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Kindergarten – Aufsichtspflichtverletzung

BGH

Az.: III ZR 226/12

Urteil vom 13.12.2012


Leitsatz:

Beschädigen in einer Kindertagesstätte untergebrachte Kinder Eigentum Dritter, so kommt dem Geschädigten, der gegen eine Gemeinde als Trägerin der Kindertagesstätte wegen Verletzung der den Erzieherinnen der Kindertagesstätte obliegenden Aufsichtspflichten Amtshaftungsansprüche nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG geltend macht, die Beweislastregel des § 832 BGB zugute (BGH, Az.: III ZR 226/12, Urteil vom 13.12.2012).

Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.


Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 21. Juni 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger nimmt die beklagte Stadt als Träger einer Kindertagesstätte wegen Lackschäden an seinem Fahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

Der Kläger parkte sein Fahrzeug am 22. Juni 2010 im Eingangsbereich eines Schulgebäudes, in dem er – als Inhaber eines Sanitärunternehmens – einen Wasserschaden beseitigte. In dem Schulgebäude befindet sich auch eine Kindertagesstätte, deren 20 x 25 Meter großer Außenbereich mit einem Gittermattenzaun aus Metall eingezäunt ist.

Am Schadenstag war eine aus acht Kindern bestehende Gruppe der Tagesstätte unter der Leitung einer Erzieherin mit Gartenarbeiten beschäftigt. Drei Kinder dieser Gruppe entfernten sich und warfen mehrere Kieselsteine, die als Ziersteine um das Gebäude der Tagesstätte lagen, auf das Fahrzeug des Klägers, das etwa zwei Meter von dem Außenbereich der Tagesstätte entfernt parkte.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die beklagte Stadt hafte für die an seinem Fahrzeug durch den Steinwurf entstandenen Lackschäden wegen Verletzung der Aufsichtspflicht seitens der Erzieherinnen der Kindertagesstätte. Soweit die als Zeuginnen vernommenen Erzieherinnen nichts Näheres zur Wahrnehmung der ihnen obliegenden Aufsichtspflicht bekundet hätten, gehe dies zu Lasten der Beklagten.

Die beklagte Stadt hat die Auffassung vertreten, die Bediensteten der Kindertagesstätte hätten ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt. Eine ständige Überwachung der Kinder „auf Schritt und Tritt“ könne nicht verlangt werden.

Das Landgericht hat – nach Beweisaufnahme – die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil auf die Berufung des Klägers abgeändert und die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 1.125,58 € verurteilt. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

I.

Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers gemäß § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG bejaht. Die Erzieherinnen der Kindertagesstätte seien in Ausübung eines öffentlichen Amts tätig geworden. Die ihnen im Hinblick auf die ihnen anvertrauten Kleinkinder obliegende Aufsichtspflicht bezwecke auch den Schutz Dritter vor aufgrund kindlichen Verhaltens drohenden Gefahren. Diese Aufsichtspflicht hätten die Erzieherinnen bei der Aufsicht über die am 22. Juni 2010 sich im Außenbereich der Tagesstätte aufhaltenden Kinder verletzt.

Das Spielverhalten der Kinder sei in regelmäßigen Abständen von wenigen Minuten zu kontrollieren gewesen. Letztlich bleibe ungeklärt, ob und inwieweit die für die Kinderbetreuung verantwortlichen Erzieherinnen ihre Aufsichtspflicht konkret erfüllt hätten. Hierfür sowie für die Kausalität der Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden und für das Verschulden treffe die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast. Insoweit sei – entgegen einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. März 1954 (III ZR 333/52, BGHZ 13, 25) – der Auffassung zu folgen, die eine Anwendung der Beweislastumkehr nach § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB auch bei öffentlich-rechtlichen Aufsichtsverhältnissen befürworte. Ein überzeugender Grund für eine rechtliche Ungleichbehandlung des Geschädigten je nach der Natur der Aufsichtspflicht sei nicht ersichtlich.

Den somit ihr entsprechend § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB obliegenden Entlastungsbeweis habe die Beklagte nicht erbracht. Das Ergebnis der Beweisaufnahme trage nicht die Behauptung der Beklagten, die zuständige Erzieherin habe regelmäßig nach den Kindern der Gruppe geschaut.

II.

Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.

1. Zu Recht und mit zutreffender Begründung ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Erzieherinnen der in öffentlicher Trägerschaft stehenden Kindertagesstätte in Ausübung eines öffentlichen Amtes tätig waren und sich die Haftung der beklagten Stadt daher nach Amtshaftungsgrundsätzen gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG beurteilt. Dies wird von der Revision auch nicht in Frage gestellt.

2. Zutreffend hat das Berufungsgericht des Weiteren den Umfang und den Inhalt der den Erzieherinnen der Kindertagesstätte – auch zum Schutz Dritter (vgl. Senat, Urteil vom 15. März 1954 – III ZR 333/52, BGHZ 13, 25, 26 zur Aufsichtspflicht beamteter Lehrer; OLG Düsseldorf, VersR 1996, 710; Staudinger/Belling [2012], BGB, § 832 Rn. 24) – obliegenden Aufsichtspflicht bestimmt. Maßgeblich sind stets die Umstände des Einzelfalls, insbesondere Alter, Eigenart und Charakter der Aufsichtsbedürftigen, das örtliche Umfeld, das Ausmaß der drohenden Gefahren, die Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens sowie die Zumutbarkeit der Aufsichtsmaßnahme für den Aufsichtspflichtigen (BGH, Urteile vom 10. Juli 1984 – VI ZR 273/82, NJW 1984, 2574, 2575; vom 7. Juli 1987 – VI ZR 176/86, NJW-RR 1987, 1430, 1431 und vom 24. März 2009 – VI ZR 199/08, NJW 2009, 1954 Rn. 8; OLG Düsseldorf aaO; Staudinger/Belling aaO Rn. 65 ff; Spindler in Beck OK [2012], BGB, § 832 Rn. 19 ff). Danach waren vorliegend die Kleinkinder der von der Zeugin K. betreuten Gruppe zwar nicht „auf Schritt und Tritt“, aber doch in kurzen Abständen regelmäßig zu kontrollieren (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2009 – VI ZR 51/08, VersR 2009, 788, 789 mwN; OLG Köln, MDR 1999, 997 f; OLG Düsseldorf aaO S. 711). Dies gilt auch deshalb, weil es aufgrund der Lage des Außengeländes der Tagesstätte und der konkreten Tätigkeit der Kinder dieser Gruppe (Gartenarbeiten unter Zuhilfenahme von Gartengeräten) nicht ausgeschlossen erschien, dass die Kinder selbst oder Dritte in Folge kindlichen Spiels und gruppendynamischer Prozesse gefährdet werden konnten.

Gegen das auf diese Weise bestimmte Maß der Aufsicht erhebt auch die Revision keine Einwände.

3. a) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Feststellung des Berufungsgerichts, es bleibe letztlich ungeklärt, ob und inwieweit die für die Kinderbetreuung auf dem Freigelände der Kindertagesstätte verantwortlichen Erzieherinnen, namentlich die Zeugin K. , ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen seien.

Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung wahr oder nicht wahr ist. Diese Würdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich überprüfen, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen und die Grenzen des § 286 ZPO gewahrt hat. Damit unterliegt der Nachprüfung nur, ob sich der Tatrichter mit dem Prozessstoff und den etwaigen Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denk- und Erfahrungssätze verstößt (vgl. nur Senat, Urteile vom 19. Juni 2008 – III ZR 46/06, NJW-RR 2008, 1484 Rn. 22 und vom 5. November 2009 – III ZR 6/09, NJW 2010, 1456 Rn. 8, jeweils mwN).

Bei Anwendung dieses revisionsrechtlichen Maßstabes bestehen gegen die Würdigung des Berufungsgerichts, nach dem vom Landgericht gefundenen Beweisergebnis verblieben zumindest Restzweifel, ob die Erzieherinnen ihrer Aufsichtspflicht hinreichend nachgekommen seien, keine Bedenken. Die Beweisaufnahme hat insbesondere nicht ergeben, welche Kontrollmaßnahmen in welchen zeitlichen Abständen die Zeugin K. hinsichtlich der Gruppe, die ihrer Aufsicht unterlag und aus der die Kinder stammten, die das Fahrzeug des Klägers mit Steinen beworfen haben, ergriffen hat. Zwar ist der Umstand, dass die Zeugin den Steinwurf und das von ihm erzeugte Aufprallgeräusch nicht mitbekommen hat, in Bezug auf die hinreichende Wahrnehmung ihrer Aufsichtspflicht unergiebig, da die Wurfstelle nach den Feststellungen des Berufungsgerichts 10 beziehungsweise 20 bis 25 Meter von der zu beaufsichtigenden Gruppe entfernt war und Kinderlärm das Aufprallgeräusch überdeckt haben mag. Der Umstand, dass sich drei Kinder und damit ein ganz erheblicher Teil der von ihr zu beaufsichtigenden Gruppe von den Gartenarbeiten entfernt hatten, konnte der Zeugin jedoch bei Beobachtung der ihr obliegenden Aufsichtspflicht nicht über einen längeren Zeitraum verborgen geblieben sein.

Gleichermaßen ist nicht festgestellt, ob eine – unterstellte – Aufsichtspflichtverletzung der Zeugin K. ursächlich für den Schaden des Klägers geworden ist. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass es den drei Kindern auch bei einer im Abstand von wenigen Minuten erfolgenden und damit hinreichenden Kontrolle durch die Zeugin hätte gelingen können, unbeobachtet Steine aufzusammeln, sich von der Gruppe für kurze Zeit zu entfernen und die Steine auf das Fahrzeug des Klägers zu werfen.

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b) Damit ist vorliegend – wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat – die Frage der Darlegungs- und Beweislast für die Erfüllung der Aufsichtspflicht und die Ursächlichkeit einer etwaigen Aufsichtspflichtverletzung für den Schaden des Klägers von entscheidender Bedeutung. Fraglich ist insbesondere, ob die Beweislastregel des § 832 BGB im Rahmen der Amtshaftung nach § 839 BGB anwendbar ist. Dies ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten:

aa) Der Senat hat in einer älteren Entscheidung (Urteil vom 15. März 1954 – III ZR 333/52, BGHZ 13, 25, 27 f) eine Anwendung des § 832 BGB und des dort geregelten Entschuldigungsbeweises bei einem Zusammentreffen mit einem Anspruch aus § 839 BGB abgelehnt (so auch OLG Düsseldorf VersR 1996, 710; OLG Dresden, NJW-RR 1997, 857, 858; OLG Hamburg, OLGR 1999, 190, 191; OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. März 2006 – 12 U 298/05, Juris Rn. 18 ff; Staudinger/Wöstmann [2013], BGB, § 839 Rn. 780; MünchKommBGB/Wagner, 5. Aufl., § 839 Rn. 6, 12; Palandt/Sprau, BGB, 71. Aufl., § 832 Rn. 3, § 839 Rn. 3; NK-BGB/Katzenmeier, 2. Aufl. § 832 Rn. 6; Oberhardt, Die Aufsichtspflicht öffentlicher Einrichtungen nach § 832 BGB – im Spannungsfeld zur Amtshaftung, 2010, S. 291 ff). Die Haftung des Beamten sei in § 839 BGB abschließend und selbständig in dem Sinn geregelt, dass neben diesen Vorschriften die Bestimmungen in §§ 823 ff BGB über die allgemeine Deliktshaftung keine Anwendung finden könnten (so auch OLG Düsseldorf; OLG Karlsruhe, jew. aaO; zur methodischen Begründung vgl. Oberhardt aaO S. 311 ff). Das gelte auch für die Bestimmungen in § 832 BGB, die nicht nur eine Beweisregel enthielten, sondern einen selbständigen Deliktstatbestand schafften. Es sei zwar nicht zu verkennen, dass danach der beamtete Aufsichtspflichtige günstiger gestellt sei als der allgemeine Aufsichtspflichtige, der nach § 832 BGB den Entschuldigungsbeweis führen müsse. Eine solche Begünstigung von fahrlässig ihre Amtspflicht verletzenden Beamten sei aber auch sonst dem Gesetz nicht fremd, wie sich aus § 839 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3 BGB ergebe. Andererseits könne eine Verpflichtung zum Schadensersatz aus § 839 BGB auch dann begründet sein, wenn einer der sonstigen Deliktstatbestände nicht oder nicht voll verwirklicht sei. Soweit es sich um Ausübung öffentlicher Gewalt handele, komme dem Geschädigten überdies zugute, dass er sich an den Staat halten könne, statt an den möglicherweise nicht leistungsfähigen Beamten (Senat aaO).

Ergänzend wird angeführt, für eine analoge Anwendung der Beweislastregel des § 832 BGB fehle es an den Analogievoraussetzungen der Rechtsähnlichkeit und der planwidrigen Regelungslücke (Oberhardt aaO S. 315). Einer Übertragung der Beweislastregel des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB auf den Amtshaftungsanspruch bedürfe es im Übrigen auch deshalb nicht, weil mit Hilfe der flexiblen, im Bereich des Amtshaftungsanspruchs bestehenden Instrumentarien der Beweiserleichterung etwaige Beweisschwierigkeiten bei einer möglichen Unbilligkeit interessengerecht gelöst werden könnten (Oberhardt aaO S. 303 ff, 324).

bb) Nach anderer Auffassung, der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat, soll die in § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB bestimmte Beweislast auch bei öffentlich-rechtlichen Aufsichtsverhältnissen Anwendung finden (OLG Köln MDR 1999, 997, 998; Marburger, VersR 1971, 777, 788; Mertens, MDR 1999, 998; Staudinger/Belling [2012], BGB, § 832 Rn. 211; Soergel/Krause [2005], BGB, § 832 Rn. 19; Spindler in Bamberger/Roth, BGB, 3. Aufl., § 832 Rn. 3; Schaub in Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 7. Aufl., § 832 Rn. 2; Ansgar Staudinger in Hk-BGB, 7. Aufl., § 832 Rn. 4; Geigel/Kapsa, Haftpflichtprozess, 26. Aufl., 20. Kap. Rn. 251; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 12 Rn. 13; so wohl auch Moritz in JurisPK [2012], BGB, § 832 Rn. 10 f). Es könne keinen Unterschied machen, ob eine bestehende Aufsichtspflicht sich als Amtspflicht darstelle oder nicht (so in einem vergleichbaren Fall OLG Köln aaO: „konkret also, ob die Steine vom Gelände eines städtischen Kindergartens oder eines Kindergartens in freier Trägerschaft geworfen wurden.“). Nach neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs würden zudem sowohl bei der Haftung für Tiere als auch bei der Haftung für den Zustand von Gebäuden die Beweislastregeln des § 833 Satz 2 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 1972 – III ZR 32/70, VersR 1972, 1047) beziehungsweise des § 836 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 5. April 1990 – III ZR 4/89, NJW-RR 1990, 1500, 1501) im Rahmen des § 839 BGB entsprechend herangezogen. Ein plausibler Grund, warum für § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB etwas anderes gelten solle, sei nicht zu erkennen (OLG Köln; Staudinger/Belling; Ansgar Staudinger; Mertens, jew. aaO; Marburger aaO S. 788). Auch die Aufsichtspflicht nach § 832 BGB regele – wie § 836 BGB – nur einen Unterfall der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, da auch sie der Verhinderung von Schäden an Rechtsgütern Dritter infolge einer „Verkehrseröffnung“ diene (Mertens aaO S. 998 f). Zudem finde im Fall der Aufsichtspflicht die Beweislastumkehr ihren Grund darin, dass dem Geschädigten regelmäßig der Nachweis der Aufsichtspflichtverletzung ohne Einblick in die internen Vorgänge beim Verpflichteten nicht möglich sein werde (Staudinger/Belling aaO; Mertens aaO S. 999; Spindler; Moritz, jew. aaO; Marburger aaO S. 788). Es entspreche dem Wesen der Aufsichtspflicht als einer gesetzlichen Pflicht gegenüber dem Geschädigten, dass der Pflichtige Rechenschaft darüber ablege, was er zur Erfüllung seiner Pflicht getan habe (Staudinger/Belling aaO). Diese ratio greife unabhängig davon, ob die Aufsichtspflicht dem Pflichtigen aufgrund eines privatrechtlichen Rechtsverhältnisses oder als Amtspflicht obliege (Mertens aaO). Der zur Begründung der Nichtanwendbarkeit der Beweislastregel des § 832 BGB herangezogene Verweis auf die gesetzlichen Haftungsprivilegien des seine Amtspflicht verletzenden Organwalters (§ 839 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, 3 BGB) trage nicht, weil diese sämtlich auf anderen Erwägungen beruhten als solchen, die für die Verteilung der Beweislast maßgeblich seien (Mertens aaO). Auch lasse die Tatsache, dass der Kreis der Amtspflichten weiter reiche als das Verbot, die durch §§ 823 ff BGB geschützten Güter zu verletzen, keinen Schluss darauf zu, dass der Geschädigte auf anderem Gebiet (beweismäßig) schlechter zu stellen sei (Mertens aaO). Schließlich habe das Argument, dem Geschädigten einer Amtspflichtverletzung stehe ein leistungsfähiger Schuldner gegenüber, in anderen Fällen der Beweislastumkehr die Rechtsprechung zu Recht nicht davon abgehalten, auch diese auf die haftende Körperschaft überzuleiten. Die Frage, wer hafte, habe mit der Frage, wer welche Haftungsvoraussetzungen darlegen und beweisen müsse, nichts zu tun (Mertens aaO).

cc) Der Senat schließt sich – unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (Urteil vom 15. März 1954, aaO) – der zuletzt genannten Auffassung an. Die Beweislastregel des § 832 BGB gilt auch im Rahmen der Haftung für die Verletzung der öffentlich-rechtlichen Aufsichtspflicht nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG.

Die den Bediensteten einer Kindertagesstätte obliegende Aufsichtspflicht über die ihnen anvertrauten Kinder ist, soweit sie der Vermeidung von Schäden Dritter dient, eine besondere Ausprägung der Verkehrssicherungspflichten, wie sie allgemein von der Grundnorm des § 823 BGB erfasst werden. Im Bereich der privatrechtlichen Haftung ist sie in § 832 BGB geregelt, der im Rahmen der §§ 823 ff BGB einen eigenständigen Haftungstatbestand bildet (Staudinger/Belling aaO Rn. 2 mwN). Zwar ist für eine unmittelbare Anwendung der deliktsrechtlichen Haftungstatbestände der §§ 823 ff BGB im Fall von Amtspflichtverletzungen grundsätzlich kein Raum, weil § 839 BGB insofern einen Sondertatbestand darstellt (Senat, Urteil vom 5. April 1990 – III ZR 4/89, NJW-RR 1990, 1500, 1501). Dies bedeutet indes nicht, dass die besonderen Beweislastregeln der §§ 832, 833 Satz 2 und § 836 BGB im Rahmen der Amtshaftung keine Anwendung finden können. Verdrängt werden durch den Sondertatbestand des § 839 BGB lediglich die Haftungstatbestände der §§ 823 ff BGB als solche, nicht hingegen die in ihnen enthaltenen besonderen Beweislastregeln (vgl. Senat aaO zur Anwendbarkeit von § 836 BGB sowie Urteil vom 26. Juni 1972 – III ZR 32/70, VersR 1972, 1047, 1048 zur Anwendbarkeit der Beweislastregel des § 833 Satz 2 BGB).

Soweit demgegenüber in der Entscheidung des Senats vom 15. März 1954 (aaO) die Nichtanwendbarkeit der in § 832 BGB enthaltenen Beweislastregel im Bereich der Amtshaftung angenommen wird, hält der Senat hieran nicht mehr fest. Der dort zur Begründung herangezogene Normcharakter des § 832 BGB als selbständiger Deliktstatbestand ist für die Anwendbarkeit der in ihm zugleich enthaltenen Beweislastregel im Rahmen der Amtshaftung nicht von entscheidender Bedeutung. Insbesondere hat die Verdrängung des Haftungstatbestandes des § 832 BGB durch den Sondertatbestand des § 839 BGB nicht zwingend zur Folge, dass die in § 832 BGB enthaltenen Beweislastregel zu vernachlässigen wäre. Letztere ist hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit im Bereich der Amtshaftung vielmehr getrennt zu betrachten. Ein Grund, sie insoweit anders zu behandeln als die – ebenfalls eine Vermutung mit Möglichkeit des Entlastungsbeweises enthaltenden – Beweislastregeln des § 833 Satz 2 und des § 836 BGB, ist nicht erkennbar. Die Anwendung der Beweislastregel des § 832 BGB stellt auch nicht die grundsätzliche Ausgestaltung der gesetzlichen Amtshaftung als Haftung für Verschulden in Frage. Letzteres wird lediglich vermutet, nicht aber als Haftungsvoraussetzung derogiert.

Die Geltung der Beweislastregel des § 832 BGB im Bereich der Amtshaftung ist sachlich gerechtfertigt. Für eine Haftung für eine vermutete Aufsichtspflichtverletzung sprechen dort dieselben Gründe wie im Bereich der privatrechtlichen Haftung (Mertens aaO S. 999). Es entspricht dem Wesen der Aufsichtspflicht als einer gesetzlichen Pflicht gegenüber dem Geschädigten, dass der Pflichtige Rechenschaft darüber ablegt, was er zur Erfüllung seiner Pflicht getan hat (Staudinger/Belling aaO Rn. 211 unter Hinweis auf Prot II 595). Dagegen ist dem Geschädigten der Nachweis der Aufsichtspflichtverletzung häufig nicht möglich, da er regelmäßig nicht weiß, welche konkreten Maßnahmen zur Erfüllung der Aufsichtspflicht im Einzelfall ergriffen beziehungsweise unterlassen wurden. Die sonst im Bereich der Amtshaftung bis hin zum Anscheinsbeweis geltenden Beweiserleichterungen helfen ihm insoweit nicht, da sie eine Amtspflichtverletzung – hier: eine Aufsichtspflichtverletzung – gerade voraussetzen (vgl. etwa Senat, Urteil vom 21. Oktober 2004 – III ZR 254/03, VersR 2005, 1079, 1082 f). Vor der Beweisnot, in die er geriete, wenn er eine Aufsichtspflichtverletzung der Erzieherinnen nachzuweisen hätte, vermag ihn daher nur die Vermutung gemäß § 832 BGB zu bewahren.

Gegen eine Anwendung der Beweislastregel des § 832 BGB im Bereich der Amtshaftung können schließlich nicht die in § 839 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3 BGB bestimmten gesetzlichen Haftungsprivilegien des Amtsträgers angeführt werden. Sie weisen nach Inhalt und Grund keinen Zusammenhang mit der Beweislastregel des § 832 BGB auf (vgl. Mertens aaO). Auch kann mit ihnen nicht eine generelle Haftungsprivilegierung des Amtsträgers gerechtfertigt werden unabhängig von deren Anwendungsbereich und sachlicher Berechtigung.

Nach alledem ist kein überzeugender Grund für eine unterschiedliche Ausgestaltung der Beweislast danach ersichtlich, ob die (im Übrigen inhaltsgleiche) Aufsichtspflicht dem Betreffenden als Amtspflicht oder als privatrechtliche Pflicht obliegt. Die in § 832 BGB enthaltene Beweislastregel ist gleichermaßen in beiden Konstellationen anwendbar.

4. Anhaltspunkte für ein Mitverschulden des Klägers ergeben sich entgegen der Auffassung der Revision weder aus den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts noch aus dem Sachvortrag der Beklagten.

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