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Kostenübernahmeanspruch für Behandlung mit einem bislang nicht zugelassenen Heilmittel

Oberlandesgericht Saarbrücken, Az.: 5 U 7/16, Urteil vom 20.04.2016

1. Auf die Berufung des Verfügungsklägers wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 17.12.2015 – 14 O 247/15 – abgeändert.

Die Verfügungsbeklagte wird verurteilt, für die Dauer von längstens sechs Monaten ab Verkündung dieser Entscheidung dem Verfügungskläger sämtliche Aufwendungen zu erstatten, die diesem durch die Behandlung der bei ihm diagnostizierten ALS – bestehend aus einer wöchentlichen Injektionstherapie mit dem Produkt „Repamun plus“ à 1 x 2 ml – entstehen. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

2. Die erstinstanzlichen Kosten tragen der Verfügungskläger zu ¾, die Verfügungsbeklagte zu ¼. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 18.967,60 € festgesetzt.

Gründe

I.

Kostenübernahmeanspruch für Behandlung mit einem bislang nicht zugelassenen Heilmittel
Symbolfoto: Von Gorodenkoff /Shutterstock.com

Der an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidende Verfügungskläger (im Folgenden: Kläger) macht im Wege der einstweiligen Verfügung Ansprüche auf Übernahme der Kosten der Behandlung mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel geltend.

Er unterhält bei der Verfügungsbeklagten (im Folgenden: Beklagte) einen privaten Krankenversicherungsvertrag (Vers.-Nr.: 530.0060…, Bl. 155 d.A.) dem die MB/KK 2009 (Bl. 43 ff. d.A.) zugrunde liegen.

Bei ALS handelt es sich um eine nicht heilbare degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, deren Verlauf durch eine fortschreitende, nicht reparable Schädigung von Nervenzellen gekennzeichnet ist, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Die hiermit verbundenen Lähmungen der Muskulatur führen zu Gang-, Sprech- und Schluckstörungen, eingeschränkter Koordination und Schwäche der Arm- und Handmuskulatur. Die Überlebenszeit beträgt im Mittel etwa drei bis fünf Jahre. Der Schwerpunkt der Therapie liegt auf einer Linderung der Symptome. Das zugelassene Arzneimittel Rilutek (Wirkstoff Riluzol) verspricht unstreitig lediglich eine Verlängerung der Lebenszeit von durchschnittlich etwa drei Monaten, kann das Voranschreiten der Erkrankung aber nicht aufhalten.

Die Erkrankung wurde bei dem Kläger im März 2014 in der Neurologischen Universitätsklinik der Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm diagnostiziert (Bl. 49 d.A.). Unter der Behandlung mit dem ihm verordneten Arzneimittel Rilutek verschlechterte sich die Allgemeinbefindlichkeit des Klägers nach eigenen Angaben rasch. Auf ärztliches Anraten der Frau Dr. med. N. G. unterzog sich Kläger ab Mai 2014 im Rahmen eines individuellen Heilversuchs einer intravenösen Antibiotikatherapie in Kombination mit einer „Biologischen Immuntherapie“, bestehend aus „Ozon Sauerstoff und hochdosierten Vitamin C Infusionen in Kombination mit Hitzeschockproteinen“ (Bl. 58 d.A.). Letztere wurden dem Kläger mit dem Produkt „Repamun plus“ injiziert, das in Deutschland als Medizinprodukt für die äußere Anwendung am menschlichen Organismus zugelassen ist (Bl. 192 d.A.). Ziele der Hitzeschockproteintherapie sind eine Verbesserung der Lebensqualität und eine Verlangsamung des Krankheitsverlaufs. Die Kosten der Therapie trug der Kläger zunächst selbst. Die Beklagte lehnte mehrere Anträge auf Kostenübernahme – zuletzt mit Schreiben vom 16.12.2014 (Bl. 107 d.A.) – nach Einholung von Gutachten ab.

Mit dem vorliegenden Eilverfahren begehrt der Kläger, der mittlerweile in einer Pflegeeinrichtung als Beatmungspatient betreut werden muss, unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen seiner Ehefrau vom 19.4.2015 (Bl. 109 d.A.) und vom 17.11.2015 (Bl. 159 d.A.) die Verpflichtung der Beklagten, ihm ab sofort, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache die Kosten der von ihm gewählten Therapie zu erstatten.

Er hat behauptet, diese sei positiv verlaufen und habe zu einer signifikanten Zustandsverbesserung und einem verlangsamten Fortschreiten der Erkrankung geführt. Im April 2015 habe der Behandlungsversuch abgebrochen werden müssen, da seine Ersparnisse nach Zahlung der bisherigen Behandlungskosten in Höhe von 4.746,14 € aufgebraucht seien und er diese aus seinen laufenden Renteneinkünften von monatlich 2.100 € – nach Abzug von Miete in Höhe von 1.320 € und sonstigen Lebenshaltungskosten – nicht finanzieren könne. Ab dieser Zeit seien wieder ein beschleunigtes Fortschreiten der Erkrankung und eine Verstärkung der Symptome zu verzeichnen gewesen.

Seinen Antrag, ihm die Kosten des sich aus den Anlagen K03 und K04 ergebenden Therapieschemas zu erstatten, hat der Kläger auf gerichtlichen Hinweise dahin konkretisiert, dass

die Beklagte vorläufig ab sofort, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Hauptsacheverfahrens dem Kläger sämtliche Aufwendungen als medizinisch notwendige Heilbehandlungskosten zu erstatten habe, welche diesem durch die Behandlung des bei ihm diagnostizierten ALS durch das gewählte Therapieschema, bestehend aus

1. einer wöchentlichen Injektionstherapie mit dem Produkt „Repamun plus“ à 1 x 2 ml (Kosten ca. 166,60 EUR je Woche)

und

2. einer biologischen Immuntherapie mit Ozon-Sauerstoff, Komplexhomöopathika und hochdosiertem Vitamin C (Kosten jährlich ca. 1.484,60 €)

entstehen.

Die Beklagte hat beantragt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.

Sie hat unter Hinweis auf die Gutachten der Dr. Se. vom 1.8.2014 (Bl. 200 d.A.) und der Dr. En. vom 27.11.2014 (Bl. 205 d.A.) eine medizinische Indikation für die Biologische Immuntherapie bestritten. Diese sei wissenschaftlich nicht ansatzweise belegt und zur Herbeiführung eines Behandlungserfolgs ungeeignet. Es fehle bereits an einem medizinischen Ansatz der ihre Wirkungsweise erklären könnte. Für eine solche Behandlung fehle es deshalb neben der leitliniengerechten Behandlung mit Rilutek an der medizinischen Notwendigkeit.

Mit dem am 17.12.2015 verkündeten Urteil (Bl. 281 d.A.) hat das Landgericht Saarbrücken den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen, weil es an Darlegung und hinreichender Glaubhaftmachung eines Verfügungsgrundes fehle.

Der Kläger hat hiergegen unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner Ehefrau vom 9.2.2016 (Bl. 340 d.A.) und einer Veröffentlichung von Gifondorwa et.al. in Neurology Research International Volume 2012, Article ID 170426 (Bl. 382 d.A.) Berufung eingelegt.

Er beantragt, das am 17.12.2015 verkündete Urteil des Landgerichts Saarbrücken aufzuheben.

Die Beklagte vorläufig ab sofort, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Hauptsacheverfahrens dem Kläger sämtliche Aufwendungen als medizinisch notwendige Heilbehandlungskosten zu erstatten habe, welche diesem durch die Behandlung des bei ihm diagnostizierten ALS durch das gewählte Therapieschema, bestehend aus

1. einer wöchentlichen Injektionstherapie mit dem Produkt „Repamun plus“ à 1 x 2 ml (Kosten ca. 166,60 EUR je Woche)

und

2. einer biologischen Immuntherapie mit Ozon-Sauerstoff, Komplexhomöopathika und hochdosiertem Vitamin C (Kosten jährlich ca. 1.484,60 €)

entstehen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 23.3.2016 (Bl. 410 d.A.) gemäß § 144 Abs. 1 ZPO eine gutachterliche Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Di., Neurologische Klinik, Universitätsklinikum des Saarlandes, vom 15.4.2016 (Bl. 427 d.A.) eingeholt.

II.

Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.

Hinsichtlich des Produkts „Repamun plus“ sind die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Verfügung gemäß §§ 935, 940 ZPO gegeben, wobei allerdings lediglich eine befristete Verpflichtung der Beklagten für die Dauer von sechs Monaten in Betracht kommt.

Im Übrigen – hinsichtlich der „biologischen Immuntherapie mit Ozon-Sauerstoff, Komplexhomöopathika und hochdosiertem Vitamin C (Kosten jährlich ca. 1.484,60 €)“ – fehlt es allerdings bereits an der hinreichenden Bestimmtheit des Antrags (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO; vgl. Vollkommer in Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 935 Rdn. 4), der auch unter Berücksichtigung der Klagebegründung und der hierzu vorgelegten Anlagen nicht in hinreichendem Maße zu konkretisieren war.

1.

Gemäß § 940 ZPO sind einstweilige Verfügungen zum Zwecke der Regelung eines einstweiligen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, sofern diese Regelung, insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen, zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint.

Die vorläufige Befriedigung des Hauptanspruchs, um die es hier geht, kann nur ausnahmsweise dann beansprucht werden, wenn der Anspruchsteller darlegt und glaubhaft macht, dass er auf die sofortige Erfüllung seines geltend gemachten Anspruchs dringend angewiesen und die Erwirkung eines Titels im Hauptverfahren wegen der unvermeidlichen zeitlichen Verzögerung nicht zumutbar ist, weil zwischenzeitlich irreversible Fakten geschaffen würden oder der Verweis auf das ordentliche Verfahren praktisch einer Rechtsverweigerung gleichkäme (vgl. OLG Köln, VersR 1995, 1464 zu den Voraussetzungen einer Leistungsverfügung gegen den Krankenversicherer). Das ist dem Kläger gelungen.

a)

Das Bestehen eines Verfügungsanspruchs hat der Kläger glaubhaft gemacht (§§ 935, 936, 920 Abs. 2 ZPO).

aa)

Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 MB/KK 2009). Bei unheilbaren Erkrankungen ist von der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch dann auszugehen, wenn diese geeignet ist, die Krankheit zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken. Leidet ein Versicherter – wie hier – an einer unheilbaren Krankheit, bei der es selbst für eine auf die Verhinderung einer Verschlimmerung abzielende Heilbehandlung keine in der Praxis angewandte Behandlungsmethode gibt, die sich nach medizinischen Erkenntnissen zur Herbeiführung wenigstens dieses Behandlungsziels eignet, kommt jeder gleichwohl durchgeführten Behandlung zwangsläufig Versuchscharakter zu und kann der Nachweis medizinischer Eignung naturgemäß nicht geführt werden.

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Das schließt die Annahme medizinischen Notwendigkeit aber dann nicht aus, wenn es um die Behandlung einer schweren, lebensbedrohenden oder gar lebenszerstörenden Krankheit geht. In diesem Fall ist auch eine Heilbehandlung als notwendig anzusehen, der zwar noch Versuchscharakter anhaftet, die aber jedenfalls – medizinisch begründbar – Aussicht auf Heilung oder Linderung verspricht. Die objektive Vertretbarkeit der Behandlung ist bereits dann zu bejahen, wenn die Behandlung nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme als wahrscheinlich geeignet angesehen werden konnte, auf eine Verhinderung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinzuwirken. Dabei ist nicht einmal gefordert, dass der Behandlungserfolg näher liegt als sein Ausbleiben. Vielmehr reicht es, wenn die Behandlung mit nicht nur ganz geringer Erfolgsaussicht die Erreichung des Behandlungsziels als möglich erscheinen lässt.

Das setzt lediglich voraus, dass die gewählte Behandlungsmethode auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruht, der die prognostizierte Wirkweise auf das angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermag, sie somit wahrscheinlich macht. Einer solchen Annahme steht nicht entgegen, dass eine Behandlungsmethode noch nicht in der medizinischen Literatur nach wissenschaftlichem Standard dokumentiert und bewertet worden ist. Entsprechende Veröffentlichungen können für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit bedeutsam sein. Allerdings kann auf bisher fehlende Veröffentlichungen die Verneinung der medizinischen Notwendigkeit nicht gestützt werden. Für die Beurteilung kann ausreichen, dass die Behandlungsmethode bereits anderweitig erprobt worden ist. Haben entsprechende Behandlungen schon zuvor in einer solchen Anzahl stattgefunden, die Aussagen darüber zulässt, ob die Behandlung die mit ihr erstrebte Wirkung wahrscheinlich zu erreichen geeignet ist, kann darin ein besonders aussagekräftiger Umstand für die Beurteilung der Notwendigkeit zu erkennen sein (vgl. BGH, Beschl. v. 30.10.2013 – IV ZR 307/12 – VersR 2013, 1558 und nachfolg. OLG Bremen, Urt. v. 30.11.2015 – 3 U 65/13 – betreffend die Behandlung eines Prostatakarzinoms im fortgeschrittenen Stadium mit autologen Tumor-Antigen-geprimten dendritischen Zellen; BGH, Urt. v. 10.7.1996 – IV ZR 133/95 – VersR 1996, 1224).

bb)

Zwar kann nicht festgestellt werden, dass Erfahrungswerte aus Behandlungen mit Repamun gewonnen worden wären, die eine hinreichend verlässliche Aussage darüber zuließen, dass die in Rede stehende Behandlungsmethode wahrscheinlich geeignet ist, die mit ihr erstrebte Wirkung – nämlich Verlangsamung des Krankheitsverlaufs, Linderung der Beschwerden und Verbesserung des Allgemeinbefindens – zu erzielen. Der von dem Kläger vorgelegte anonymisierte Bericht der Überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft der Fachärzte für Allgemeinmedizin G.-K. und H. vom 16.1.2014 aus einem Verfahren des Sozialgerichts Stuttgart (Bl. 112 d.A.) und die – teils von dem Kläger vorgelegten – Entscheidungen über entsprechende einstweiligen Anordnungen der Sozialgerichte (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 4.9.2013 – L 11 KR 2895/13 ER-B – zitiert nach juris) beziehen sich jeweils auf konkrete Einzelfälle, erlauben aber keine allgemeingültigen Feststellungen, die auf den Streitfall übertragen werden könnten.

Der von dem Kläger ebenfalls vorgelegte Erfahrungsbericht des Immunologen Dr. E. W. mit dem Titel „Anwendung von Repamun zur Therapie der „Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und anderen Autoimmunerkrankungen“ (Bl. 138 ff. d.A.) führt nach einer allgemeinen Schilderung der Wirkweise der Hitzeschockproteine lediglich aus, dass bei der ALS bisher keine komplette Remission habe erreicht werden können, die Patienten aber ihre eigenen positiven Therapieeffekte – in Form einer zum Teil erheblichen Verbesserung der Lebensqualität – erfahren hätten (Bl. 141 d.A.). Insoweit fehlen indessen – worauf der gerichtlich beauftragte Sachverständigen Prof. Dr. Di. in seinem neurologischen Gutachten vom 15.4.2016 zu Recht hinweist – nicht nur jegliche Belege aus wissenschaftlichen Arbeiten zu konkreten Zuständen und Krankheitsverläufen bei Patienten, sondern auch jegliche sonstigen Quellen oder Dokumentationen, so dass dem Erfahrungsbericht insgesamt keine nennenswerte Aussagekraft beigemessen werden kann. Auch der gerichtliche Sachverständige hat bei seiner Recherche lediglich nicht durch unabhängige Untersucher bestätige Angaben von Patienten zu möglichen Befundbesserungen, nicht aber medizinisch fundierte Berichte hierzu finden können (Bl. 444, 449 d.A.).

Wissenschaftliche Studien wurden – soweit ersichtlich – bislang lediglich in Tierversuchen durchgeführt, mit welchen sich der von dem Kläger vorgelegte Bericht von Gifondorwa et.al. in Neurology Research International Volume 2012, Article ID 170426 (Bl. 382 d.A.) auseinandersetzt.

Nach den oben dargelegten Grundsätzen schließt das aber – auch wenn es sich um einen Grenzfall handelt – die Annahme medizinischer Notwendigkeit nicht von vornherein aus. Die leitlinienkonforme Behandlung mit dem zugelassenen Arzneimittel Rilutek (Wirkstoff Riluzol) verspricht unstreitig lediglich eine Verlängerung der Lebenszeit von durchschnittlich etwa zwei bis drei Monaten. Sie kann das Voranschreiten der Erkrankung aber nicht aufhalten. Unter diesen Umständen muss bei einer regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung wie der vorliegenden genügen, dass die in Rede stehende Behandlung medizinisch begründbar Aussicht auf Linderung von Beschwerden und Beeinträchtigungen oder gar Verlangsamung des Krankheitsverlaufs verspricht. Das hat der Kläger auf der Grundlage des neurologischen Gutachtens des Sachverständige Prof. Dr. Di. und der Angaben seiner im Termin vom 20.4.2016 als Vertreterin der Partei angehörten Ehefrau glaubhaft gemacht.

Der Sachverständige hat als Ergebnis einer umfassenden Recherche aufgezeigt, dass die Wirkweise der Hitzeschockproteine auf die Erkrankung ALS durchaus Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses ist und sich als aktuell vielversprechende Forschungsrichtung bei der Behandlung von ALS erwiesen hat. Den Behandlungsansatz hat er plausibel damit begründet, dass ein relevanter Faktor bei ALS eine Faltungsstörung von Proteinen betreffe (Bl. 439 d.A.) und es die Hypothese gebe, dass die Hitzeschockproteine bei der Proteinfaltung eine wichtige Rolle spielten (Bl. 440 d.A.). Dabei ist entscheidend, dass der Sachverständige die Wirkweise der Hitzeschockproteine selbst grundsätzlich für medizinisch nachvollziehbar erachtet und Hinweise für therapeutisch günstige Effekte bei der Behandlung von ALS gesehen hat (Bl. 448 d.A.; vgl. OLG Bremen, Urt. v. 30.11.2015 – 3 U 65/13 –). Demgegenüber beschränkt sich das von der Beklagten vorgelegte Gutachten der Neurologin Dr. En. vom 27.11.2014 auf die schlichte Feststellung, dass die Behandlung mit Hitzeschockproteinen nicht geeignet sei, einen Behandlungserfolg herbeizuführen (Bl. 206 d.A.).

Dass nach der Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen bislang unklar bleibt, wie sich die bisher nur im Tierversuch erprobte externe Gabe von Hitzeschockproteinen beim Menschen auswirkt (Bl. 444 d.A.), der Behandlungsmethode mithin – am Menschen – noch Versuchscharakter anhaftet, steht der Annahme medizinischer Notwendigkeit nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht entgegen. Dasselbe gilt für die Einschätzung des Sachverständigen, dass eine Linderung der durch ALS verursachten Beschwerden oder eine Lebensverlängerung nicht wahrscheinlicher sei als das Ausbleiben eines Effekts oder gar der Eintritt eines ungünstigen Effekts (Bl. 449 d.A.). Insoweit darf der materiell-rechtlichen Risikoverteilung des Krankheitskostenversicherungsvertrags – jedenfalls für das Verfahren des Eilrechtsschutzes – entnommen werden: Je infauster das Leiden des Versicherungsnehmers ist, desto geringer müssen die Anforderungen an die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Linderungsbewirkung durch ein medizinisch noch nicht verlässlich erprobtes, in seiner theoretischen Grundlage aber plausibles alternatives Arzneimittel sein.

Auf der Grundlage der Angaben der Ehefrau des Klägers hält der Senat es im Übrigen für glaubhaft, dass die Behandlung mit Repamun bei dem Kläger tatsächlich zu einer Linderung von Beschwerden und einer Verlangsamung des Krankheitsverlaufs geführt hat.

Die Ehefrau des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung vom 20.4.2016 den Krankheitsverlauf und die von dem Kläger und auch von ihr selbst wahrgenommenen Effekte der jeweils verordneten Medikamente detailliert und uneingeschränkt glaubhaft geschildert. Danach habe das zunächst verordnete Medikament Rilutek weder zu einer spürbaren Linderung von Beschwerden oder Beeinträchtigungen noch zu einer Verlangsamung des Fortschreitens der Erkrankung geführt. Demgegenüber sei unmittelbar nach der Verabreichung von Repamun nach ihrer subjektiven Einschätzung eine offenkundige Besserung eingetreten. Der Kläger habe sich insgesamt besser gefühlt, habe insbesondere besser atmen können. Unter der Behandlung mit Repamun habe der Kläger auch geringfügige Tätigkeiten – wie Büroarbeiten oder Telefonate – noch selbst ausüben können. Das Absetzen des Repamun habe wiederum zu einer deutlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt, insbesondere hätten sich Atem- und Schluckschwierigkeiten eingestellt. Schon in der eidesstattlichen Versicherung vom 9.2.216 hat die Ehefrau des Klägers hervorgehoben, dass die wöchentlichen Injektionen von Repamun den Zustand deutlich auf längere Zeit stabilisiert hätten; die Erkrankung sei nicht mehr so rasant vorangeschritten wie dies unter der Behandlung mit Rilutek der Fall gewesen sei (Bl. 341 d.A.).

Auf dieser Grundlage erscheint es insgesamt vertretbar, die – vom Bundesgerichtshof geforderte – nicht ganz geringe Erfolgsaussicht der Erreichung des Behandlungsziels für glaubhaft gemacht zu halten.

Dem steht mit Blick auf die im vorliegenden einstweiligen Verfügungsverfahren gemäß § 294 ZPO ausreichende Wahrscheinlichkeitsfeststellung (vgl. BGH, Beschl. v. 11.9.2003 – IX ZB 37/03 – BGHZ 156, 139) schließlich auch nicht entgegen, dass der Sachverständige tierexperimentelle Hinweise dafür aufgezeigt hat, dass die Gabe von Hitzeschockproteinen in einem späten Stadium der Erkrankung, in welchem der Kläger sich zwischenzeitlich befinden dürfte, eher nicht effektiv sein könnte (Bl. 443 d.A.). Dies gilt umso mehr, als ausweislich des von der Beklagten vorgelegten Gutachtens der Dr. Se. vom 27.5.2014 im Spätstadium auch von der fehlenden Wirksamkeit des schulmedizinischen Präparats Rilutek auszugehen ist (Bl. 196 d.A.).

b)

Der Kläger hat auch das Vorliegen eines Verfügungsgrundes glaubhaft gemacht.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts hat der Kläger durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen seiner Ehefrau vom 19.4.2015 (Bl. 109 d.A.) und vom 17.11.2015 (Bl. 159 d.A.) glaubhaft gemacht, dass seine Ersparnisse durch die Finanzierung der bisherigen Behandlung mit Repamun aufgebraucht seien und seine Einkommensverhältnisse die weitere Übernahme der Behandlungskosten nicht erlaubten. Das liegt bei Renteneinkünften in Höhe von monatlich ca. 2.000 € und einer Miete von 1.320 € auf der Hand. In zweiter Instanz hat der Kläger seine Angaben zum Fehlen weiterer finanzieller Ressourcen unter Vorlage einer weiteren eidesstattlichen Versicherung seiner Ehefrau vom 9.2.2016 (Bl. 340 d.A.) dahin weiter konkretisiert, dass die Familie im September 2014 ein behindertengerechtes Haus habe anmieten müssen, nachdem ein behindertengerechter Umbau der Eigentumswohnung an der erforderlichen Zustimmung der Eigentümergemeinschaft gescheitert sei; ein Wechsel des Klägers von der betreuten Einrichtung in die häusliche Umgebung sei – bei Erfüllung der Voraussetzungen der häuslichen Krankenpflege – weiterhin angestrebt. Eine zusätzliche finanzielle Belastung sei dadurch eingetreten, dass eine Vermietung der Eigentumswohnung erst Anfang Dezember 2015 gelungen sei. Auch unter Berücksichtigung des Einkommens der Ehefrau komme die weitere Übernahme der Behandlungskosten nicht mehr in Betracht. Ansprüche auf Sozialleistungen bestünden nicht. Der Senat hält auch diese Angaben für uneingeschränkt plausibel.

Dass bei der rasch voranschreitenden Erkrankung schwere und irreversible Beeinträchtigungen eintreten, die ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens unzumutbar machen, bedarf keiner näheren Begründung. Die unverzügliche Weiterbehandlung soll den Kläger insbesondere vor einem vorzeitigen Verlust der Motorik im Bereich des Oberkörpers und der Hände bewahren, die ihm nach den Schilderungen der Ehefrau bislang noch erhalten geblieben ist.

c)

Da nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand auch auf der Grundlage des vom Senat eingeholten Gutachtens keine abschließende Bewertung möglich ist, ob beim Kläger – insbesondere auch mit Blick auf das fortgeschrittene Krankheitsstadium – noch eine spürbare positive Einwirkung von Repamun auf das Allgemeinbefinden oder den weiteren Krankheitsverlauf möglich erscheint, hat der Senat die Verpflichtung der Beklagten – ebenso wie die erwähnten sozialgerichtlichen Entscheidungen – befristet und dabei eine Dauer von längstens sechs Monaten für angemessen erachtet.

Den sich aus der nunmehr anstehenden Fortsetzung der Behandlung ergebenden und ärztlich zu dokumentierenden Erkenntnissen wird voraussichtlich maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit im Hauptverfahren zukommen.

2.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.

Den Streitwert für das Berufungsverfahren setzt der Senat – mit dem Landgericht – auf 18.967,60 € fest.

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