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Übersicht:
- ✔ Das Wichtigste in Kürze
- Hinterbliebenengeld: Rechtliche Absicherung für Angehörige bei Verkehrsunfällen
- Der Fall vor dem OLG München im Detail
- ✔ FAQ zum Thema: Hinterbliebenengeld und rechtliche Absicherung
- Was ist Hinterbliebenengeld und unter welchen Umständen wird es gewährt?
- Welche Rolle spielt die Wohnsituation bei der Bewertung des Anspruchs auf Hinterbliebenengeld?
- Wie wird das Mitverschulden des Verstorbenen bei der Berechnung des Hinterbliebenengeldes berücksichtigt?
- Wie hat sich die Höhe des Hinterbliebenengeldes seit seiner Einführung verändert und warum?
- § Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- ➜ Das vorliegende Urteil vom OLG München
✔ Das Wichtigste in Kürze
- Die Bemessung des Hinterbliebenengeldes auf 12.000 € für die Klägerin nach dem Unfalltod ihrer 77-jährigen Mutter ist angemessen.
- Ein enges persönliches Näheverhältnis zwischen Mutter und Tochter lag vor, da die Mutter regelmäßig bei der Tochter war und dort sogar die Enkelkinder betreut hatte.
- Das Alter der Verstorbenen von 77 Jahren ist kein Grund für eine Reduzierung, da sie noch sehr aktiv und fit war.
- Die getrennte Wohnsituation der Mutter spricht nicht gegen ein enges Verhältnis, da sie nur wenige Kilometer entfernt lebte.
- Der kurze Zeitraum zwischen Unfall und Tod der Mutter ist irrelevant für die Bemessung.
- Ein besonderes Verschulden des Busfahrers wurde nicht berücksichtigt, nur eine geringe Fahrlässigkeit lag vor.
- Eine dunkle Kleidung der Mutter begründet kein Mitverschulden, da der Unfall in einer belebten Innenstadt geschah.
- Der im Gesetzentwurf genannte Orientierungswert von 10.000 € wurde aufgrund der Preisentwicklung angepasst.
Hinterbliebenengeld: Rechtliche Absicherung für Angehörige bei Verkehrsunfällen
Wenn ein geliebter Mensch unerwartet verstirbt, hinterlässt dies nicht nur tiefe emotionale Wunden, sondern kann auch eine erhebliche finanzielle Belastung bedeuten. In solch schwierigen Situationen kann das sogenannte Hinterbliebenengeld eine wichtige rechtliche Absicherung darstellen.
Dieses Geld soll die materiellen Folgen eines Todesfalles für die Angehörigen abmildern und ihnen in der Trauerphase den nötigen finanziellen Rückhalt geben. Entscheidend für die Höhe des Hinterbliebenengeldes sind dabei verschiedene Faktoren, wie etwa die Intensität der Beziehung zwischen Verstorbenem und Hinterbliebenen oder der Grad des Verschuldens am Unfalltod.
Wie genau solche Fälle rechtlich zu beurteilen sind und welche Summen im konkreten Einzelfall angemessen sein können, soll im Folgenden anhand eines aktuellen Gerichtsurteils näher betrachtet werden.
Der Fall vor dem OLG München im Detail
Enge Beziehung trotz separater Wohnungen: Gericht bestätigt Hinterbliebenengeld für Tochter
In einem berührenden Fall vor dem Oberlandesgericht (OLG) München ging es um die Höhe des Hinterbliebenengeldes für eine Tochter, deren 77-jährige Mutter bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Die Klägerin, die nur wenige Kilometer von ihrer Mutter entfernt wohnte, hatte ein besonders enges Verhältnis zu ihr. Die Mutter war regelmäßig zu Besuch, unterstützte bei der Betreuung der Enkelkinder und die Tochter nahm sich extra frei, um Zeit mit ihr zu verbringen. Nach dem Tod der Mutter litt die Tochter unter Schlafstörungen und benötigte Monate, um die Wohnung der Verstorbenen zu betreten und zu räumen.
Die beklagte Versicherung des Unfallverursachers hatte zwar die Haftung für den Unfall anerkannt, die Höhe des Hinterbliebenengeldes jedoch bestritten. Sie argumentierte, dass aufgrund des hohen Alters der Verstorbenen und der Tatsache, dass Mutter und Tochter nicht in einem gemeinsamen Haushalt lebten, eine geringere Summe angemessen sei. Das Landgericht Augsburg sprach der Klägerin jedoch ein Hinterbliebenengeld von 12.000 € zu.
OLG bestätigt die Entscheidung des Landgerichts
Das OLG München bestätigte die Entscheidung des Landgerichts und wies die Berufung der Versicherung zurück.
Zur Begründung führte der Senat aus, dass bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes die konkrete seelische Beeinträchtigung des Hinterbliebenen und die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen seien. Maßgeblich seien die Intensität und Dauer des Leides, der Grad des Verschuldens und Rückschlüsse aus der Art der Beziehung.
Das Gericht betonte, dass das hohe Alter der Verstorbenen allein kein Grund für eine Reduzierung des Hinterbliebenengeldes sei, da sie nach den glaubhaften Angaben der Klägerin noch sehr aktiv und fit gewesen war.
Auch die Tatsache, dass Mutter und Tochter getrennt wohnten, stehe einem engen Verhältnis nicht entgegen, da die Entfernung gering gewesen sei und regelmäßige Besuche möglich waren.
Kein Mitverschulden der Mutter
Das OLG schloss sich zudem der Auffassung des Landgerichts an, dass ein Mitverschulden der Mutter nicht vorliege. Die Versicherung hatte argumentiert, die Mutter habe möglicherweise bei Rot die Straße überquert und dunkle Kleidung getragen. Das Gericht verwies jedoch darauf, dass ein Rotlichtverstoß nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte und die Mutter zudem weiße Handschuhe und eine weiße Kopfbedeckung getragen hatte, sodass sie für den Busfahrer erkennbar gewesen wäre.
Angemessene Höhe des Hinterbliebenengeldes
Schließlich stellte das OLG fest, dass die Höhe des Hinterbliebenengeldes mit 12.000 € angemessen sei. Zwar sei im Gesetzentwurf zur Einführung des Hinterbliebenengeldes ein Betrag von 10.000 € als Orientierungshilfe genannt, dieser stamme jedoch aus dem Jahr 2017 und müsse aufgrund der Preisentwicklung angepasst werden.
Im Ergebnis hat das OLG München somit die Rechte von Hinterbliebenen gestärkt, die trotz getrennter Wohnsituation ein enges Verhältnis zu ihren Angehörigen pflegten.
✔ FAQ zum Thema: Hinterbliebenengeld und rechtliche Absicherung
Was ist Hinterbliebenengeld und unter welchen Umständen wird es gewährt?
Das Hinterbliebenengeld ist eine Entschädigung in Geld, die im Falle der Tötung einer Person durch einen Dritten an die Hinterbliebenen gezahlt wird, die in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis zum Getöteten standen.
Es wurde 2017 durch § 844 Abs. 3 BGB eingeführt und soll das seelische Leid der Hinterbliebenen lindern. Ein besonderes Näheverhältnis wird bei Ehegatten, Lebenspartnern, Eltern und Kindern vermutet. Bei anderen Beziehungen muss das Näheverhältnis nachgewiesen werden.
Voraussetzungen für den Anspruch sind:
- Eine unerlaubte Handlung gegen den Getöteten nach §§ 823 ff. BGB, z.B. fahrlässige Tötung.
- Der Todeseintritt des Geschädigten als Folge der unerlaubten Handlung.
- Ein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen Hinterbliebenen und Getötetem.
Die Höhe des Hinterbliebenengeldes soll im Regelfall hinter einem Schmerzensgeld für eine Gesundheitsverletzung zurückbleiben, da keine eigene Rechtsgutsverletzung vorliegt. In der Gesetzesbegründung wird ein Durchschnittsbetrag von 10.000 € pro Hinterbliebenen genannt.
Das Hinterbliebenengeld gilt nur für Todesfälle ab dem 22.07.2017 und nicht rückwirkend. Es findet Anwendung im Verkehrs-, Arzt- und Arzneimittelhaftungsrecht sowie bei Tötungsdelikten.
Welche Rolle spielt die Wohnsituation bei der Bewertung des Anspruchs auf Hinterbliebenengeld?
Die Wohnsituation spielt bei der Bewertung des Anspruchs auf Hinterbliebenengeld eine untergeordnete Rolle. Das entscheidende Kriterium ist das Bestehen eines besonderen persönlichen Näheverhältnisses zwischen dem Getöteten und dem Hinterbliebenen, unabhängig davon, ob sie zusammen oder getrennt gewohnt haben.
Gemäß § 844 Abs. 3 BGB wird bei Ehegatten, Lebenspartnern, Eltern und Kindern ein solches Näheverhältnis vermutet. Bei anderen Beziehungen muss das enge Verhältnis jedoch nachgewiesen werden. Dabei kommt es auf die tatsächlich gelebte soziale Beziehung an, nicht auf die Wohnsituation.
Die räumliche Trennung der Wohnungen ist somit kein Ausschlusskriterium für einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld. Entscheidend sind vielmehr die Intensität und Qualität der persönlichen Beziehung zwischen Hinterbliebenen und Getötetem.
Selbst bei getrennten Wohnungen kann durchaus ein enges Näheverhältnis bestehen, wenn beispielsweise regelmäßiger, enger Kontakt und eine starke emotionale Bindung vorliegen. Die Gerichte prüfen dies im Einzelfall anhand der konkreten Umstände.
Zusammengefasst hat die Wohnsituation keinen direkten Einfluss auf den Anspruch. Das Vorliegen eines besonderen Näheverhältnisses ist die zentrale Voraussetzung, unabhängig davon, ob Hinterbliebene und Getöteter zusammen oder getrennt wohnten.
Wie wird das Mitverschulden des Verstorbenen bei der Berechnung des Hinterbliebenengeldes berücksichtigt?
Ein Mitverschulden des Verstorbenen am Unfallereignis, das zu seinem Tod führte, wird bei der Berechnung des Hinterbliebenengeldes anspruchsmindernd berücksichtigt.
Gemäß § 254 BGB ist das Mitverschulden des Getöteten quotal vom Gericht zu schätzen und der Anspruch auf Hinterbliebenengeld entsprechend zu kürzen. Dies ergibt sich aus der Verweisung in § 846 BGB auf die Vorschriften zur Schadensersatzpflicht.
Beispielsweise hat das OLG Koblenz in einem Fall, in dem dem Getöteten ein hälftiges (50%) Mitverschulden zugerechnet wurde, das Hinterbliebenengeld auf die Hälfte gekürzt. Auch das LG Limburg hat entschieden, dass bei einem überwiegenden Mitverschulden des Verstorbenen von mindestens 50% der Anspruch auf Hinterbliebenengeld vollständig entfallen kann.
Die Gerichte müssen im Einzelfall prüfen, ob und in welchem Umfang ein Mitverschulden des Getöteten vorliegt und den Anspruch der Hinterbliebenen quotieren. Relevante Faktoren sind beispielsweise eine Mitverursachung des Unfalls durch Fahrlässigkeit oder die Nichtbeachtung von Sicherheitsvorschriften.
Insgesamt wird deutlich, dass ein Mitverschulden des Verstorbenen unmittelbar zu einer anspruchsmindernden Kürzung des Hinterbliebenengeldes führt. Die Höhe der Kürzung hängt vom konkreten Verschuldensanteil ab, den das Gericht im Einzelfall festsetzt.
Wie hat sich die Höhe des Hinterbliebenengeldes seit seiner Einführung verändert und warum?
Die Entwicklung der Höhe des Hinterbliebenengeldes seit seiner Einführung 2017 lässt sich wie folgt zusammenfassen:
In der Gesetzesbegründung von 2017 wurde ein durchschnittlicher Betrag von 10.000 € pro Hinterbliebenen genannt. Dies sollte jedoch nur einen groben Orientierungsrahmen darstellen, von dem im Einzelfall nach oben oder unten abgewichen werden kann, wie der BGH 2022 klarstellte.
Seitdem zeigt sich ein Trend zu höheren Beträgen durch die Rechtsprechung. Laut dem GDV liegen die von Gerichten zugesprochenen Beträge inzwischen je nach Näheverhältnis zwischen etwa 10.000 € und 15.000 €.
Ein aktuell beim BGH anhängiger Fall behandelt sogar die Forderung einer Hinterbliebenen nach 30.000 €, orientiert an Härteleistungen für Opfer von Terrorismus. Hier zeichnet sich eine mögliche weitere Erhöhung der Beträge ab.
Die Gründe für den Anstieg liegen zum einen in der Einzelfallbetrachtung durch die Gerichte, die zu unterschiedlichen Beurteilungen des angemessenen Schmerzensgeldes führt. Zum anderen orientieren sich Gerichte teilweise an anderen, höheren Referenzbeträgen wie den genannten Härteleistungen.
Insgesamt ist also seit 2017 ein deutlicher Anstieg der vom Gericht zugesprochenen Hinterbliebenengeldbeträge über den ursprünglich genannten Durchschnittswert von 10.000 € hinaus zu beobachten. Die Entwicklung verläuft hin zu einer stärkeren Einzelfallbetrachtung und Orientierung an höheren Referenzwerten.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 522 Abs. 2 ZPO (Zivilprozessordnung): Diese Vorschrift ermöglicht es Gerichten, eine Berufung ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, wenn sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat. Dies ist relevant für den vorliegenden Fall, da das OLG München plant, die Berufung der Beklagten genau aus diesem Grund zurückzuweisen.
- § 287 ZPO: Diese Norm regelt die Schadensschätzung und ist besonders relevant für die Festsetzung von Schmerzensgeld oder, wie im vorliegenden Fall, Hinterbliebenengeld. Sie erlaubt dem Gericht, die Höhe der Entschädigung unter Berücksichtigung aller Umstände frei zu schätzen, was die konkrete seelische Beeinträchtigung des Hinterbliebenen einschließt.
- Gesetzentwurf BT-Drs. 18/11397: Dieser Entwurf beinhaltet Regelungen zum Hinterbliebenengeld, das eine finanzielle Kompensation für die immateriellen Verluste der Angehörigen nach einem Todesfall vorsieht. Das Gericht orientiert sich an diesem Gesetzentwurf zur Bewertung des angemessenen Betrags des Hinterbliebenengeldes.
- § 7 Abs. 1 StVG (Straßenverkehrsgesetz): Diese Vorschrift betrifft die Haftung bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs. Sie ist hier relevant, da das Gericht die Haftung des Busfahrers unter anderem auf diese Norm stützt.
- § 10 StVG: Diese Regelung erweitert die Haftpflicht für Fahrzeughalter und ist in diesem Fall wichtig für die Festlegung der Verantwortlichkeit der Beklagten, die den Bus betrieb, der am Unfall beteiligt war.
- § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO: Diese Norm regelt, dass das Berufungsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts gebunden ist, solange keine konkreten Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Feststellung vorliegen. Im gegebenen Fall argumentiert das Berufungsgericht, dass es keine Veranlassung gibt, von den Feststellungen des Landgerichts abzuweichen.
Jeder dieser Punkte trägt zur rechtlichen Strukturierung und Beurteilung des Falles bei, indem er erklärt, auf welcher rechtlichen Grundlage das Gericht seine Entscheidung trifft und welche Gesetze und Vorschriften zur Anwendung kommen.
➜ Das vorliegende Urteil vom OLG München
OLG München – Az.: 24 U 541/24 e – Beschluss vom 19.03.2024
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 05.01.2024, Az. 112 O 495/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um die Höhe des Hinterbliebenengelds, das der Klägerin aufgrund des Todes ihrer Mutter bei einem Verkehrsunfall zusteht.
Das Landgericht Augsburg hat die Beklagte zu 2) (im Folgenden: die Beklagte) zur Zahlung von 16.364,41 € nebst Zinsen verurteilt. In diesem Betrag ist neben Beerdigungskosten in Höhe von 4.364,41 €, die in der Berufung nicht mehr streitig sind, ein Hinterbliebenengeld von 12.000,00 € enthalten, dessen Höhe die Beklagte mit der Berufung beanstandet. Sie ist der Ansicht, in Hinblick auf das Alter der Verstorbenen (77 Jahre) und verschiedene weitere Umstände sowie einem Mitverschulden der Verstorbenen sei ein Hinterbliebenengeld von maximal 5.000,00 € angemessen, und beantragt folglich eine Reduzierung des zuerkannten Betrages auf 9.364,41 €. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
Bei der Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung durch den nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichter sind die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Maßgebend für die Höhe sind im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 EUR (BT-Drs. 18/11397, 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar (BGH Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 = NJW 2023, 1438).
Nach dieser Maßgabe und nach Auffassung des Senats ist das vom Landgericht zuerkannte Hinterbliebenengeld angemessen.
1.
a) Das Landgericht hat aufgrund der Anhörung der Klägerin, deren Angaben es als glaubhaft bewertet hat, ein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter festgestellt. Die Klägerin, die im Westen von A. nur wenige Kilometer von der Wohnung der Verstorbenen in N. entfernt lebt, hat bekundet, dass diese vor dem Unfall jeden Sonntag bei ihr zum Essen gewesen sei. Sie sei auch unter der Woche mit dem Rad vorbeigekommen. Sie habe sich in der damaligen Corona-Zeit – der Unfall ereignete sich am 01.12.2020 – jeden Montag freigenommen, um Zeit mit ihrer Mutter verbringen zu können. Das Näheverhältnis zeigt sich auch darin, dass die Verstorbene die inzwischen 23 und 17 Jahre alten Kinder der Klägerin betreut hatte, als diese noch im Kindergartenalter waren (Prot. vom 10.10.2022, S. 2 = Bl. 50 d. A.).
Das Landgericht ist mit Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin durch den Unfalltod der Mutter seelisches Leid erlitten hat. Sie hatte geplant, in Andenken an den 2016 verstorbenen Vater am 4. Dezember mit ihrer Mutter zusammen den Barbaratag zu feiern. Stattdessen wurde sie mit dem Unfall und mit dem Tod der Mutter am Morgen des 3. Dezember konfrontiert. Das Landgericht hat als glaubhaft bewertet, dass die Mutter der Klägerin sehr fehle; seither habe sie keine Nacht durchgeschlafen. Sie habe zwei Monate gebraucht, um nach dem Tod der Mutter deren Wohnung überhaupt betreten zu können, sowie sechs Monate, um diese zu räumen.
b) Das mit 77 Jahren hohe Alter der Verstorbenen allein stellt keinen Grund zur Reduzierung des Hinterbliebenengelds dar. Nach den vom Landgericht als glaubhaft bewerteten Angaben der Klägerin war die Verstorbene „fit“, sie sei jeden Tag 10 km Fahrrad gefahren und bei Regenwetter die Strecke zur Wohnung der Klägerin (3 km) auch zu Fuß gelaufen. Sie habe geplant, nach dem Ende der Corona-Beschränkungen bei der Volkshochschule Fremdsprachen zu lernen. Damit gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass auch ohne den Unfall mit einem baldigen Ableben zu rechnen gewesen wäre.
c) Dass kein gemeinsamer Wohnsitz zwischen der Klägerin und ihrer Mutter bestand, begründet ebenfalls keine niedrige Bemessung des Hinterbliebenengelds. Die Verstorbene wohnte noch selbständig in der Wohnung, in der sie zusammen mit ihrem 2016 verstorbenen Ehemann gelebt hatte. Angesichts der geringen Entfernung von ca. 3 km, die die Verstorbene bis zum Unfall mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt hat, bestand die Möglichkeit einer engen Mutter-Tochter-Beziehung ohne weiteres.
d) Der kurze Zeitabstand vom Unfall am Abend des 01.12.2020 und dem Tod am Morgen des 03.12.2020 ist für die Höhe des Hinterbliebenengelds ohne Bedeutung. Die Klägerin macht keinen Schmerzensgeldanspruch aus ererbtem Recht ihrer Mutter geltend.
e) Hätte die Klägerin den Unfall ihrer Mutter selbst miterlebt, wäre eine (weitere) Erhöhung des Hinterbliebenengelds – je nach den Umständen – in Betracht gekommen. Der vom Landgericht vorgenommenen Bemessung steht dies nicht entgegen.
f) Das Landgericht hat auch keine Erhöhung wegen eines besonders hohen Verschuldens des – mittlerweile ebenfalls verstorbenen – Busfahrers der Beklagten vorgenommen. Im Gegenteil hat es die Haftung nur auf die Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1, § 10 StVG gestützt. Hinzu kam eine geringe Fahrlässigkeit des Fahrers, der ausweislich des vom Landgericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen O. die Fußgängerin aus einer Entfernung vom 12 m hätte erkennen und daher bei der gefahrenen geringen Geschwindigkeit von 10 km/h hätte vermeiden können, stattdessen aber auf 16 km/h beschleunigte, bevor er die Fußgängerin tatsächlich wahrnahm und – zu spät – bremste (Gutachten vom 06.04.2023, S. 25/28).
g) Da das Landgericht „nur“ Hinterbliebenengeld zugesprochen hat, bleibt ohne Bedeutung, dass das seelische Leid der Klägerin noch nicht von pathologischem Ausmaß war.
h) Schließlich ist das vom Landgericht zuerkannte Hinterbliebenengeld von 12.000,00 € auch nicht deshalb zu hoch, weil in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD (BT-Drs. 18/11397, 11) ein Betrag in Höhe von 10.000 EUR genannt ist, der eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung bietet (vgl. BGH Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 = NJW 2023, 1438). Der Gesetzentwurf stammt aus dem März 2017; allein die Preisentwicklung von 2017 bis 2023 führt zu einer Anpassung auf 12.000,00 € (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2550/umfrage/entwicklung-des-verbraucherpreisindex/).
2.
Das Landgericht hatte das Hinterbliebenengeld nicht wegen eines Mitverschuldens der Mutter der Klägerin zu kürzen, weil es ein solches Mitverschulden nicht festgestellt hat.
Die Berufung beanstandet diese Feststellung. Das Berufungsgericht ist jedoch an die Feststellung gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Feststellung bestehen, die eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Dies ist nicht der Fall.
a) Das Landgericht konnte nicht feststellen, dass sie bei Rotlicht der Fußgängerampel über die Straße gegangen wäre. Die Zeugin K. hat zwar von einem Rotlichtverstoß gesprochen, aber eingeschränkt, dass es sein könne, „dass erst Grün gewesen und dann schnell Rot gewesen sei“ (Prot. vom 10.10.2022, S. 6 = Bl. 54 d. A.). Auch im weiteren Verlauf ihrer Aussage hat sich die Zeugin K. insoweit nicht festlegen können. Die Dame sei im Zeitpunkt des Zusammenstoßes mit dem Bus schon mehr als die Hälfte über der Straße gewesen. Da der Bus der Beklagten von der D.straße nach rechts in die H.straße abbog und die Verstorbene die H.straße in der entgegengesetzten Richtung überquerte, hatten beide Lichtzeichen eine gemeinsame Grünphase von 8 Sekunden sowie einen Vorlauf der Grünphase für die Fußgängerampel von 3 Sekunden (vgl. Gutachten S. 27). Damit ist möglich, dass die Verstorbene die Fußgängerfurt bei „grün“ betreten hat.
b) Ein Mitverschulden kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die Verstorbene eine dunkle Kleidung getragen hat. Zwar kommt ein solches Mitverschulden in Betracht, wenn ein Fußgänger bei Dunkelheit und nicht vorhandener Straßenbeleuchtung sowie durch unwetterartigen Starkregen zusätzlich erschwerten Sichtverhältnissen außerhalb geschlossener Ortschaften in dunkler Kleidung die Straße überquert (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 9 Rn. 45.1; OLG Jena, Urteil vom 01.12.2020 – 5 U 134/19; NJW-RR 2021, 607) oder bei Dunkelheit mit dunkler Kleidung, ohne auf Fahrzeuge zu achten, die Fahrbahn überquert (OLG Hamm, Urteil vom 31. 01. 1990 – 32 U 133/89, r + s 1991, 191; Hentschel/König/Dauer/König, 47. Aufl. 2023, StVO § 25 Rn. 53). Der Unfall ereignete sich zwar bei Dunkelheit, aber noch zu einer belebten Zeit (um 18.55 Uhr) annähernd im Stadtzentrum von N. Zudem war die Kleidung der Fußgängerin zwar dunkel, sie trug aber weiße Handschuhe und eine weiße Kopfbedeckung. Der Busfahrer hätte sie aus einer Entfernung von 12 m erkennen und abbremsen können (vgl. Gutachten S. 27/28).
3.
Im Ergebnis ist die Bemessung des Hinterbliebenengelds auf 12.000,00 € im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).