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Sozialhilfe: Beihilfe für Klassenfahrt – 454 Euro noch angemessen?

VG Lüneburg

Az.: 6 B 114/03

Bescheid vom 19.06.2003


Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners, die Kosten einer „Kunstfahrt“ der von ihr besuchten 12. Klasse der R Schule Lüneburg nach Vico Equense/Italien aus Mitteln der Sozialhilfe zu übernehmen.
Die am 23. Februar 1985 geborene Antragstellerin beantragte beim Antragsgegner im Januar 2003 Hilfe zum Lebensunterhalt, da sie zur Schule ging und ihr von der Mutter getrennt lebender Vater keinen Unterhalt zahlte. Bei der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt rechnete der Antragsgegner bei ihr lediglich Kinder- und Wohngeld an.

Am 21. Mai 2003 beantragte die Antragstellerin die Übernahme der Kosten für eine Klassenfahrt nach Italien, da es nicht möglich sei, von anderer Seite noch Zuschüsse zu erhalten und sie einen solchen Betrag nicht finanzieren könne. Sie bitte darum, die einen ihr zustehenden Zuschuss übersteigenden Kosten als Darlehen zu übernehmen, das sie ab Juli in monatlichen Raten von 100 EUR tilgen könne. Die Klassenfahrt solle vom 22. Juni bis zum 3. Juli 2003 stattfinden.

Nachdem der Antragsgegner sie darauf hingewiesen hatte, dass er nur bereit sei, einen Betrag von 205 EUR zu übernehmen, teilte die Antragstellerin ihm am 2. Juni 2003 mit, die Kosten für die Fahrt hätten um mehr als 100 EUR gesenkt werden können, so dass der Betrag für eine 12-tägige Italienfahrt keineswegs unangemessen sei. Es handele sich um eine Studienfahrt im Rahmen des Kunstunterrichtes, bei der sie sogar verpflichtet mitsei zufahren.
Mit Bescheid vom 4. Juni 2003 bewillige der Antragsgegner eine Beihilfe in Höhe von 205 EUR, die er an die Schule auszahlte.
Am 6. Juni erhielt der Antragsgegner eine Bescheinigung der Schule nach der sich die Gesamtkosten in Höhe von nunmehr 454 EUR wie folgt zusammensetzten:
Flug 140 EUR, Wohnen 234 EUR, Nahverkehr 35 EUR, Ausflüge 30 EUR, Eintritte 15 EUR.
Am 11. Juni legte die Antragstellerin Widerspruch ein und beantragte zugleich, die vollen Kosten als Zuschuss aus Mitteln der Sozialhilfe zu übernehmen.

Am 13. Juni 2003 hat sich die Antragstellerin an das Gericht gewandt.
Sie trägt ergänzend vor, sie lebe derzeit mit ihrer Mutter und einer minderjährigen Schwester zusammen. Ihre Schwester und sie selbst erhielten seit Jahren Hilfe zum Lebensunterhalt. Ihre Mutter studiere derzeit und erhalte BaföG-Leistungen; ihr Vater sei Landwirtschaftsmeister und mache eine vom Arbeitsamt geförderte Ausbildung zum Sozialtherapeuten. Er zahle seit der Scheidung nur geringen Unterhalt.

Die Antragstellerin beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die kosten für ihre Klassenfahrt nach Italien in voller Höhe zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen. Er trägt vor, die Kosten in Höhe von 454 EUR seien unangemessen hoch. Nach Auskunft seines Fachdienstes sei dort noch keine Klassenfahrt zu derartigen Kosten bekannt geworden. Die Antragstellerin habe auch für diese Reise Geld ansparen können, da sie sicherlich langfristig geplant worden sei. Ein Darlehen nach § 15 a BSHG sei nicht möglich, da keine besondere Notlage im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.
Am 17. Juni 2003 hat die Antragstellerin auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt, dass ihr von der Schule ein Zuschuss von 91 EUR bewilligt werde.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten des Antragsgegners sowie der Gerichtsakten Bezug genommen.

II. Entscheidungsgründe:
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf eine streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen notwendig erscheint. Voraussetzung dafür ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch der Antragsteller auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, denn ihr steht nach der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung keine Anspruch auf weitere Leistungen des Antragsgegners für ihre Klassenfahrt zu.
Zu einem Anspruch auf eine einmalige Beihilfe für eine Klassenfahrt hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 1995 (Az. 5 C 2/93, in BverwGE 97, 376) ausgeführt:
„Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Kosten für eine Klassenfahrt nach § 12 BSHG zum notwendigen Lebensunterhalt gehören können. Das setzt nicht voraus, dass derartige Kosten einer der in § 12 Abs. 1 BSHG genannten Bedarfsgruppen zugeordnet werden können; denn die Bedarfsaufzählung in § 12 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist nicht abschließend (BVerwGE 92, 6 <8>). Bei Kindern und Jugendlichen umfasst der notwendige Lebensunterhalt auch den besonderen, vor allem den durch das Wachstum bedingten Bedarf (§ 12 Abs. 2 BSHG). Soweit der Beklagte dagegen anführt, dass der durch eine Klassenfahrt entstehende Bedarf nicht durch das Wachstum bedingt sei, lässt er außer Betracht, dass der wachstumsbedingte Bedarf in § 12 Abs. 2 BSHG nicht den einzig möglichen besonderen Bedarf bei Kindern und Jugendlichen, sondern (nur) ein mit den Worten „vor allem“ herausgestelltes Beispiel für einen solchen besonderen Bedarf bezeichnet (s. BVerwGE 92, 6 <8>). Soweit der Beklagte unter Hinweis darauf, dass an weiterführenden Schulen und in den Berufsschulen an Klassenfahrten zum großen Teil volljährige Schüler teilnähmen, einen besonderen jugendspezifischen Bedarf bestreitet, verkennt er, dass der vorliegende Rechtsstreit die Kosten der Klassenfahrt in einer Klassenstufe betrifft, in der alle Schüler noch minderjährig und schulpflichtig sind, und das Berufungsgericht für seine Entscheidung, dass die Möglichkeit der Teilnahme an der Klassenfahrt zum notwendigen Lebensunterhalt gehört, ausdrücklich auf Klassenfahrten von der allgemeinen Schulpflicht unterliegenden Schülern abgestellt hat.
Zu Recht rechnen beide Vorinstanzen auch die Kosten der Klägerin für die Teilnahme an der Klassenfahrt zu ihrem notwendigen Lebensunterhalt und begründen das zutreffend damit, dass es der Klägerin nicht habe zugemutet werden können, anders als ihre Klassenkameraden an der Klassenfahrt nicht teilzunehmen. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG ist es Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Damit wird aber der notwendige Lebensunterhalt nach §§ 11, 12 BSHG entgegen der Auffassung des Beklagten nicht auf das Unentbehrliche begrenzt (s. auch BVerwGE 69, 146 <154>). Eine Einschränkung der Hilfe auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche sieht das Bundessozialhilfegesetz nur unter bestimmten – hier nicht gegebenen – Voraussetzungen vor (vgl. z.B. § 25 Abs. 2 BSHG). Soweit der Beklagte den notwendigen Lebensunterhalt mit den Begriffen „Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens“ und „Existenzminimum“ beschreibt, ist zu beachten, dass der zu einem menschenwürdigen Leben erforderliche Bedarf nicht auf das physiologisch Notwendige beschränkt ist (BVerwGE 35, 178 <180>; 92, 6 <7>). Sollen dem Hilfeempfänger die Führung eines menschenwürdigen Lebens (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG) und die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft (§ 9 SGB I) ermöglicht werden, ist es Aufgabe der Sozialhilfe, der sozialen Ausgrenzung des Hilfebedürftigen zu begegnen, die dann besteht, wenn es ihm nicht möglich ist, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern (zum Lohnabstandsgebot s. § 22 Abs. 3 BSHG) ähnlich wie diese zu leben. Dabei sind die herrschenden Lebensgewohnheiten und Erfahrungen zu berücksichtigen (BVerwGE 69, 146 <154>; 92, 6 <7>). Dazu kann auch die Teilnahme an schulischen Gemeinschaftsveranstaltungen wie Schullandheimaufenthalten gehören, auf die nach dem Vorspruch des hier einschlägigen Erlasses des Hessischen Kultusministers vom 26. März 1980 – IV A 4 – 508 – 945 – (ABl. S. 260) zur Erfüllung der Bildungsaufgaben der Schule nicht verzichtet werden kann. Derartige Veranstaltungen, die nach den Erläuterungen in dem Erlass die Schularbeit in besonderer Form fortführen, im Hinblick auf das tägliche Zusammenleben besondere Gelegenheit zur Übung im Lösen von Konfliktsituationen bieten und den Ablauf von Sozialisationsprozessen fördern (Abschnitt A Nr. 2), setzen, wenn sie diese Ziele erreichen sollen, die Teilnahme möglichst aller Schüler an der Klassenfahrt voraus. Könnte ein schulpflichtiges hilfebedürftiges Kind aus finanziellen Gründen an der Klassenfahrt nicht teilnehmen, obwohl diese den üblichen und angemessenen Rahmen nicht überschreitet, würde es im Verhältnis zu seinen nicht hilfebedürftigen, an der Klassenfahrt teilnehmenden Mitschülern in einer Weise ausgegrenzt, die sich mit der Aufgabe der Sozialhilfe nicht mehr vereinbaren ließe.“
Diese Grundsätze hat das Bundesverwaltungsgericht für den Fall einer Klassenfahrt eines Schülers der 6. Klasse aufgestellt.
Im Falle der Antragstellerin, die die 12. Klasse besucht und deren Schulbesuch nach Abschluss der 12. Klasse im Juli 2003 endet, ist § 12 Abs. 2 BSHG – besonderer Bedarf von Kindern und Jugendlichen – dem Wortlaut nach nicht anwendbar, denn die Antragstellerin ist bereits volljährig. Weiter ist zu berücksichtigen, dass nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts eine Ausgrenzung von sozialhilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen vermieden werden soll. Eine Nichtteilnahme an einer Klassenfahrt wirkt sich sicherlich für jüngere Schüler erheblich aus und kann ihre sozialen Kontakte und ihre Integration in den Klassenverband erheblich beeinträchtigen. Dies steht aber für die volljährige Antragstellerin nicht mehr zu befürchten, denn ihre Altersgenossen sind durchaus in der Lage, die Gründe für eine Nichtteilnahme zu verstehen und zu akzeptieren. Im Übrigen verlässt die Antragstellerin die Schule im Juli, also wenige Tage nach Ende der Klassenfahrt.
Ferner ist auch nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts die Dauer und Kostenhöhe der Klassenfahrt ein vom Sozialhilfeträger heranzuziehendes Entscheidungskriterium; sie dürfen einen angemessenen Umfang nicht überschreiten (so auch Schellhorn, Kommentar zum BSHG, 16. Auflage 2002, § 12 Rn. 55).
Die Kammer hält ebenso wie der Antragsgegner die Grenze des Angemessenen bei Gesamtkosten von 454 EUR zuzüglich Verpflegung für überschritten, zumal diese Kostenhöhe in keiner veröffentlichten Entscheidung erreicht wird und Flugreisen derzeit bei Klassenfahrten sicherlich noch nicht zu den „herrschenden Lebensgewohnheiten“ zählen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

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