Ein Traktorfahrer missachtete die Verletzung der doppelten Rückschaupflicht des Abbiegenden und kollidierte beim Linksabbiegen in einen Feldweg mit einem überholenden Pkw. Obwohl die Hauptschuld feststand, wurden dem Pkw-Fahrer die Mietwagenkosten gekürzt, weil er sich die Verzögerungen seiner Werkstatt anrechnen lassen musste.
Übersicht:
- Das Wichtigste in Kürze
- Wer haftet, wenn ein Traktor unvermittelt in einen Feldweg abbiegt?
- Was genau war passiert?
- Welche Verkehrsregeln entscheiden hier über die Haftung?
- Warum trug der Traktorfahrer die Hauptschuld – und nicht der Pkw-Fahrer?
- Die entscheidende Pflichtverletzung: Warum die „doppelte Rückschau“ alles veränderte
- Das Blinker-Argument: Warum die Beklagten mit ihrer Behauptung scheiterten
- „Unklare Verkehrslage“? Warum langsames Fahren allein kein Überholverbot begründet
- Die Abwägung der Betriebsgefahr: Weshalb ein Traktor ein höheres Risiko darstellt
- Der Streit um die Mietwagenkosten: Wer zahlt für die Verzögerung der Werkstatt?
- Was bedeutet dieses Urteil für Sie als Verkehrsteilnehmer?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wer haftet, wenn ich beim Überholen mit einem links abbiegenden Traktor kollidiere?
- Wann verletze ich als Linksabbieger die juristische ‚doppelte Rückschaupflicht‘?
- Wie vermeide ich, dass meine Mietwagenkosten wegen Verzögerungen Dritter gekürzt werden?
- Muss ich mithaften, wenn der Abbieger nicht beweisen kann, dass er geblinkt hat?
- Ist ein Überholverbot bei einem langsam fahrenden Traktor automatisch gegeben?
- Glossar
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 7 U 83/22 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Hamm
- Datum: 19.04.2024
- Aktenzeichen: 7 U 83/22
- Verfahren: Berufungsverfahren
- Rechtsbereiche: Straßenverkehrsrecht, Haftungsrecht
- Das Problem: Ein Traktor kollidierte beim Linksabbiegen auf einen kaum erkennbaren Feldweg mit einem überholenden Pkw. Es bestand Streit darüber, wer den Unfall hauptsächlich verschuldete und in welcher Höhe der Schaden ersetzt werden musste.
- Die Rechtsfrage: Muss der Fahrer eines landwirtschaftlichen Fahrzeugs für den Schaden aufkommen, wenn er beim Abbiegen mit einem überholenden Pkw zusammenstößt?
- Die Antwort: Ja. Das Gericht sah das überwiegende Verschulden beim Traktorfahrer, weil er die Doppelte Rückschaupflicht verletzte. Die höhere Betriebsgefahr des schweren Traktors verstärkte diese Haftung.
- Die Bedeutung: Wer nach einem Unfall einen Dienstleister wie einen Abschleppdienst zur Begutachtung beauftragt, muss sich dessen Verzögerungen anrechnen lassen. Dies kann zur Kürzung von Mietwagenkosten führen, auch wenn der Unfallgegner überwiegend haftet.
Wer haftet, wenn ein Traktor unvermittelt in einen Feldweg abbiegt?

Ein Traktor, der fast die gesamte Fahrbahn einnimmt, biegt nach links in einen kaum sichtbaren Feldweg ab – genau in dem Moment, als ein Pkw zum Überholen ansetzt. Es kommt zum Zusammenstoß. Wer trägt die Verantwortung für den entstandenen Schaden? Und wer muss für Verzögerungen bei der Schadensabwicklung aufkommen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das Oberlandesgericht Hamm in einem Urteil vom 19. April 2024 (Az.: 7 U 83/22) und lieferte eine detaillierte Analyse der Pflichten von Abbiegern und Überholenden, die für jeden Verkehrsteilnehmer von Bedeutung ist.
Was genau war passiert?
Der Geschäftsführer einer Firma war mit seinem Pkw auf einer schmalen Straße unterwegs. Vor ihm fuhr ein Traktor mit einem großen angehängten Arbeitsgerät, der aufgrund seiner Breite beinahe die gesamte Fahrbahn beanspruchte. Kurz hinter einer Brücke bog der Traktorfahrer plötzlich nach links in einen Feldweg ein. Dieser Weg war für den nachfolgenden Verkehr so gut wie unsichtbar. Der Geschäftsführer, der gerade zum Überholen des langsamen Gespanns angesetzt hatte, konnte die Kollision nicht mehr verhindern.
Am Pkw entstand ein erheblicher Schaden. Die Firma, der das Fahrzeug gehörte, machte daraufhin Schadensersatz in Höhe von über 16.000 Euro geltend. Diese Summe umfasste den Wiederbeschaffungswert des Autos, Gutachterkosten, Mietwagenkosten und weitere kleinere Posten. Der Traktorfahrer sowie der Halter des Traktors und dessen Versicherung weigerten sich jedoch, die volle Summe zu zahlen. Sie argumentierten, der Fahrer des Pkw trage eine erhebliche Mitschuld.
Das Landgericht Münster gab der Klage in erster Instanz nur teilweise statt. Unzufrieden mit diesem Ergebnis legten der Traktorfahrer und seine Versicherung Berufung beim Oberlandesgericht Hamm ein.
Welche Verkehrsregeln entscheiden hier über die Haftung?
Um zu verstehen, wie das Gericht zu seiner Entscheidung kam, müssen Sie die zentralen Spielregeln kennen, die bei einem solchen Unfall eine Rolle spielen. Es geht um ein komplexes Zusammenspiel aus den Pflichten des Abbiegenden, den Regeln für das Überholen und den allgemeinen Haftungsprinzipien.
Die entscheidende Vorschrift für den Traktorfahrer findet sich in § 9 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Dieser Paragraph regelt das Abbiegen und schreibt eine besondere Sorgfaltspflicht vor. Wer abbiegen will, muss den nachfolgenden Verkehr durch Blinken rechtzeitig und deutlich ankündigen. Noch wichtiger ist die sogenannte doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO: Vor dem Einordnen und nochmals unmittelbar vor dem Abbiegen muss sich der Fahrer vergewissern, dass niemand gefährdet wird. Beim Abbiegen in ein Grundstück oder einen Feldweg gelten nach § 9 Abs. 5 StVO sogar noch strengere Anforderungen.
Für den überholenden Pkw-Fahrer ist § 5 StVO relevant. Dieser Paragraph erlaubt das Überholen nur dann, wenn die Verkehrslage eindeutig ist. Liegt eine „Unklare Verkehrslage„ vor, etwa weil unklar ist, was das vorausfahrende Fahrzeug als Nächstes tun wird, besteht ein absolutes Überholverbot (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO).
Kommt es dennoch zu einem Unfall, greift das Straßenverkehrsgesetz (StVG). Nach § 17 StVG wird bei einem Unfall, an dem mehrere Fahrzeuge beteiligt sind, die Haftung nach dem jeweiligen Verursachungsbeitrag aufgeteilt. Das Gericht wägt also ab, wer den Unfall in welchem Maße verschuldet hat. Dabei spielt auch die sogenannte Betriebsgefahr eine Rolle – das ist das generelle Risiko, das von einem Fahrzeug allein durch seine Anwesenheit im Verkehr ausgeht. Die Betriebsgefahr eines schweren Traktors ist dabei naturgemäß höher als die eines Pkw.
Warum trug der Traktorfahrer die Hauptschuld – und nicht der Pkw-Fahrer?
Das Oberlandesgericht Hamm analysierte den Fall akribisch und kam zu dem Ergebnis, dass der Traktorfahrer den Unfall ganz überwiegend verschuldet hat. Die Richter stützten ihre Entscheidung auf mehrere Kernargumente und wiesen die Einwände der Beklagten Punkt für Punkt zurück.
Die entscheidende Pflichtverletzung: Warum die „doppelte Rückschau“ alles veränderte
Das Herzstück der Urteilsbegründung war der massive Verstoß des Traktorfahrers gegen die doppelte Rückschaupflicht aus § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO. Er hätte sich unmittelbar vor dem Abbiegevorgang ein zweites Mal vergewissern müssen, dass die Fahrbahn hinter ihm frei ist. Hätte er dies getan, hätte er den überholenden Pkw sehen und den Abbiegevorgang abbrechen müssen.
Erschwerend kam hinzu, dass das Abbiegeziel – ein schlecht erkennbarer Feldweg – eine nochmals erhöhte Sorgfaltspflicht nach sich zog. Das Gericht argumentierte, dass in einer solchen Situation die Schutzpflichten aus § 9 Abs. 5 StVO entsprechend anzuwenden sind. Wer in eine solche unübersichtliche Stelle abbiegt, muss jede Gefährdung anderer ausschließen. Diesem Anspruch wurde der Traktorfahrer in keiner Weise gerecht.
Das Blinker-Argument: Warum die Beklagten mit ihrer Behauptung scheiterten
Die Verteidigung des Traktorfahrers stützte sich maßgeblich auf die Behauptung, er habe rechtzeitig den Blinker gesetzt. Ein blinkendes Fahrzeug würde eine unklare Verkehrslage schaffen und damit ein Überholverbot für den Pkw-Fahrer begründen.
Dieses Argument scheiterte jedoch an einer prozessualen Hürde. Bereits das Landgericht Münster hatte in der ersten Instanz festgestellt, dass nicht bewiesen werden konnte, dass der Traktorfahrer tatsächlich geblinkt hat. Im Berufungsverfahren griffen die Beklagten diese Tatsachenfeststellung nicht konkret genug an. Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) war das Oberlandesgericht daher an die Feststellung der Vorinstanz gebunden. Ohne den Beweis für ein rechtzeitiges Blinken fiel das Hauptargument der Beklagten in sich zusammen.
„Unklare Verkehrslage“? Warum langsames Fahren allein kein Überholverbot begründet
Die Beklagten versuchten weiter zu argumentieren, dass allein die deutliche Geschwindigkeitsreduzierung des Traktors eine unklare Verkehrslage geschaffen hätte. Auch diesem Einwand erteilte der Senat eine klare Absage. Unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung stellte er klar, dass langsames Fahren für den nachfolgenden Verkehr viele Gründe haben kann. Es kann sogar als eine Aufforderung zum Überholen verstanden werden. Ohne weitere Anzeichen wie ein eindeutiges Blinken oder ein klares Einordnen zur Mitte reicht eine bloße Verlangsamung nicht aus, um ein Überholverbot nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO zu begründen.
Die Abwägung der Betriebsgefahr: Weshalb ein Traktor ein höheres Risiko darstellt
Bei der abschließenden Haftungsabwägung nach § 17 StVG wog das Verschulden des Traktorfahrers extrem schwer. Demgegenüber trat das Verhalten des Pkw-Fahrers, dem kein konkreter Fehler nachzuweisen war, vollständig in den Hintergrund.
Zusätzlich berücksichtigte das Gericht die erhöhte Betriebsgefahr des Traktorgespanns. Aufgrund seiner schieren Masse, seiner Schwerfälligkeit und der Breite, die fast die gesamte Fahrbahn einnahm, ging von ihm ein deutlich höheres Risiko aus als von dem Pkw. Dieser Faktor verstärkte die Haftung der Beklagten zusätzlich, sodass das Gericht ihnen die Hauptverantwortung für den Unfall zuwies.
Der Streit um die Mietwagenkosten: Wer zahlt für die Verzögerung der Werkstatt?
Ein zentraler Streitpunkt abseits der reinen Unfallschuld waren die Mietwagenkosten. Die klagende Firma hatte das verunfallte Fahrzeug von einer Firma abschleppen und die Begutachtung organisieren lassen. Zwischen Unfall und der tatsächlichen Beauftragung des Gutachters vergingen jedoch mehrere Tage. Die Beklagten wollten für diese Verzögerung nicht aufkommen und nur 14 Tage Mietwagennutzung erstatten.
Das Gericht gab den Beklagten hier teilweise recht. Es erklärte, dass die Firma, die mit dem Abschleppen und der Organisation des Gutachtens beauftragt war, als Erfüllungsgehilfe der geschädigten Firma anzusehen sei. Ein Erfüllungsgehilfe ist jemand, dessen sich eine Person bedient, um eine eigene Verbindlichkeit zu erfüllen – hier die Pflicht zur Schadensminderung. Nach § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) muss sich der Geschädigte das Verschulden seines Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen.
Die Verzögerung bei der Beauftragung des Gutachters durch die Werkstatt wurde daher der klagenden Firma zugerechnet und minderte ihren Anspruch auf Erstattung der Mietwagenkosten entsprechend (§ 254 Abs. 2 BGB). Die Richter stellten klar: Die Organisation eines Gutachtens ist keine typische Reparaturleistung, sondern eine Aufgabe, die der Geschädigte auch selbst hätte übernehmen können. Lagert er diese Aufgabe aus und kommt es dabei zu Verzögerungen, muss er die finanziellen Konsequenzen tragen.
Was bedeutet dieses Urteil für Sie als Verkehrsteilnehmer?
Das Urteil des OLG Hamm ist eine wichtige Erinnerung an die fundamentalen Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr. Die Lehren aus diesem Fall lassen sich in konkrete Handlungsempfehlungen für verschiedene Situationen übersetzen.
Checkliste für Linksabbieger (insbesondere mit großen Fahrzeugen)
- Beachten Sie die doppelte Rückschaupflicht: Schauen Sie ein erstes Mal in den Spiegel und über die Schulter, bevor Sie den Blinker setzen und sich einordnen. Wiederholen Sie diesen Kontrollblick ein zweites Mal unmittelbar, bevor Sie das Lenkrad einschlagen.
- Seien Sie bei unklaren Zielen extrem vorsichtig: Das Abbiegen in unscheinbare Feldwege, Hofeinfahrten oder Parklücken erfordert höchste Konzentration. Sie müssen jede Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausschließen.
- Setzen Sie klare und frühzeitige Signale: Ihr Blinker ist die wichtigste Kommunikation mit anderen Fahrern. Nutzen Sie ihn rechtzeitig, um Ihre Absicht unmissverständlich anzukündigen.
- Im Zweifel gilt: Warten. Wenn Sie unsicher sind, ob der Fahrer hinter Ihnen Ihre Absicht verstanden hat oder ob die Lücke ausreicht, lassen Sie ihn lieber passieren. Ihre Sicherheit und die der anderen hat Vorrang.
Checkliste für Überholende
- Fragen Sie sich: Ist die Verkehrslage wirklich zu 100 % klar? Ein langsames Fahrzeug vor Ihnen ist kein Freifahrtschein zum Überholen. Es könnte jederzeit abbremsen oder abbiegen.
- Achten Sie auf kleinste Anzeichen: Eine leichte Verlangsamung, eine minimale Kursänderung zur Mitte hin oder ein gerade erst aktivierter Blinker sind Warnsignale.
- Ein Überholverbot bei unklarer Lage ist absolut: Wenn Sie auch nur den geringsten Zweifel haben, was das Fahrzeug vor Ihnen tun wird, brechen Sie den Überholvorgang ab. Ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO kann zu einer erheblichen Mithaftung führen.
Praxistipp zur Schadensabwicklung nach einem Unfall
- Handeln Sie proaktiv und unverzüglich: Um Ihre Ansprüche (z. B. auf Mietwagenkosten) nicht zu gefährden, beauftragen Sie einen Sachverständigen so schnell wie möglich selbst.
- Dokumentieren Sie Ihre Schritte: Notieren Sie genau, wann Sie wen (Werkstatt, Gutachter, Anwalt) kontaktiert und beauftragt haben.
- Verstehen Sie das Erfüllungsgehilfen-Risiko: Wenn Sie eine Werkstatt mit der kompletten Schadensabwicklung betrauen, können deren Verzögerungen Ihre Erstattungsansprüche mindern. Klären Sie die Zuständigkeiten und Fristen, um finanzielle Nachteile zu vermeiden.
Die Urteilslogik
Wer in ein unscheinbares Grundstück abbiegt, muss jegliche Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausschließen und trägt bei einer Kollision die Hauptschuld.
- Doppelte Rückschau ist zwingend: Ein Abbiegender muss unmittelbar vor dem Lenkeinschlag erneut prüfen, ob sich ein überholendes Fahrzeug nähert; ein Verstoß gegen diese zweite Kontrollpflicht führt zur überwiegenden Haftung, besonders wenn das Abbiegeziel schlecht erkennbar ist.
- Fremdverschulden wird dem Geschädigten zugerechnet: Beauftragt der Geschädigte einen Dritten (Erfüllungsgehilfen) mit der Organisation der Schadensabwicklung – etwa der Gutachterbeauftragung – muss er sich dessen Verzögerungen als eigenes Verschulden anrechnen lassen, was den Anspruch auf Erstattung von Mietwagenkosten mindert.
- Betriebsgefahr schwerer Fahrzeuge wiegt höher: Die schiere Masse und Schwerfälligkeit eines großen Traktors oder Gespanns stellt eine erhöhte Betriebsgefahr dar, die bei der abschließenden Abwägung der Verursachungsbeiträge die Haftung des Halters verstärkt.
Verkehrsteilnehmer müssen jederzeit die Sorgfaltspflicht des Abbiegenden über die bloße Ankündigung hinaus erfüllen, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten.
Benötigen Sie Hilfe?
Muss Ihnen die Verzögerung Dritter bei der Schadensregulierung angerechnet werden? Lassen Sie uns Ihre Situation prüfen und erhalten Sie eine unverbindliche Einschätzung.
Experten Kommentar
Viele Betroffene denken, wenn die Schuldfrage nach einem Unfall klar ist, läuft die Schadensabwicklung von allein. Dieses Urteil liefert hier aber eine knallharte Lektion für die Zeit nach dem Crash: Wer seine Werkstatt mit der kompletten Organisation des Gutachtens beauftragt, macht diese zum Erfüllungsgehilfen. Verpennt dieser Gehilfe dann die notwendige Zügigkeit, muss der Geschädigte die daraus resultierenden Mehrkosten, etwa überhöhte Mietwagenrechnungen, selbst tragen. Es reicht eben nicht, Recht zu haben – man muss den Schaden auch konsequent und unverzüglich abwickeln, sonst droht die Kürzung.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wer haftet, wenn ich beim Überholen mit einem links abbiegenden Traktor kollidiere?
Die Hauptverantwortung für eine solche Kollision trägt in der Regel der links abbiegende Traktorfahrer. Der Grund liegt in der Missachtung zentraler Sorgfaltspflichten, welche der Straßenverkehrsordnung entstammen. Juristisch wiegt der Verstoß gegen die sogenannte doppelte Rückschaupflicht so schwer, dass er die Haftung des überholenden Pkw-Fahrers oft in den Hintergrund drängt. Dies gilt selbst dann, wenn Sie frustriert waren und das langsame landwirtschaftliche Gespann passieren wollten.
Der Traktorfahrer muss nach § 9 StVO durch einen doppelten Kontrollblick sicherstellen, dass er den nachfolgenden Verkehr nicht gefährdet. Er muss sowohl vor dem Einordnen als auch unmittelbar vor dem eigentlichen Lenkradeinschlag nach hinten blicken. Unterlässt der Traktorfahrer diesen entscheidenden zweiten Kontrollblick, hat er den schwerwiegendsten Fehler begangen. Seine Pflichten sind beim Abbiegen in unübersichtliche Feldwege sogar nochmals verschärft, da er jede Gefährdung Dritter ausschließen muss.
Zusätzlich zur Pflichtverletzung verstärkt die erhöhte Betriebsgefahr des schweren Traktors die Haftung des Landwirts. Die gegnerische Versicherung versucht in solchen Fällen häufig, Ihnen eine erhebliche Mitschuld wegen einer angeblich unklaren Verkehrslage zuzuschieben. Dieses Argument scheitert jedoch meist, da bloß langsames Fahren allein kein Überholverbot begründet. Der Traktorfahrer muss das Abbiegen eindeutig durch rechtzeitiges Blinken angekündigt haben; nur dann entsteht ein Überholverbot für Sie.
Kontaktieren Sie sofort einen Anwalt und legen Sie dar, dass Sie keine unmissverständlichen Anzeichen für den Abbiegevorgang wahrgenommen haben.
Wann verletze ich als Linksabbieger die juristische ‚doppelte Rückschaupflicht‘?
Die juristische doppelte Rückschaupflicht verletzen Sie, wenn Sie den zweiten, entscheidenden Kontrollblick unmittelbar vor dem tatsächlichen Abbiegevorgang vergessen. Das Gesetz verlangt (§ 9 Abs. 1 S. 4 StVO) zwei separate Kontrollen, um den nachfolgenden Verkehr optimal zu schützen. Ein einmaliger Blick in den Spiegel, bevor Sie den Blinker setzen, reicht dabei nicht aus.
Die Pflicht teilt den Abbiegevorgang in zwei kritische Phasen. Zuerst müssen Sie vor dem Blinken und Einordnen prüfen, ob die Fahrbahn frei ist. Der zweite Blick dient der Bestätigung genau in dem Augenblick, bevor Sie das Lenkrad einschlagen. Dieser zweite Check stellt sicher, dass kein nachfolgender Fahrer gerade zum Überholen angesetzt hat. Dies ist relevant, da Überholende oft erst kurz nach Ihrem Blinken ihren Überholvorgang beginnen.
Besondere Sorgfalt ist geboten, wenn Sie mit einem großen Fahrzeug oder einem Gespann unterwegs sind. Durch große tote Winkel und die Breite des Fahrzeugs benötigen Sie eine zweite Kontrolle, um jedes Risiko auszuschließen. Beim Abbiegen in unübersichtliche Ziele wie einen Feldweg oder eine Hofeinfahrt steigt die Verantwortung weiter an (§ 9 Abs. 5 StVO). Hier müssen Linksabbieger jede mögliche Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs zuverlässig ausschließen.
Implementieren Sie deshalb die ‚Stopp-Blick-Blink-Blick‘-Regel: Halten Sie kurz an, vergewissern sich durch den zweiten Kontrollblick und fahren Sie erst dann ein, wenn die Fahrbahn absolut frei ist.
Wie vermeide ich, dass meine Mietwagenkosten wegen Verzögerungen Dritter gekürzt werden?
Um Kürzungen der Mietwagenkosten zu verhindern, müssen Sie die Beauftragung des Sachverständigen unverzüglich selbst organisieren. Überlassen Sie diese Aufgabe Dritten, etwa Ihrer Werkstatt, riskieren Sie eine Anrechnung von Verzögerungen. Nach Ansicht der Gerichte handeln Werkstätten in diesem Fall als Ihr Erfüllungsgehilfe. Dadurch werden deren Fehler Ihnen angelastet, da die Verantwortung für die schnelle Schadensfeststellung bei Ihnen liegt.
Das Bürgerliche Gesetzbuch sieht vor, dass Sie sich das Verschulden Ihres Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen müssen (§ 278 BGB). Beauftragt die Werkstatt den Gutachter nicht sofort, gilt dies als Verstoß gegen Ihre Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB). Die Organisation eines Gutachtens wird dabei nicht als typische Reparaturleistung betrachtet. Weil die Begutachtung auch durch den Geschädigten selbst organisiert werden kann, bleibt die Pflicht zur schnellen Schadensfeststellung direkt beim Geschädigten.
Konkret: Wenn die Werkstatt das Auto zwar schnell abschleppt, aber erst drei Tage später den Gutachter bestellt, kürzt die Versicherung die Mietwagenkosten für diese Wartezeit. Sie müssen diese Kosten dann selbst tragen. Vermeiden Sie daher die pauschale Freigabe an Dritte, „sich um alles zu kümmern,“ ohne eine konkrete Fristsetzung oder Bestätigung der Gutachterbeauftragung einzuholen.
Rufen Sie unmittelbar nach dem Unfall einen unabhängigen Sachverständigen an, um die Gutachtenerstellung proaktiv und fristlos einzuleiten.
Muss ich mithaften, wenn der Abbieger nicht beweisen kann, dass er geblinkt hat?
Die klare Antwort lautet: Nein, Sie müssen nicht mithaften, wenn der abbiegende Fahrer das Blinken nicht beweisen kann. Die Beweislast für die ordnungsgemäße Ankündigung eines Abbiegevorgangs liegt voll und ganz beim abbiegenden Fahrer. Scheitert dieser Beweis, kann der Abbieger Ihnen keine Pflichtverletzung oder ein Überholverbot nachweisen. Nur ein nachweislich gesetztes Blinksignal schafft eine juristisch relevante unklare Verkehrslage.
Die Regel ist eindeutig: Der abbiegende Verkehrsteilnehmer muss beweisen, dass er den nachfolgenden Verkehr gewarnt hat. Er muss das rechtzeitige und deutliche Blinken nachweisen, um Ihnen als Überholendem einen Verstoß gegen das absolute Überholverbot vorzuwerfen. Gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO entsteht dieses Verbot nur bei einer unklaren Verkehrslage. Fehlt der Beweis für das Blinken, ist die Verkehrslage für Sie als Pkw-Fahrer nicht unklar, und Sie dürfen grundsätzlich den Überholvorgang beginnen.
Ein wesentlicher praktischer Vorteil ergibt sich, wenn der Fall bereits vor Gericht verhandelt wurde. Hat das Landgericht in der Vorinstanz bereits festgestellt, dass das Blinken nicht geschehen ist, sind höhere Gerichte in der Berufung an diese Tatsachenfeststellung gebunden. Die Gegenseite muss diese Feststellung nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO konkret anfechten, was oft schwierig ist. Versuchen Sie daher nicht, das Fehlen des Blinkens zu beweisen, sondern greifen Sie die unzureichende Beweislage des Gegners an.
Weisen Sie Ihren Anwalt darauf hin, dass die Beweislast beim Abbieger liegt und die Tatsachenfeststellung der Vorinstanz im Zweifel unangreifbar ist.
Ist ein Überholverbot bei einem langsam fahrenden Traktor automatisch gegeben?
Nein, allein die starke Geschwindigkeitsreduzierung eines vorausfahrenden Fahrzeugs löst kein automatisches Überholverbot aus. Die bloße Verlangsamung eines Traktors gilt juristisch nicht als unklare Verkehrslage gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO. Die Rechtsprechung betont sogar, dass langsames Fahren oft eine implizite Aufforderung darstellt, das Hindernis zu passieren.
Das Gericht stellt klar, dass eine Verringerung der Geschwindigkeit viele Ursachen haben kann, die nicht zwingend auf ein sofortiges Abbiegemanöver hindeuten. Der Fahrer könnte beispielsweise nach einem Hindernis Ausschau halten oder eine Fahrbahnschäden umfahren wollen. Eine unklare Verkehrslage, die das Überholen untersagt, entsteht erst durch zusätzliche, eindeutige Signale. Hierzu zählen ein rechtzeitig gesetzter Blinker oder ein deutliches Einordnen des Traktors zur Fahrbahnmitte.
Fehlen diese klaren Anzeichen, ist der nachfolgende Autofahrer grundsätzlich berechtigt, das langsame Fahrzeug zu überholen. Wenn Ihnen vorgeworfen wird, Sie hätten das Abbiegen erahnen müssen, weil der Traktor langsam fuhr, weisen Sie diesen Vorwurf zurück. Die Pflicht zur klaren Ankündigung und die Einhaltung der doppelten Rückschaupflicht liegt stets beim links abbiegenden Fahrzeugführer.
Verweisen Sie in einem Rechtsstreit explizit auf die ständige Rechtsprechung des OLG Hamm, die Verlangsamung als mögliche Überholaufforderung wertet.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar
Juristische Fachbegriffe kurz erklärt
Betriebsgefahr
Juristen bezeichnen die Betriebsgefahr als das grundsätzliche Risiko, das von einem Kraftfahrzeug bereits dadurch ausgeht, dass es am öffentlichen Verkehr teilnimmt. Dieses Haftungsprinzip sorgt dafür, dass der Halter eines Fahrzeugs auch ohne eigenes Verschulden für Unfälle einstehen muss, da das Führen eines Kfz generell eine Gefahrenquelle darstellt.
Beispiel: Das Gericht berücksichtigte die erhöhte Betriebsgefahr des breiten Traktors, da von einem schweren landwirtschaftlichen Gespann ein deutlich höheres Gefährdungspotenzial ausging als von einem normalen Pkw.
Doppelte Rückschaupflicht
Die doppelte Rückschaupflicht verlangt von Linksabbiegern nach § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO zwei separate, sorgfältige Kontrollblicke in den Rückspiegel und zur Seite, bevor sie tatsächlich abbiegen. Das Gesetz verfolgt damit das Ziel, den nachfolgenden Verkehr optimal vor dem Abbiegevorgang zu schützen, da Überholende ihre Manöver oft erst kurz nach dem Blinken beginnen.
Beispiel: Der Traktorfahrer verletzte die doppelte Rückschaupflicht massiv, weil er es versäumte, unmittelbar vor dem Lenkradeinschlag ein zweites Mal zu prüfen, ob der nachfolgende Pkw bereits zum Überholen angesetzt hatte.
Erfüllungsgehilfe
Ein Erfüllungsgehilfe ist eine Hilfsperson, derer sich eine Partei bedient, um eine eigene vertragliche Pflicht oder sonstige Verpflichtung zu erfüllen, wobei deren Fehler der Hauptperson nach § 278 BGB zugerechnet werden. Dieses Konzept verhindert, dass sich jemand seiner Verantwortung entzieht, indem er die Ausführung wichtiger Aufgaben einfach an Dritte auslagert.
Beispiel: Die mit der Schadensabwicklung betraute Werkstatt galt als Erfüllungsgehilfe der geschädigten Firma, weshalb deren Verzögerung bei der Gutachterbeauftragung der klagenden Firma angelastet wurde.
Schadensminderungspflicht
Nach der Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 BGB) ist der Geschädigte verpflichtet, nach einem Unfall alles Zumutbare zu unterlassen oder zu tun, um den entstandenen Schaden nicht unnötig zu erhöhen. Der Gesetzgeber möchte verhindern, dass sich Geschädigte auf Kosten des Schädigers passiv verhalten und beispielsweise Mietwagenkosten über Wochen ohne Not auflaufen lassen.
Beispiel: Die klagende Firma verletzte die Schadensminderungspflicht, da die Beauftragung des Gutachters durch ihren Erfüllungsgehilfen mehrere Tage verzögerte und dadurch die Mietwagenkosten unnötig in die Höhe trieb.
Tatsachenfeststellung
Eine Tatsachenfeststellung ist das prozessuale Ergebnis der Beweisaufnahme in der ersten Gerichtsinstanz, in der das Gericht rechtsverbindlich klärt, was genau passiert ist und welche Sachverhalte als bewiesen gelten (z. B. das Fehlen eines Blinkers). Dieses Element der ZPO (Zivilprozessordnung) dient der Verfahrensbeschleunigung, da höhere Gerichte in der Berufung nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an diese Feststellungen der Vorinstanz gebunden bleiben.
Beispiel: Weil das Landgericht Münster bereits in erster Instanz feststellte, dass das Blinken nicht bewiesen werden konnte, scheiterte das Argument der Versicherung vor dem Oberlandesgericht Hamm an dieser bindenden Tatsachenfeststellung.
Unklare Verkehrslage
Von einer unklaren Verkehrslage spricht man, wenn die gesamte Situation dem nachfolgenden Verkehrsteilnehmer keine eindeutige Einschätzung darüber erlaubt, wie sich das vorausfahrende Fahrzeug verhalten wird. Gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO begründet dieser Zustand ein absolutes Überholverbot, da die Gefahr eines Unfalls zu hoch ist.
Beispiel: Die Richter stellten klar, dass die bloße Verlangsamung des Traktors keine unklare Verkehrslage begründete, da hierfür ein eindeutiges Signal wie ein gesetzter Blinker oder ein Einordnen zur Fahrbahnmitte hätte hinzukommen müssen.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Hamm – Az.: 7 U 83/22 – Urteil vom 19.04.2024
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Ich bin seit meiner Zulassung als Rechtsanwalt im Jahr 2003 Teil der Kanzlei der Rechtsanwälte Kotz in Kreuztal bei Siegen. Als Fachanwalt für Verkehrsrecht und Fachanwalt für Versicherungsrecht, sowie als Notar setze ich mich erfolgreich für meine Mandanten ein. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte sind Mietrecht, Strafrecht, Verbraucherrecht, Reiserecht, Medizinrecht, Internetrecht, Verwaltungsrecht und Erbrecht. Ferner bin ich Mitglied im Deutschen Anwaltverein und in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften. Als Rechtsanwalt bin ich bundesweit in allen Rechtsgebieten tätig und engagiere mich unter anderem als Vertragsanwalt für […] mehr über Dr. Christian Gerd Kotz





