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Linienbusfahrer: Sorgfaltspflichten bei Anfahren nach Schließen der Türen

OLG Oldenburg

Az.: 5 U 62/99

Urteil vom 06.07.1999


T a t b e s t a n d
Die 1925 geborene Klägerin begehrt Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Zukunftsschäden nach einem Sturz in dem von dem Beklagten zu 1) gefahrenen, von der Beklagten zu 2) gehaltenen und bei der Beklagten zu 3) versicherten Omnibus.

Kurz nach Besteigen des im Linienverkehr eingesetzten Busses am 11.11.1996 gegen 15.15 Uhr kam die Klägerin während des Anfahrvorganges zu Fall und zog sich eine Oberschenkelfraktur bei liegender Totalendoprothese rechts zu.

Die Klägerin hat behauptet, sie habe bei Herannahen des Busses ihren Schwerbehindertenausweis gut erkennbar hochgezeigt. Als sie durch die Mitteltür über die drei Stufen in den leeren Bus eingestiegen sei und eben den Haltegriff losgelassen habe, um zu dem mittleren Behindertensitz zu gelangen, sei der Beklagte zu 1) plötzlich und stark beschleunigend angefahren, so daß sie sich nicht mehr habe halten können und – ohne eine Möglichkeit den Sturz abzufedern – hingefallen sei.

Die Beklagten haben behauptet, der mit der erforderlichen Sorgfalt ausgewählte Beklagte zu 1) sei langsam mit normaler Beschleunigung angefahren. Die Klägerin, die nicht als schwerbehindert zu erkennen gewesen sei, sei erst 50 m nach dem Haltestopp gestürzt. Sie habe sich nicht unverzüglich einen sicheren Platz gesucht. Angesichts der von ihr selbst angegebenen guten körperlichen Verfassung sei es nicht nachzuvollziehen, warum sie das Gleichgewicht nicht habe halten können.

Das Landgericht hat nach sachverständiger Auswertung des Fahrtenschreibers die Schadensersatzklage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Es habe sich aufgrund der Diagrammauswertung zwar nicht feststellen lassen, daß der Beklagte zu 1) mit unangemessener Geschwindigkeit angefahren sei. Er sei aber sofort nach dem Schließen der Tür angefahren und habe damit rechnen müssen, daß die Klägerin noch ohne sicheren Halt gewesen sei.

Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgen die Beklagten ihr Klagabweisungsbegehren insgesamt weiter.

Unter ergänzender Bezugnahme auf ihr erstinstanzliches Vorbringen rügen sie, das Landgericht habe unzutreffende Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines im Linienverkehr eingesetzten Omnibusfahrers gestellt. Der – möglicherweise sogar längere – Haltezeitraum von jedenfalls 5 Sekunden sei ausreichend. Bei der nach eigenen Bekundungen buserfahrenen Klägerin habe keinerlei erkennbarer Anhalt bestanden, daß sie sich in diesem Zeitraum keinen sicheren Halt – nicht notwendigerweise einen Sitzplatz – verschaffen können werde.

Die Beklagten beantragen, das angefochtene Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 8.3.1999 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie verteidigt unter ergänzender Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens die angefochtene Entscheidung nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung. Darin bekräftigt sie ihre Auffassung, daß der Busfahrer nach zu kurzer Haltezeit mit zu starker Beschleunigung angefahren sei und sich zuvor hätte vergewissern müssen, ob sie Platz genommen habe.

Von der weiteren Darstellung des Tatbestandes wird gem. § 543 Abs. 1 1. Halbsatz ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung hat in der Sache in vollem Umfang Erfolg.

Die Klägerin hat nicht den Beweis erbringen können, daß der Beklagte zu 1) bei dem Anfahrvorgang nach ihrem Einstieg die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, § 276 Abs. 1 BGB, nicht beachtet hat. Mangels eines Verschuldensvorwurfs bezüglich ihres Sturzes scheiden Schmerzensgeldansprüche gem. §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2, 847 BGB, 230 StGB aus.

Nach der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme, die einer ergänzenden Aufklärung nicht zugänglich ist, kann lediglich davon ausgegangen werden, daß nach einer Haltephase von etwa 5 Sekunden der Bus wieder angefahren ist. Daß der Fahrer dabei unangemessen heftig vorgegangen ist, ist nicht beweisbar. Das geht zu Lasten der mit diesem Verschuldensbeweis belasteten Klägerin.

Das Anfahren unmittelbar nach dem Einsteigen von Fahrgästen und Schließen der Türen ohne weitere Vergewisserung, daß die Zugestiegenen einen festen Halt gefunden bzw. noch haben, begründet entgegen der Auffassung des Landgerichts allein keinen Schuldvorwurf.

Es ist in Rechtsprechung und Lehre anerkannt, daß der Fahrer eines Linienbusses, der seinen Fahrplan einzuhalten hat, darauf vertrauen darf, daß die Fahrgäste ihrer Verpflichtung, sich stets einen festen Halt zu verschaffen, nachkommen. Auch vor dem Anfahren von einer Haltestelle ist es allein Sache des Fahrgastes, für einen sicheren Halt zu sorgen und so eine Sturzgefahr zu vermeiden. Kommt ein Fahrgast bei normaler Anfahrt, von der hier zugunsten der Beklagten ausgegangen werden muß, zu Fall, so wird sogar ein Beweis des ersten Anscheins angenommen, daß der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist (vgl. LG Düsseldorf VersR 1983, 1044). Das gilt hier um so mehr, als nach den eigenen Angaben der besonders buserfahrenen Klägerin sie nach dem Einsteigen den dabei gefundenen Halt verlassen hat, um zu dem angestrebten Sitzplatz zu gelangen, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß der Bus umgehend anfahren könnte.

Etwas anderes kann ausnahmsweise allenfalls dann gelten, wenn für den Fahrer eines Linienbusses leicht erkennbare Anhaltspunkte bestehen, daß der eingestiegene Fahrgast nicht in der Lage sein könnte, den normalerweise zugrundezulegenden Anforderungen, sich einen sicheren Halt zu verschaffen, zu genügen. Nur in solchen Fallkonstellationen wie bei einer ohne weiteres erkennbaren schweren Behinderung, die dem Fahrer eine Vorsichtsmaßnahme geradezu aufdrängen muß, kann verlangt werden, daß er sich vor dem Anfahren darüber vergewissert, daß der Fahrgast nicht der Gefahr ausgesetzt ist zu stürzen (vgl. BGH VersR 1993, 240 f). An solchen Anhaltspunkten fehlt es hier insgesamt.

Nach den Angaben der Klägerin war sie trotz der Hüftgelenksprothese beweglich und körperlich fit durch lange Wanderungen, Gartenarbeit, Treppensteigen u.ä. und verfügte über jahrzehntelange Buserfahrung. Das Alter allein ist sicher kein Grund für einen Busfahrer zu erhöhter Aufmerksamkeit (vgl. BGH a.a.O.); der Schwerbehindertenausweis ebenfalls nicht, was bereits erhellt, daß solche Bescheinigungen auch ausgestellt werden für Leiden, die nicht mit Bewegungseinschränkungen in Zusammenhang zu bringen sind. Ob die Klägerin ihren Ausweis tatsächlich erkennbar beim Herannahen des Busses hochgehalten hat, bedarf daher keiner weiteren Erörterung.

Jede andere Betrachtensweise würde die Anforderungen an einen Busfahrer überspannen, der in erster Linie die Verkehrsvorgänge zu beobachten und ihren besonderen Gefahren beim Anfahren und Einfädeln in den normalen Fahrverkehr entgegenzuwirken hat. Diese vorrangige Aufgabe eines Busfahrers, auf Fahrbahn und Verkehrszeichen zu achten, widerstreitet einer Betrachtungsweise, die ihn als Hüter seiner Fahrgäste ansieht (so bereits LG Wiesbaden, VersR 1975, 481; Geigel, Haftpflichtprozeß, 17. Aufl., § 27 Rn. 662). Ein Fahrgast kann daher regelmäßig nicht davon ausgehen, daß der Fahrer auf ihn besonders achtgibt, solange – wie hier – besondere Anhaltspunkte nicht bestehen, die ihn zu besonderer Aufmerksamkeit geradezu drängen. Daß der Bus hier leer war und neben der Klägerin nur noch ein etwa 10 jähriges Kind mit einstieg, ist insoweit unerheblich. Die Überwachungspflichten eines Busfahrers sind nur generell festzulegen. Ohne zwingende andere Anhaltspunkte kann er davon ausgehen, daß Zusteigende sich mit Erfolg alsbald um einen sicheren Halt bemüht und auf den bevorstehenden Abfahrtsvorgang eingestellt haben, was bei einem nicht besetzten Bus ohnehin leichter möglich ist (vgl. LG Kassel VersR 1995, 111). Hier fehlt es an jedem Anzeichen, die einen vorwerfbaren Verstoß gegen die so umschriebenen Überwachungspflichten eines Busfahrers stützen könnten. Verschuldensabhängige Ersatzansprüche scheiden mithin aus.

Die Voraussetzungen für eine verschuldensunabhängige Haftung in Bezug auf die geltend gemachten zukünftigen materiellen Schäden gem. § 8 a StVG sind ebenfalls nicht dargetan. Es besteht kein Hinweis, daß die Klägerin durch den Busbetrieb bedingte materielle Schäden zukünftig erleiden könnte. Es ist völlig offen – ohne daß es der Erörterung des Unabwendbarkeitsnachweises bedarf -, inwieweit materielle Schäden der Klägerin infolge des Sturzes noch entstehen sollten, für die dann eine Haftung nach dem StVG in Betracht gezogen werden könnte.

Auf die Berufung war daher die Klage mangels weiterer Aufklärungsmöglichkeiten zu dem Geschehensablauf mit den Nebenentscheidungen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713, 546 ZPO insgesamt abzuweisen.

 

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