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Kollision eines von einem Grundstück auf die Fahrbahn einfahrenden mit einem Wartepflichtigen

OLG München – Az.: 10 U 3516/17 – Urteil vom 18.05.2018

1. Auf die Berufung der Beklagten vom 20.10.2017 wird das Endurteil des Landgerichts Deggendorf vom 27.09.2017 (Az. 22 O 80/17) dahin abgeändert, dass die Klage insgesamt abgewiesen wird.

2. Die Berufung der Klägerin vom 07.11.2017 wird zurückgewiesen.

3. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache Erfolg. Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

I. Bei der Einfahrt vom klägerischen Grundstück in die Straße „Am Sonnenhügel“ hatte die Klägerin die Gefährdung der Beklagten zu 1) als Teilnehmerin des fließenden Verkehrs gem. § 10 StVO auszuschließen und die höchste Sorgfaltsanforderung zu erfüllen, welche die StVO kennt. Dies gilt auch gegenüber einem Verkehrsteilnehmer der aus einer wartepflichtigen Seitenstraße erst in die Straße einbiegt, in die auch der aus der Grundstücksfahrt Einfahrende hineinfahren möchte (vgl. BayObLG St. 1969, 60). Das Ausfahren endet erst, wenn sich der Einbiegende in zügiger Fahrt in den fließenden Verkehr eingeordnet oder sein Fahrzeug verkehrsgerecht am Fahrbahnrand oder an anderer Stelle abgestellt hat (OLG Düsseldorf VersR 1981, 754 = VRS 60 [1981] 420 m.w.N.; OLG Köln VRS 109 [2006] 99 = OLGR 2006, 7 = DAR 2006, 27 = VerkMitt 2006, 18 Nr. 19; OLG Celle NZV 2006, 309; KG VRS 112 [2007] 332 [335] = NZV 2007, 359; Jagow/Janker/Burmann, Straßenverkehrsrecht, 20. Aufl. 2008, § 10 Rz. 10 a.E.; Senat, Urteil vom 20.05.2011 – 10 U 3958/10, juris). Dies war hier nicht der Fall. Gegen den gegen § 10 StVO Verstoßenden gilt ein Anscheinsbeweis, den er zu erschüttern hat, was der Klägerin nicht gelungen ist. Die Beklagte zu 1) durfte angesichts der geringen Geschwindigkeiten auch darauf vertrauen, dass die Klägerin, die nach dem Sachverständigengutachten die Beklagte zu 1) in der Annäherung unproblematisch bei Blickzuwendung erkennen hätte können, ihr Vorfahrtsrecht achtet und von einer Einfahrt in den fließenden Verkehr Abstand nimmt. Einen Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) hat die Klägerin nicht bewiesen. Da der Verkehrsverstoß der Klägerin so schwer wiegt, tritt auch eine etwaige Haftung der Beklagten aus Betriebsgefahr dahinter zurück, so dass die Berufung der Beklagten Erfolg haben muss und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen ist.

Die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wurden mit der Berufung nicht hinreichend angegriffen. Da auch keine Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit bestehen, sind sie der Entscheidung über die Berufung zugrunde zu legen. Aus der vom Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung am 22.08.2017 übergebenen und vom Landgericht nicht hinreichend gewürdigten „Übersichtsskizze“ (Anlage zum Protokoll vom 22.08.2017 = Bl. 51/58 d.A.) ist ersichtlich, dass die Klägerin zum Kollisionszeitpunkt etwa mit halber Fahrzeuglänge quer auf der Fahrspur der Beklagten zu 1) stand. Das klägerische Fahrzeug war damit (noch) nicht in den fließenden Verkehr eingeordnet. Das Ausfahren wird zudem selbst dadurch nicht beendet, dass das ausfahrende Fahrzeug bereits längere Zeit in der Position gestanden ist, in der sich die Kollision ereignete (KG a.a.O.), zumal dies vorliegend nicht nachgewiesen ist. Kommt es – wie vorliegend – in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Ausfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Ausfahrenden (Jagow/Janker/Burmann a.a.O. Rz. 8 m.w.N.), den die Klägerin vorliegend nicht widerlegen konnte. Die Beklagte zu 1) war Teil des fließenden Verkehrs. Dem steht nicht entgegen, dass sie vom Kirchweg in die Straße „Am Sonnenhügel“ nach rechts einbog.

Diese gesteigerte Sorgfaltspflicht des Ausfahrenden führt dazu, dass bei einem Unfall i.d.R. von einer Alleinhaftung des Ausfahrenden auszugehen ist; die Betriebsgefahr des sich im fließenden Verkehr Befindenden tritt regelmäßig zurück (Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 11. Aufl. 2008, Rz. 66 mit umfass. Rechtsprechungsübersicht; Jagow/Janker/Burmann a.a.O. Rz. 8). Der fließende Verkehr darf in der Regel darauf vertrauen, dass sein Vorrang beachtet wird (BGH VRS 56 [1979] 202 [203]; KG, Urt. v. 07.02.1994 – 12 U 3844/92 m.w.N.; Senat, Urteil vom 20.05.2011, a.a.O.). Diese weitreichende Pflicht des Ausfahrenden schließt natürlich eine Mitschuld des bevorrechtigten Fahrers nicht aus (Senat, Urteil vom 20.05.2011, a.a.O.).

Eine derartige Mitschuld der Beklagten zu 1), die hier allenfalls unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot, § 1 Abs. 2 StVO, in Betracht gezogen werden könnte, ist vorliegend jedoch von der insoweit beweisbelasteten Klägerin nicht bewiesen. Unter Zugrundelegung der Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Karl L., der sein Gutachten mündlich in der mündlichen Verhandlung beim Landgericht am 22.08.2017 erstattet hat (Protokoll vom 22.08.2017 = Bl. 51/58 d.A. nebst vom Sachverständigen übergebenen Anlagen), und an dessen Zuverlässigkeit und Sachkunde der Senat keine Zweifel hat, ist vielmehr davon auszugehen, dass der Unfall für die Beklagte zu 1) sogar unvermeidbar gewesen sein könnte. Denn der Sachverständige führt in seinem mündlichen Gutachten – unter Zugrundelegung der Angaben der Beklagten zu 1) in ihrer informatorischen Anhörung, die von der beweisbelasteten Klägerin nicht widerlegt worden sind – aus, dass sich der PKW der Beklagten zu 1) bei der vom Sachverständigen ermittelten Annäherungsgeschwindigkeit von 15 bis 20 km/h zwischen ca. 4,8 bis 7,7 Meter von der Kollisionsstelle entfernt befand, als der PKW der Klägerin die vom Sachverständigen beschriebene Reaktionsaufforderung – die Front des ausfahrenden klägerischen KIA schließt mit dem Fahrbahnrand der Fahrbahn „Am Sonnenhügel“ ab – gesetzt hatte. Es wird auf die vom Sachverständigen übergebene „Übersichtsskizze“ Bezug genommen. Wegen der die Klägerin treffenden Beweislast ist von der für die Beklagte zu 1) günstigeren Variante, nämlich einer Entfernung von der späteren Kollisionsstelle von lediglich 4,8 Metern zum Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung auszugehen. Nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen hätte sich angesichts einer unterstellt hohen Verzögerung des Beklagtenfahrzeugs von 7,5 m/sec sowie einer Gesamtverlustdauer von 0,8 Sekunden danach zwar eine Anhaltestrecke von rund 4,5 Metern bei 15 km/h, jedoch eine solche von rund 6,5 Metern bei 20 km/h ergeben. Fuhr die Beklagte zu 1) daher 20 km/h, wovon wegen der die Klägerin treffenden Beweislast auch insoweit auszugehen ist (es handelt sich um die für die Beklagte zu 1) günstigere Variante), hätte sich für sie keine räumliche Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens ergeben. Eine Fahrgeschwindigkeit von 20 km/h lag innerhalb der für den Kirchweg und die Straße „Am Sonnenhügel“ vorgeschriebenen höchstzulässigen Geschwindigkeit.

Aus den genannten Gründen ist die Klage in vollem Umfang unbegründet. Das Landgericht geht fehl, soweit es auf S. 4 oben des angegriffenen Urteils ausführt, die Beklagte zu 1) hätte ein Vorfahrtsrecht der Klägerin missachtet, da diese ihren Einfahrvorgang aus dem Grundstück bereits vor dem Einmünden der Beklagten zu 1) begonnen habe. Die Klägerin war zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht in den fließenden Verkehr der vorfahrtsberechtigten Straße „Am Sonnenhügel“ eingeordnet, so dass sie der Beklagten zu 1) gegenüber nicht vorfahrtsberechtigt war. Die Beklagte zu 1) hat auch kein Vorfahrtsrecht erzwungen. Die Klägerin stand nicht schon länger. Dies hat die Beweisaufnahme nicht ergeben. Die Beklagte zu 1) weist zu Recht darauf hin, dass das Landgericht, anders als die Klägerin mit ihrer Berufung vorbringt, nicht festgestellt hat, dass die Klägerin bereits auf die Straße „Am Sonnenhügel“ eingefahren war, als sich die Beklagte zu 1) noch weit weg von der späteren Unfallstelle im untergeordneten Kirchweg befunden hat. Dass die Beklagte zu 1) die Kurve geschnitten hätte oder über den Rand des Grundstücks der Klägerin gefahren wäre, wie die Klägerin erstinstanzlich behauptet hatte, ist durch die vom Landgericht durchgeführte Beweisaufnahme mittels des unfallanalytischen Gutachtens nicht bewiesen.

Aus dem Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 16.05.2018 ergibt sich keine andere Bewertung. Soweit die Klägerin vorbringt, die Beklagte zu 1) hätte nicht nach rechts geschaut, denn sonst hätte sie das klägerische Fahrzeug gesehen, negiert sie zum einen die oben dargestellten Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen nebst der von ihm übergebenen Übersichtsskizze sowie zum anderen den Umstand, dass die Beklagte zu 1) gegenüber der Klägerin vorfahrtsberechtigt gewesen ist und nicht umgekehrt. Das Vorbringen der Klägerin, die Beklagte zu 1) hätte den Unfall verschuldet, da sie keine Brille getragen hätte, erfolgt ins Blaue hinein und ist ersichtlich unsubstantiiert. An den obigen Ausführungen ändert sich auch nichts dadurch, dass es sich bei dem Kirchweg nach dem Vortrag der Klägerin um eine Straße handele, die nur von Anwohnern befahren werden dürfe. Die Klägerin hat nach Erstattung des gerichtlichen Gutachtens im Termin beim Landgericht am 22.08.2017 keine Schriftsatzfrist beantragt. Konkrete Einwendungen gegen das Gutachten wurden auch weder in der Berufungsbegründung noch – nachdem der Senat mit Terminsverfügung vom 09.04.2018 bereits umfassend auf die Sach- und Rechtslage hingewiesen hatte – im klägerischen Schriftsatz vom 16.04.2018 vorgebracht. Ergänzend wird auf § 529 Abs. 2 ZPO verwiesen, wonach Verfahrensfehler, sollten diese nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sein, bereits in der Berufungsbegründung vorzubringen sind.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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