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HWS Distorsion – Nachweis bei geringer Krafteinwirkung

Thüringer Oberlandesgericht

Az.: 5 U 229/07

Urteil vom 13.01.2009


1. Auf die Berufung der Beklagten hin wird das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 16.02.2007 abgeändert und die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Hinsichtlich des Sachverhaltes wird gemäß § 540 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO auf den Tatbestand des mit der Berufung angegriffenen Urteils verwiesen.

Mit Urteil vom 16.02.2007 gab der Erstgericht der Klage in vollem Umfang statt.

Zur Begründung führte das Erstgericht aus, dass aufgrund der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme zu seiner Überzeugung feststehe, dass der Kläger die vorgetragenen körperlichen Schäden aufgrund des Verkehrsunfalls erlitten habe.

Die Zeugin K habe ausgesagt, dass sie durchgeschüttelt worden sei und das Auto richtig „geruckelt“ habe. Ferner habe die Zeugin glaubhaft bekundet, dass ihr Ehemann aufgrund des Servicevertrages 2.000,00 Euro monatlich verdient und diese Dienste bis zu seiner Krankschreibung am 12.06.2004 erbracht habe.

Des Weiteren habe der Zeuge Dipl. med. J überzeugend ausgeführt, dass die Symptomatik des Klägers zu dem Verkehrsunfall passe.

Der Zeuge Dr. med. Z habe bekundet, dass er den Kläger am 20.07.2004 und am 10.08.2004 behandelt habe. Dabei seien erhebliche muskuläre Verspannungen im Bereich des Muskulus Trapezius beidseitig und in der Nackenmuskulatur feststellbar gewesen. Der Kläger sei kaum in der Lage gewesen, den Kopf zu bewegen. Am 10.08.2004 sei eine Verbesserung eingetreten.

Des Weiteren habe der Sachverständige auch in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass das Unfallereignis vom 12.06.2004 geeignet gewesen sei, die vom Kläger behaupteten Beschwerden hervorzurufen.

Einer weiteren Beweisaufnahme wie von den Beklagten gefordert, habe es daher nicht bedurft, da das Gericht von den körperlichen Folgen des Klägers aufgrund des Verkehrsunfalls nach der vorliegenden Beweisaufnahme überzeugt gewesen sei.

Der materielle Schaden sei wie beantragt, zuzusprechen gewesen, den insoweit konkreten Vortrag des Klägers hätten die Beklagten nicht bestritten. Ein Schmerzensgeld sei in Höhe von 3.000,00 Euro zuzusprechen gewesen, da die Regulierungspraxis der Beklagen sehr zögerlich gewesen sei.

Gegen dieses Urteil legten die Beklagten form- und fristgerecht Berufung ein.

Zur Begründung führten die Beklagten aus, dass dem Erstgericht nicht gefolgt werden könne, soweit es seine Überzeugungsbildung auf der Aussage des Zeugen Dipl. med. J gestützt habe. Das Erstgericht habe insoweit ausgeführt, dass dieser zu seiner Überzeugung ausgeführt habe, dass die Symptomatik des Klägers zum Verkehrsunfall passe. Die Frage, ob Unfallfolgen auf ein Unfallgeschehen zurückzuführen seien, könne aber nicht Gegenstand des Zeugenbeweises sein. Zeugenbeweis könne sich nur auf Wahrnehmungen von Personen erstrecken.

Auch sei zu Unrecht vom Erstgericht abgelehnt worden, ein Gutachten zu den kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen einzuholen, wonach die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ungeeignet gewesen sei, die klägerseits behaupteten Verletzungen hervorzurufen. Dies stelle  eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.

Auch habe das Erstgericht die Grundsätze verkannt, die für den Sachverständigenbeweis gelten würden. Offensichtlich sei es der Auffassung gewesen, dass es die Feststellungen des Sachverständigen ungeprüft übernehmen und sich mit Einwendungen der Parteien gegen ein Sachverständigengutachten auch nicht mehr auseinandersetzen müsse.

Auch hinsichtlich der Höhe des Verdienstausfallschadens, sei bestritten worden, dass der Kläger seinen Verpflichtungen aus dem Servicevertrag vom 01.05.2004 zwischen der Firma A GmbH und der R K Automatenservicevertrieb (Firma des Klägers)  nicht mehr habe nachkommen können. Es sei bestritten worden, dass durch die Firma des Klägers die Wartungsarbeiten nicht mehr ausgeführt worden seien. Hierüber hätte das Erstgericht Beweis erheben müssen.

Die Beklagten beantragen daher, das Urteil des Landgerichts Mühlhausen vom 16.02.2007  abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil unter Wiederholung und Bezugnahme auf seinen bisherigen Vortrag.

Hinsichtlich der Frage des Verdienstausfalles stellt der Kläger nochmals dar, dass er als Automatenmonteur unter der Firmierung R K Automatenservice selbständig tätig gewesen sei.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen unfallanalytischen und biomechanischen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. S.

Hinsichtlich des Inhaltes des Gutachtens wird Bezug auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen S vom 17.12.2007 (Bd. II, Blatt 315 – 338 d. A.). Des Weiteren wurde durch den Senat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Zusatzgutachtens des Sachverständigen Dr. B. Hinsichtlich des Inhaltes des Zusatzgutachtens wird auf das vorliegende schriftliche Zusatzgutachten Bezug genommen (Bd. II, Bl. 376 – 378 d. A.). Des Weiteren wurden die Sachverständigen Dipl.-Ing. S und Dr. B im Termin vom 02.12.2008 mündlich angehört. Hinsichtlich des Inhaltes der gemachten Sachverständigenausführungen wird auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 02.12.2008 Bezug genommen (Bd. III, Bl. 423 – 429 d. A.).

II.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Dem Kläger steht der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Schadensersatz in Form von entstandenen Heilbehandlungskosten und Verdienstausfall sowie Schmerzensgeld gem. den § 7 Abs. 1, 18, 11 StVG, §§ 1, 3 Pflichtversicherungsgesetz, § 823 BGB aus dem Verkehrsunfall vom 12.06.2004 nicht zu, da ihm der Nachweis nicht gelungen ist, dass die von ihm behaupteten Beschwerden auf den Verkehrsunfall vom 12.06.2004 zurückzuführen sind.

Dabei ist zu sehen, dass die Frage, ob sich der Kläger bei dem Unfall überhaupt die von ihm behaupteten Verletzungen zugezogen hat, die haftungsbegründende Kausalität betrifft. Die Frage unterliegt somit den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 ZPO. Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhaltes der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. BGH Urteil vom 08.07.2008, VI ZR 274/07).

Einen solchen für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit dahingehend, dass die vom Kläger behauptete HWS-Distorsion und die damit verbundene behauptete unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit auf den hier streitgegenständlichen Verkehrsunfall zurückzuführen sind, hat sich für den Senat nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht ergeben. So kommt der Sachverständigen Dipl.-Ing. S in seinem schriftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, dass auf den Kläger allenfalls eine Drehgeschwindigkeit von Delta-V zwischen 2,0 bis 3,5 eingewirkt hat. Aus seiner Sicht sind daher die vom Kläger behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht auf den Unfall zurückzuführen, da diese Einwirkung zu geringfügig war. Dem hat der medizinische Sachverständigen Dr. B in seiner mündlichen Einvernahme vor dem Senat entgegengehalten, dass man in der neueren Literatur bereits bei Delta-Werten von 3 – 5 die Möglichkeit einer HWS-Distorsion annimmt.

Auch der Senat lehnt in diesem Zusammenhang die schematische Annahme einer Harmlosigkeitsgrenze ab (so auch BGH im Urteil vom 03.06.2008) VI ZR 253/07). Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine HWS-Verletzung verursacht hat, sind vielmehr stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. BGH-Urteil vom 08.07.2008, VI ZR 274/07). Zu sehen ist aber, dass je geringer die Krafteinwirkungen sind, die auf den Geschädigten während des Unfalls einwirken, um so höher die Anforderungen an den brauchbaren Grad von Gewissheit zu stellen sind, der für den Nachweis der Unfallursächlichkeit der behaupteten Verletzungen zu fordern ist.

Vorliegend hat der Sachverständigen Dr. B in seiner Anhörung vor dem Senat weiter eingeräumt, dass er zwar von einer Unfallursächlichkeit der Beschwerden des Klägers ausgeht, diesbezüglich aber kein objektiver Nachweis in Gestalt eines Röntgenbildes oder einer MRT-Aufnahme vorläge. Vielmehr beruhe seine Annahme der Unfallursächlichkeit schlichtweg darauf, dass in der neueren Literatur HWS-Schädigungen auch bei sehr geringen Krafteinwirkungen nicht mehr ausgeschlossen werden und die ehemals angenommene „Harmlosigkeitsgrenze“ von immer mehr Stimmen in der Wissenschaft verneint werde. Letztendlich musste der Sachverständige Dr. B aber auch einräumen, dass sich der Kläger diese Beschwerden auch anders habe zuziehen können, z.B. durch eine ungeschickte Bewegung.

Letztendlich stellt somit auch nach Dr. B die Möglichkeit der Unfallbedingtheit der vom Kläger behaupteten Verletzungen nur eine Möglichkeit unter mehreren dar. Dies stellt aber für den Senat keinen brauchbaren Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, dar.

Daran vermag auch nichts die vom Erstgericht vorgenommene Einvernahme des sachverständigen Zeugen Dr. J zu ändern, der den Kläger als erster behandelt hat. Gleiches gilt für die Aussage des vom Erstgericht einvernommenen Zeugen Dr. Z, bei dem der Kläger später vorstellig wurde, sowie dessen ärztlicher Bericht gegenüber der Beklagten zu 3), welche als Anlage K 2 (Bd. I, Bl. 11 d. A.) vorgelegt wurde. Zwar kamen beide sachverständige Zeugen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine unfallbedingte HWS-Distorsion vorgelegen habe, bzw. massive Schmerzen und Einschränkungen der HWS-Beweglichkeit. Zu sehen ist dabei insoweit, dass die Diagnosen der beiden sachverständigen Zeugen letztendlich allein auf den Angaben des Klägers beruht haben. Sie haben insoweit keine eigenen Feststellungen im Bereich der Diagnose getroffen. Dies ist auch folgerichtig, da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt. Für ihn steht im Mittelpunkt die Therapie, während der Benennung der Diagnose als solche für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung ist. Deshalb sind zeitnah nach dem Unfall erstellte ärztliche Atteste hier von untergeordneter Bedeutung. Eine ausschlaggebende Bedeutung kommt solchen Diagnosen im Allgemeinen nicht zu (vgl. BGH-Urteil vom 03.06.2008 VI ZR 235/07).

Auf die Berufung der Beklagten hin war somit das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708, Nr. 10, 711 und 713 ZPO.

Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen, da der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zukommt, noch die Fortbildung des Rechtes oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung durch das Revisionsgericht erfordert.

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