Bundesfinanzhof
Az: III R 103/06
Urteil vom 10.05.2007
Gründe:
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erhielt für seinen im Jahr 1977 geborenen Sohn Kindergeld.
Mit Bescheid vom 17. Juni 2003 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2003 auf, weil der Sohn voraussichtlich Einkünfte und Bezüge von mehr als 7 188 EUR im Jahr 2003 habe (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes –EStG– in der für das Jahr 2003 geltenden Fassung). Die Familienkasse ging dabei von Einkünften in Höhe von 10 556 EUR aus (Bruttoarbeitslohn in Höhe von 11 600 EUR abzüglich Arbeitnehmer-Pauschbetrag in Höhe von 1 044 EUR). Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Am 26. Mai 2004 beantragte der Kläger unter Vorlage des Einkommensteuerbescheids des Sohnes für das Jahr 2003 erneut Kindergeld für das Jahr 2003, da das zu versteuernde Einkommen des Sohnes danach lediglich 4 271 EUR betrage. In dem Einkommensteuerbescheid 2003 waren Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 7 293 EUR (Bruttoarbeitslohn in Höhe von 12 498 EUR abzüglich Werbungskosten in Höhe von 5 205 EUR) und Einkünfte aus Kapitalvermögen von 0 EUR (Einnahmen in Höhe von 421 EUR abzüglich des Werbungskostenpauschbetrags in Höhe von 51 EUR und des Sparer-Freibetrags in Höhe von 370 EUR) angesetzt. Die Familienkasse ermittelte daraufhin –ohne Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge– Einkünfte des Sohnes in Höhe von 8 449,80 EUR (Bruttoarbeitslohn in Höhe von 12 498 EUR abzüglich Werbungskosten in Höhe von 4 238,20 EUR zuzüglich Kapitaleinkünfte in Höhe von 190 EUR). Mit Bescheid vom 16. November 2004 lehnte die Familienkasse den Antrag ab, da die Einkünfte und Bezüge des Sohnes im Jahr 2003 weiterhin den maßgeblichen Grenzbetrag überstiegen.
Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein. Die Familienkasse half dem Einspruch mit Bescheid vom 28. Juni 2005 insoweit ab, als sie Kindergeld für die Monate Juli bis Dezember 2003 festsetzte, da die Einkünfte und Bezüge des Sohnes nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 2 588 EUR den Jahresgrenzbetrag nicht überschritten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte mit Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) entschieden, die Sozialversicherungsbeiträge dürften nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden. Im Übrigen wies die Familienkasse den Einspruch des Klägers zurück. Einer Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis Juni 2003 stehe die Bestandskraft des Bescheids vom 17. Juni 2003 entgegen; eine Korrektur dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG sei nicht möglich.
Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom 16. November 2004 und der Einspruchsentscheidung, dem Kläger für die Monate Januar bis Juni 2003 Kindergeld zu gewähren. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 752 veröffentlicht.
Mit ihrer Revision rügte die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
Nach zutreffender Entscheidung des FG ist dem Kläger für die Monate Januar bis Juni 2003 Kindergeld zu gewähren.
1. Der Kläger hat für das Jahr 2003 Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird ein volljähriges Kind –neben weiteren, hier nicht streitigen Voraussetzungen– für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7 188 EUR im Kalenderjahr (2003) hat. Im Streitfall überschreiten die Einkünfte und Bezüge des Sohnes im Jahr 2003 nach Abzug der unstreitigen Werbungskosten in Höhe von 4 238,20 EUR und der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 2 588 EUR (vgl. hierzu Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) nicht den Grenzbetrag.
2. Der Bescheid vom 17. Juni 2003, mit welchem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2003 aufgehoben hat, ist nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben.
a) Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG über- oder unterschreiten. Die gesetzliche Formulierung ist insoweit ungenau, als der Kindergeldanspruch nicht davon abhängt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag unterschreiten, sondern dass sie ihn nicht überschreiten (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).
b) Unter Kindergeldfestsetzung ist nicht nur ein Bescheid zu verstehen, mit dem Kindergeld festgesetzt wird, sondern auch ein Bescheid, mit dem ein Antrag auf Kindergeld abgelehnt oder –wie im Streitfall– eine Kindergeldfestsetzung aufgehoben wird (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338, m.w.N.).
c) § 70 Abs. 4 EStG setzt voraus, dass die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder –wie im Streitfall– während des fraglichen Kalenderjahres als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204).
d) Das nachträgliche Bekanntwerden vom Überschreiten oder Nichtüberschreiten des Jahresgrenzbetrags bezieht sich auf von der Prognose abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge, nicht aber auf Änderungen, die auf nachträglich ergangener Rechtsprechung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruhen, wie z.B. der Abziehbarkeit der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften des Kindes (Senatsurteil in BFH/NV 2007, 338).
Im Streitfall haben sich zugunsten des Klägers tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben. Die Familienkasse ging bei Erlass des Aufhebungsbescheids vom 17. Juni 2003 davon aus, dass die Werbungskosten des Sohnes den Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1 044 EUR (vgl. § 9a Satz 1 Nr. 1 EStG i.d.F. für das Jahr 2003) nicht übersteigen. Nach Ablauf des Jahres 2003 ist der Familienkasse bekannt geworden, dass die Werbungskosten jedenfalls –in dieser Höhe sind die Werbungskosten unstreitig– 4 238,20 EUR betragen. Unerheblich ist, ob der Kläger die tatsächliche Entwicklung der Werbungskosten seines Sohnes bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungsbescheids vom 17. Juni 2003 absehen konnte. Bei der Prüfung des nachträglichen Bekanntwerdens ist auf die Kenntnis der Familienkasse abzustellen (so zutreffend Felix in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 70 Rz E 4).
Der Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG steht im Streitfall nicht entgegen, dass der Grenzbetrag nur dann nicht überschritten ist, wenn zusätzlich zu den höheren Werbungskosten auch –entsprechend der geänderten Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (vgl. hierzu Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260)– die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge von den Einkünften des Kindes abgezogen werden. Insofern ist keine einschränkende Auslegung des § 70 Abs. 4 EStG geboten, weil das nachträgliche Bekanntwerden des Nichtüberschreitens des Jahresgrenzbetrags nicht auf einer unzutreffenden Behandlung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge beruht. Ist aber der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG eröffnet, hat die Familienkasse die zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung geltende Sach- und Rechtslage und damit den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 zu beachten.
Für die Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 EStG ist im Streitfall maßgeblich, dass die von der Familienkasse während des Kalenderjahres prognostizierten Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag auch bei einem Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge überschritten haben. Der Aufhebungsbescheid der Familienkasse war somit rechtmäßig. Das Nichtüberschreiten des Grenzbetrags nach Jahresablauf beruht mithin nicht auf einem materiellen Fehler der Familienkasse, sondern auf tatsächlichen Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge. Die Aufhebung des Bescheids vom 17. Juni 2003 entspricht daher dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG, die Korrektur von Kindergeldbescheiden nach Ablauf des Kalenderjahres sicherzustellen, wenn die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren Prognoseentscheidung der Familienkasse überschreiten oder nicht überschreiten (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2007, 338). Auch steht dessen Aufhebung nicht im Widerspruch zu § 70 Abs. 3 Satz 2 EStG, nach dem materielle Fehler nur mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder Aufhebung folgenden Monat korrigiert werden können, da die Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG –wie ausgeführt– im Streitfall nicht zur rückwirkenden Berichtigung eines materiellen Fehlers der Familienkasse führt.
Anders wäre der Streitfall hingegen zu beurteilen, wenn die prognostizierten Einkünfte und Bezüge des Kindes im Jahr 2003 bei Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge innerhalb des Jahresgrenzbetrags gelegen hätten. Denn dann hätten die nach Ablauf des Jahres der Familienkasse bekannt gewordenen erhöhten Werbungskosten allein nicht dazu geführt, dass der Grenzbetrag unterschritten wird. In diesem Fall würde eine Aufhebung nach § 70 Abs. 4 EStG im Ergebnis dazu führen, dass ein materieller Fehler der Familienkasse (Nichtberücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge) rückwirkend berichtigt wird. Dies widerspräche jedoch dem Zweck des § 70 Abs. 4 EStG und der gesetzgeberischen Wertung in § 70 Abs. 3 Satz 2 EStG.
Die Korrektur im Streitfall nach § 70 Abs. 4 EStG steht ferner im Einklang mit dem Urteil des Senats in BFH/NV 2007, 338, nach dem § 70 Abs. 4 EStG nicht anwendbar ist, wenn die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nur deshalb nicht überschreiten, weil aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nach Erlass des bestandskräftigen Kindergeldbescheids abweichend von der bisherigen Rechtsauffassung (vgl. BFH-Urteil vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584, m.w.N.) die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes von den Einkünften abzurechnen sind. In dem dort entschiedenen Fall hatten sich nach Ablauf des Kalenderjahres keine tatsächlichen Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben. Vielmehr lagen die prognostizierten Einkünfte und Bezüge des Kindes nur bei einem Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge unter dem Grenzbetrag. Die Familienkasse hatte die Kindergeldfestsetzung aufgehoben, weil sie –aufgrund unzutreffender Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG– davon ausging, dass die Sozialversicherungsbeiträge nicht von den Einkünften des Kindes abzuziehen seien und deshalb Jahresgrenzbetrag überschritten war. Das nachträgliche Bekanntwerden des Nichtüberschreitens des Jahresgrenzbetrags beruhte demnach allein auf einer unzutreffenden Behandlung der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge und damit einem materiellen Fehler des Aufhebungsbescheids.