgelegten Grundsatzes von Treu und Glauben (BGH, Urteile vom 14. März 1961 – VI ZR 189/59, BGHZ 34, 355, 363 f. und vom 22. September 1981 – VI ZR 144/79, VersR 1981, 1178, 1179 mwN, juris). Die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der Minderung des Anspruchs des Geschädigten beruht auf der Überlegung, dass jemand, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, auch die Kürzung oder im Ausnahmefall den Verlust seiner Ansprüche hinnehmen muss (BGH a.a.O.), weil es im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem unbillig erscheint, dass jemand für den von ihm erlittenen Schaden trotz eigener Mitverantwortung vollen Ersatz fordert.

Es darf im Rahmen des § 254 BGB nur schuldhaftes Verhalten verwertet werden, von dem feststeht, dass es zu dem Schaden oder zu dem Schadensumfang beigetragen hat, der Geschädigte die ihm drohende Gefahr mithin rechtzeitig erkennen konnte (BGH a.a.O.). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist außerdem in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Hinter dem überwiegenden Mitverschulden der Klägerin tritt im Rahmen einer Gesamtabwägung der Verursachungsbeitrag der Beklagten zurück. Die Klägerin hätte die drohende Gefahr rechtzeitig erkennen können, denn die Unfallstelle und die mit ihr verbundene Gefahr war, wie auf den Fotos der Anlage B 6 ersichtlich, angesichts der Größe der Eisfläche und des auf die Fahrbahn gelaufenen Wassers sowie der links neben dem Fußweg aufgetürmten Schneereste deutlich sichtbar. Die Fotos geben nach dem Bekunden der Klägerin auch den Zustand des Recyclingshofs am Tag des Sturzes wieder. Auch die rechts neben der Fahrbahn erkennbaren Schneereste, auf dem dritten Foto Anlage B 6 deutlich erkennbar, hätten der Klägerin Anlass sein müssen, der Beschaffenheit des Bodens Aufmerksamkeit zu widmen, was sie nach ihren Angaben in ihrer Anhörung überhaupt nicht getan hat. Sie hat vielmehr nach ihrem eigenen Bekunden den Weg zu dem Container für den “gelben-Sack-Müll“ mit einem gelben Sack in der einen und mehreren Papiertüten mit Papiermüll in der anderen Hand angetreten und war dabei nach ihrem eigenen Bekunden „ziemlich beladen“. Die Klägerin hat eingeräumt, auf ihre Umgebung überhaupt nicht geachtet zu haben und in „ihrem Film“ gewesen zu sein.

Im Rahmen der Beurteilung des Mitverschuldens hat zudem Berücksichtigung zu finden, dass die Klägerin die Gefahrenstelle bereits einmal überquert hatte, bevor es zum Sturz gekommen ist. Spätestens dann war es für die Klägerin deutlich erkennbar, dass sie sich einer Gefährdung aussetzt.

Im Rahmen des Mitverschuldens ist ferner zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Gefahrenstelle unschwer hätte umgehen können. Anstatt über den vereisten Gehweg bzw. den von ihr genutzten Fahr- bzw. Parkstreifen zu gehen, hätte die Klägerin über die auf dem 2. Bild der Anlage B 6 erkennbaren Gitterroste gehen können, die nach den Angaben des Zeugen B. auch gerade zum Betreten gedacht sind, um von dort aus die Container zu befüllen.

Soweit die Klägerin auf Nachfrage angegeben hat, Gitterroste grundsätzlich nicht zu betreten, bleibt dies ohne Belang, denn die Klägerin hat bekundet, durchaus zu wissen, dass sie diese betreten dürfe.

3. Der Feststellungsantrag ist aus den gleichen Erwägungen ebenfalls unbegründet.

4. Da eine Haftung der Beklagten bereits dem Grunde nach ausscheidet, war eine weitere Beweisaufnahme über die von der Klägerin behaupteten Unfallfolgen nicht erforderlich.

5. Die Nebenforderungen entfallen mit der Hauptforderung.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.

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