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Infektionsschutzgesetz – Anerkennung von Schädigungsfolgen einer Schutzimpfung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Az.: L 13 VJ 59/14 WA – Urteil vom 16.03.2016

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozial-gerichts Neuruppin vom 19. Dezember 2009 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 15. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 3. April 2006 verpflichtet, den Bescheid vom 9. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1995 zu ändern und festzustellen, dass der Hirnschaden mit Störungen des Bewegungsvermögens und der geistigen Entwicklung sowie Anfallsleiden Folge der Poliomyelitisschutzimpfung der Klägerin vom 9. Januar 1989 ist.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die im März 1987 geborene Klägerin begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen einer Schutzimpfung.

Die Klägerin, die zuvor sowohl gegen Poliomyelitis als auch gegen Masern geimpft worden war, erhielt am 9. Januar 1989 eine Auffrischungsimpfung mit Lebendviren gegen Poliomyelitis und am 17. Januar 1989 eine Boosterung gegen Masern. Beide Impfungen wurden durch die Krippenärztin vorgenommen, die für die Kinderkrippe der Klägerin zuständig war.

In der Zeit vom 13. Februar 1989 bis zum 21. Februar 1989 war die Klägerin wegen einer Mittelohrentzündung erkrankt und besuchte die Kinderkrippe nicht. Am 24. Februar trat bei der Klägerin starkes Erbrechen auf, sodass sie von ihrer Mutter aus der Kinderkrippe abgeholt werden musste. Am Folgetag erfolgte die stationäre Krankenhausaufnahme. Dabei wurde eine Enzephalitis festgestellt. Als Folge dieser Enzephalitis erlitt die Klägerin einen schweren Hirnschaden, der inzwischen zur Zuerkennung eines Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch/ Neuntes Buch (SGB IX) geführt hat.

Am 14. November 1989 erkannte die Bezirks-Hygieneinspektion des Rates des Bezirkes Schwerin für die Klägerin einen Schaden im Sinne der Zweiten Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen aufgrund der am 17. Januar 1989 durchgeführten Masern–Zweitimpfung an. Der Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und der am 24. Februar 1989 beginnenden Enzephalitis und des sich daraus entwickelnden postencephalitischen apallischen Syndroms sei mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Am 9. März 1990 erstattete Obermedizinalrat Prof. Dr. Dr. O eine gutachterliche Stellungnahme, in der er – vor allem gestützt auf eine Literaturrecherche – den Kausalzusammenhang verneinte. Daraufhin hob der Rat des Bezirkes Schwerin am 14. Mai 1990 die Entscheidung vom 14. November 1989 auf. Das Gesundheitsministerium der DDR bestätigte dies am 27. Juni 1990.

Am 10. März 1992 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten eine Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz. Mit Bescheid vom 9. Dezember 1993 lehnte der Beklagte eine solche Versorgung, bezogen auf die Masernschutzimpfung, mit der Begründung ab, der Kausalzusammenhang sei nicht wahrscheinlich. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 1995 – bezogen auf eine Versorgung nach beiden Impfungen – zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde bestandskräftig.

Den am 18. Juni 2004 gestellten Überprüfungsantrag der Klägerin lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 mit der Begründung ab, der Kausalzusammenhang zwischen den Impfungen und der eingetretenen Enzephalitis sei nicht wahrscheinlich.

Die hiergegen fristgemäß erhobene Klage hat das Sozialgericht Neuruppin mit Urteil vom 19. Dezember 2009 abgewiesen: Ein Kausalzusammenhang sei weder zwischen der Poliomyelitisimpfung und der Enzephalitis noch zwischen der Masernimpfung und der Enzephalitis wahrscheinlich. Maßgebend seien die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit. Diese verlangten hinsichtlich der Masern-Boosterung ein Auftreten der Enzephalitis im Zeitraum von 7-14 Tagen nach der Impfung, im Falle der Klägerin sei jedoch ein Abstand von 53 Tagen gegeben. Hinsichtlich der Poliomyelitisimpfung sei ein ursächlicher Zusammenhang dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und dem 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen worden sei. Auch diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Gegen dieses ihr am 22. Februar 2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. März 2010 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 2011 hat der Senat das vorliegende Verfahren, das die Folgen der Polio-Impfung betrifft, im Einverständnis der Beteiligten abgetrennt und das abgetrennte Verfahren zum Ruhen gebracht. In dem Verfahren, bezogen auf die Folgen der Masern-Schutzimpfung, hat der Senat nach Durchführung virologischer Ermittlungen mit Urteil vom 29. Oktober 2014 die Berufung zurückgewiesen, weil die Ursächlichkeit der Masern-Schutzimpfung für die gesundheitlichen Folgen der Klägerin nicht wahrscheinlich zu machen war. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Auf Antrag der Klägerin ist sodann das ruhende vorliegende Verfahren, bezogen auf die Folgen der Polio-Schutzimpfung, wieder aufgenommen worden.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. Dezember 2009 zu ändern sowie

1. den Bescheid des Beklagten vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 zu ändern und den Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 9. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1995 zu ändern,

2. festzustellen, dass der Hirnschaden mit Störungen des Bewegungsvermögens und der geistigen Entwicklung sowie Anfallsleiden Folge der Polio-Schutzimpfung vom 9. Januar 1989 ist.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise Prof. Dr. Breithaupt schriftlich zu hören

1. zur Erläuterung seiner Antwort zur Beweisfrage 4. Und

2. zur Frage, ob die Mittelohrentzündung der Klägerin vom 13. Februar 1989 als Ersatzursache für die Enzephalopathie in Betracht kommt.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Infektionsschutzgesetz - Anerkennung von Schädigungsfolgen einer Schutzimpfung
(Symbolfoto: diy13/Shutterstock.com)

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 14. September 2015 der Arzt für Innere Medizin und klinische Pharmakologie Prof. Dr. B ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, im Gegensatz zu der Einschätzung der Schweriner Bezirkskommission und der gutachterlichen Stellungnahme des Prof. Dr. O vom 9. März 1990 stehe die Poliomyelitis-Schutzimpfung mit der am 13. Februar 1989 begonnenen Enzephalopathie bzw. der am 24. Februar 1989 manifesten Enzephalopathie in einem wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang, weil die Inkubationszeit zwischen Impfung und Erkrankung in der Regel 10 bis 40 Tage betrage, das Intervall aber nach den Feststellung der Weltgesundheitsorganisation auch länger (maximal drei Monate) dauern könne. Der Einschätzung des Prof. Dr. O und der Schweriner Bezirkskommission vom 14. Mai 1990, dass die Möglichkeit einer Enterovirose als Ursache der Enzaphalopathie bestanden habe, könne nicht gefolgt werden, weil dies nicht in Übereinstimmung mit den festgestellten Blutwerten stehe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie hat in der Sache auch Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage hinsichtlich des Begehrens auf Feststellung der Schädigungsfolgen der Polio-Schutzimpfung abgewiesen, denn der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 zu; gleichzeitig war die aus dem Tenor ersichtliche Feststellung zu treffen.

Die Klägerin stützt ihren geltend gemachten Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Aufhebung des Bescheides vom 9. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1995 auf die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X). Soweit sich hiernach im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Diese Voraussetzungen haben sich im vorliegenden Verfahren zugunsten der Klägerin nachweisen lassen. Denn der Beklagte hat bei Erlass der vorgenannten Bescheide aus den Jahren 1993 und 1995 zum Teil einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt und deswegen insoweit das Recht unrichtig angewandt. Insbesondere hat der Beklagte zu Unrecht die Ursächlichkeit der Polio-Schutzimpfung der Klägerin vom 9. Januar 1989 für den bei der Klägerin eingetretenen Hirnschaden und dessen Folgen verneint.

Zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide aus dem Jahre 1993 und 1995 wurden die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche durch § 51 Abs. 1 Bundesseuchengesetz geregelt; mit Wirkung vom 1. Januar 2001 wurde diese Vorschrift durch § 60 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz abgelöst, die jedoch weitgehend wortlautgleich zur vorangegangenen Vorschrift des § 51 Abs. 1 Bundesseuchengesetz ist (hierzu im Einzelnen Bundessozialgericht, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VJ 1/10 R, juris, Randnummer 35). Hiernach wird durch das Gesetz für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen verlangt. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz – unter anderem zum Beispiel öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde – erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine sogenannte Impfkomplikation, sowie eine – dauerhafte – gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (im Einzelnen hierzu: Bundessozialgericht a. a. O., juris, Randnummer 36).

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Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist (Bundessozialgericht a. a. O., juris, Randnummer 37).

Dabei sind die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – im sogenannten Vollbeweis – festzustellen, während allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge das Beweismaß der Wahrscheinlichkeit ausreicht (Bundessozialgericht a. a. O., juris, Randnummer 38). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen. Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

Vorliegend steht für den Senat zweifelsfrei fest, dass die Klägerin am 9. Januar 1989 mit Lebendviren gegen Poliomyelitis geimpft wurde, dass es danach zu einer Primärschädigung in Gestalt einer Hirnhautentzündung kam und dass schließlich als Folge der Hirnhautentzündung ein Hirnschaden entstanden ist. Die Tatsache, dass hier Lebendviren verwendet wurden, ist zur Überzeugung des Senats durch die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen Prof. Dr. in seinem schriftlichen Sachverständigengutachten erwiesen. Sie steht zwischen den Beteiligten im Übrigen als solche auch nicht im Streit.

Auch hat sich der Kausalzusammenhang zwischen der Impfung mit Lebendviren einerseits und der späteren Hirnhautentzündung der Klägerin andererseits wahrscheinlich machen lassen. Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) anzuwenden und zu berücksichtigen (Bundessozialgericht a. a. O., juris, Randnummer 39). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts handelt es sich bei dem schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium erarbeiteten und ständig weiter entwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sogenannten antizipierte Sachverständigengutachten. Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm („normähnlich“). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar. Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln (Bundessozialgericht a. a. O., juris, Randnummer 39).

Die AHP enthalten in den verschiedenen Fassungen unter den Nummern 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr. 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr. 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

Die AHP 1996, 2004 und 2005 haben unter Teil C Nr. 57 2.a unter der Überschrift „Impfschäden“ insbesondere folgenden Wortlaut:

Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem dritten und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z. B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens könne nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

Da das Impfvirus von Geimpften ausgeschieden wird, kann es auf Kontaktpersonen übertragen werden und bei diesen – innerhalb von sieben bis 60 Tagen nach Einnahme der Vakzine durch den Geimpften – zu Impfreaktionen und gegebenenfalls Impfschäden führen.

Nach diesen vorgenannten Kriterien ist die Frage der Kausalität der Impfung am 9. Januar 1989 für die spätere Hirnhautentzündung der Klägerin durchaus als offen zu betrachten. Zwar ist die Entzündung nicht innerhalb des genannten Zeitraumes von drei bis 14 Tagen aufgetreten, doch haben die AHP dieses Kriterium nicht als abschließendes Ausschlusskriterium formuliert und lassen außerdem die Möglichkeit zu, dass die Klägerin durch Ausscheidungen anderer, mit ihr zeitgleich in der Kinderbetreuung geimpfte Kleinkinder infiziert worden sein könnte.

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen bei Schutzimpfungen in Nr. 57 der AHP bis 2005 sind allerdings Ende des Jahres 2006 aufgrund eines Beschlusses des ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (vgl. Bundessozialgericht a. a. O., juris, Randnummer 40):

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Die versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr. 11 Infektionsschutzgesetz und Nr. 56 Abs. 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kann-Versorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60f Infektionsschutzgesetz durchzuführen. Siehe dazu auch Nr. 35 bis 52 der AHP.

Die seit dem 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizinverordnung (VersmedV) ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indessen, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (Bundessozialgericht, a. a. O., juris, Randnummer 41). Anders als die AHP enthält die VersmedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, so dass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP aus dem Jahr 2008 zurückgegriffen werden muss oder weil Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten, genutzt werden müssen.

Nach diesen Maßstäben ist der Senat auch im vorliegen Fall verfahren. So hat der Senat zunächst das Epidemiologische Bulletin Nr. 25/2007 vom 22. Juni 2007 herangezogen. Allerdings enthält dieses nur Ausführungen der STIKO im Hinblick auf die Schutzimpfung gegen Poliomyelitis unter Verwendung von abgetöteten Viren, nicht jedoch von Lebendviren wie im vorliegenden Fall. Deshalb lässt sich den aktuellen STIKO-Empfehlungen keine Empfehlung im Hinblick auf die Bewertung des vorliegenden Sachverhalts entnehmen.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat das medizinische Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Breithaupt vom 14. September 2014 eingeholt. Danach steht für den Senat fest, dass nach jetzigem Stand der medizinischen Forschung das Intervall zwischen der Impfung am 9. Januar 1989 und dem Beginn der Hirnhautentzündung am 24. Februar 1989 dem in der medizinischen Fachliteratur angegebenen Zeitintervall zwischen Impfung und Enzephalopathie entspricht. Die bei der Klägerin aufgetretene Enzephalopathie entspricht der in der medizinischen Fachliteratur beschriebenen Enzephalopathie, für die als Auslöser neben viralen und bakteriellen Infektionen auch verschiedene Impfungen bekannt sind. Eine infektiöse oder sonstige Ursache der bei der Klägerin aufgetretenen Enzephalopathie konnte nicht gefunden werden. Im Fall der Klägerin kann nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation zwar nicht von einem gesicherten Ursachenzusammenhang zwischen der oralen Polio-Impfung und dem Auftreten einer Enzephalopathie gesprochen werden, jedoch von einem wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang.

Insbesondere hat der Sachverständige deutlich hervorgehoben, dass im Gegensatz zu der Schweriner Bezirkskommission vom 10. November 1989 und der gutachterlichen Stellungnahme des Prof. Dr. O vom 9. März 1990 die Poliomyelitis-Schutzimpfung vom 9. Januar 1989 sehr wohl mit der am 13. Februar 1989 begonnenen Enzephalopathie bzw. der am 24. Februar 1989 manifesten Enzephalopathie in einem wahrscheinlichen Zusammenhang steht, weil die Inkubationszeit zwischen Impfung und Erkrankung in der Regel zwischen 10 bis 40 Tage beträgt, das Intervall aber auch länger (maximal drei Monate) dauern kann; im vorliegenden Fall waren es 35 Tage bis zum Beginn und 46 Tage bis zur vollständigen Manifestation der Enzephalopathie.

Der Sachverständige hat insbesondere auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation nach der Impfung bis zu drei Monate dauern kann, bis es zu der postvakzinalen Enzephalitis kommt und dass nach den Kriterien der AHP die Impfpolioviren sieben bis 60 Tage nach der Vakzination im Stuhl der Geimpften ausgeschieden waren; bei der Klägerin waren die Impfpoliovieren Typ II nach 53 Tagen noch im Stuhl nachweisbar. Schließlich hat der Sachverständige auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Angabe des Prof. Dr. O vom 9. März 1990 und der Schweriner Bezirkskommission vom 14. Mai 1990, wonach die Möglichkeit einer Enteovirose als Ursache der Enzephalopathie bestanden habe, aufgrund der vorliegenden medizinischen Befunde nicht gefolgt werden kann.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat keine Zweifel, dass nach den jetzigen Erkenntnissen der modernen Wissenschaft und Forschung, insbesondere unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse der Weltgesundheitsorganisation, die bei der Klägerin aufgetretene Hirnhautentzündung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Impfung vom 9. Januar 1989 zurückgeführt werden kann.

Der Senat sah insoweit keine Veranlassung, dem Beweisantrag des Beklagten zu folgen und den Sachverständigen schriftlich zur Erläuterung seiner Antwort zur Beweisfrage 4. zu hören und zur Frage, ob die Mittelohrentzündung der Klägerin vom 13. Februar 1989 als Ersatzursache für die Enzephalopathie in Betracht kommt.

Zunächst weist der Senat darauf hin, dass es sich bei dem Antrag, den Sachverständigen schriftlich erneut zu befragen, nicht um einen Beweisantrag nach § 411 Abs. 3 Zivilprozessordnung handelt. Darüber hinaus sieht der Senat auch deshalb keine Veranlassung, den Sachverständigen erneut schriftlich zu befragen, weil der Sachverständige die aufgeworfenen Fragen in seinem schriftlichen Sachverständigengutachten bereits abschließend beantwortet hat. Eine Erläuterung seiner Antwort auf die Frage 4 ist nicht erforderlich. Zwar hat der Sachverständige hier ausgeführt, die bei der Klägerin festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen stünden mit der Polio-Impfung vom 9. Januar 1989 nicht in einem wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang; aus den weiteren Ausführungen im Gutachten geht jedoch zweifelsfrei hervor, dass der Sachverständige sich insoweit in einer Abgrenzung zum Vollbeweis befindet. Der Sachverständige hat im Gutachten an mehreren Stellen betont, dass der Vollbeweis des Ursachenzusammenhangs nicht zu führen sei, die Kausalität zwischen Impfung und Enzephalopathie jedoch überwiegend wahrscheinlich sei. Dem Senat ist nicht erkennbar, dass insoweit eine Erläuterung des Sachverständigen weitere Erkenntnisse zu Tage fördern könnte.

Soweit der Beklagte darüber hinaus eine schriftliche Befragung des Sachverständigen dazu anstrebt, ob die Mittelohrentzündung der Klägerin als Ersatzursache in Betracht komme, ist ebenfalls darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige diese Frage bereits schriftlich beantwortet hat. In seinem medizinischen Gutachten hat der Sachverständige ausdrücklich ausgeführt, dass eine infektiöse Ursache der bei der Klägerin aufgetretenen Enzephalopathie nicht habe gefunden werden können; dies schließt auch die Mittelohrentzündung der Klägerin mit ein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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