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Lokomotivführer – Ursächlichkeit eines Zusammenpralls mit einem PKW für die Dienstunfähigkeit


Oberlandesgericht Hamm

Az: 6 U 231/99

Urteil vom 02.04.2001


Anmerkung des Bearbeiters

LokomotivführerDas Urteil setzt sich mit der Frage auseinander, ob ein Zusammenprall einer Lokomotive mit einem Klein-LKW ursächlich für die Dienstunfähigkeit eines Lokomotivführers war. Der Lokomotivführer hatte vor dem Unfall in seiner Dienstzeit bereits mehrere Unfälle mit seiner Lokomotive, insbesondere so genannte Schienensuizide erlebt. Insoweit war zweifelhaft, inwieweit der aktuelle Vorfall – welcher glimpflich ausgegangen war – ursächlich für die Dienstunfähigkeit war.


Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das am 31. August 1999 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschwer des Beklagten: unter 60.000,00 DM.


Gründe

I. Der Kläger befuhr am 15.12.1994 als Lokomotivführer mit einem Personenzug die eingleisige Strecke von M nach B. In R stieß er mit einem italienischen Klein-Lkw zusammen, dessen Fahrzeugführer an einem unbeschrankten Bahnübergang die blinkende Signalanlage und das akustische Signal des Zuges mißachtet hatte. Der Lkw wurde beschädigt; Fahrer und Beifahrer blieben unverletzt. Der Kläger setzte nach der polizeilichen Unfallaufnahme die Fahrt noch für ca. 100 m bis zum Bahnhof R fort, begab sich dann aber auf Grund des beim Unfall erlittenen Schocks in ärztliche Behandlung. Bis zum 23.12.1994 wurde er zunächst in R, später in W stationär behandelt. Auch nach einer anschließenden Kurmaßnahme wurde er nicht wieder dienstfähig. Zum 31.03.1996 wurde er im Alter von 42 Jahren wegen eines chronischen psycho-physischen Erschöpfungszustandes mit Angstzuständen und wegen psychosomatischer Beschwerden pensioniert.

Der Kläger, der im Laufe seines Dienstes 8 Betriebsunfälle

– drei mit tödlichem Ausgang (Suizid) – hatte, hat behauptet, er leide nach wie vor an ängstlicher Erregtheit, Unruhe, Schlafstörungen, zeitweilig trauriger Verstimmung, Antriebslosigkeit und Rückzugstendenzen, ferner an Schwindel, zeitweiligen Kopfschmerzen und Schweißausbrüchen; diese Beschwerden seien auf den Unfall vom 15.12.1994 zurückzuführen; davon habe er sich im Gegensatz zu früheren Ereignissen nicht mehr erholen können.

Der Beklagte hat gemäß § 2 II AuslPflVG die Pflichten des Haftpflichtversicherers übernommen. Er hat bestritten, daß der Zusammenstoß mit dem italienischen LKW für die Beschwerden des Klägers und dessen Frühpensionierung ursächlich geworden sei.

Durch das angefochtene Urteil hat das Landgericht dem Kläger 10.000,00 DM als Schmerzensgeld und 9.138,16 DM als Ersatz materiellen Schadens zuerkannt und hat festgestellt, daß der Beklagte zum Ersatz des Zukunftsschadens verpflichtet ist. Auf Grund der eingeholten Gutachten ist es zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger an den geschilderten Beschwerden leidet und daß hierfür und auch für die Frühpensionierung der Unfall ursächlich war.

Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Berufung. Er greift

– gestützt auf von ihm eingeholte Privatgutachten – die Beweiswürdigung des Landgerichts an und bestreitet insbesondere die Kausalität des Unfalls für die Dauerschäden des Klägers.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat durch Professor J ein weiteres fachpsychiatrisches Gutachten erstatten und dies durch A, den Mitverfasser des Gutachtens, im Senatstermin erläutern lassen. Insoweit wird auf den Berichterstattervermerk Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist nicht begründet.

1.

Dem Grunde nach ist die auf § 7, StVG, §§ 823, 847 BGB, § 2 II AuslPflVG beruhende quotenmäßig nicht gekürzte Haftung des Beklagten nicht im Streit. Fest steht auch, daß der Kläger bei dem Unfallgeschehen einen Schock erlitten hat und deswegen zunächst bis zum 16.12.1994 im Krankenhaus R und anschließend für eine Woche in W stationär behandelt worden ist.

2.

Auf Grund der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, daß die Beschwerden, an denen er in der Folgezeit gelitten hat und die zu seiner Frühpensionierung geführt haben, auf den Unfall zurückzuführen sind. In Übereinstimmung mit der ärztlichen Stellungnahme, die der Facharzt für Psychiatrie N unter dem 09.05.1997 für den früheren Dienstherrn des Klägers abgegeben hat, ist auch der vom Landgericht hinzugezogene Sachverständige F in seinem Gutachten vom 12.04.1999 zu diesem Ergebnis gelangt, desgleichen der vom Senat beauftragte Sachverständige J in seinem schriftlichen Gutachten vom 02.08.2000. Danach hat sich beim Kläger zunächst eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die inzwischen in eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung übergegangen ist. Verursacht worden ist diese Krankheitsentwicklung durch den vom Beklagten zu regulierenden Unfall vom 05.12.1994.

Ohne Erfolg greift der Beklagte, die überzeugenden Ausführungen dieser Gutachten an und stützt sich dabei auf die Ausführungen des von ihm eingeschalteten Neurologen und Psychiaters K.  Dieser hält es nicht für einleuchtend, daß der Unfall vom 15.12.1994 für den Kläger derart schwere Folgen gehabt haben soll, weil es sich um einen im Vergleich zu der Vorgeschichte relativen Bagatellunfall gehandelt habe, wohingegen die schwerwiegenden Ereignisse einschließlich der Todesfälle aus den vorangegangenen Unfällen keine derartigen Folgen gezeigt haben sollen.

Diese Betrachtungsweise erscheint jedoch dem Senat zu vordergründig. Plausibel ist demgegenüber, daß sich bei einer derartigen Abfolge von Unfällen die Steigerung der Vulnerabilität in Schritten vollzieht, und daß die Schwelle von Mal zu Mal niedriger wird, wie es der Neurologe und Psychiater A – Mitverfasser des Gutachtens vom 02.08.2000 – bei seiner Anhörung vor dem Senat überzeugend erläutert hat. Er hat es auch als nicht ungewöhnlich bezeichnet, daß der Kläger zunächst einen Abwehrmechanismus der Verdrängung entwickelt hat, um die psychischen Folgen der früheren Unfälle zu bewältigen, daß aber diese wohl eher unbewußte Bewältigungsstrategie letztlich infolge der immer weiter gesteigerten Verletzlichkeit versagt hat infolge des Schockerlebnisses, das durch den Unfall vom 15.12.1994 ausgelöst worden ist. Daß bei diesem Unfall kein anderer Mensch zu Schaden gekommen ist, tritt in der Bedeutung dahinter zurück, daß er sich an eben demselben Bahnübergang ereignet hat, an dem bei einem früheren Unfall ein Mensch unter Beteiligung des Klägers zu Tode gekommen war. Er hat es deswegen als besonders einschneidend erlebt, daß er gerade hier wieder eine für ihn unvermeidliche Kollision auf sich zukommen sah.

Der Kernpunkt der vom Beklagten vorgebrachten Kritik vermag demgemäß die Überzeugungskraft der von F und J erstatteten Gutachten nicht zu erschüttern.

Diese Kritik geht auch im übrigen fehl, soweit sie auf die Möglichkeit verweist, daß die schwere psychische Störung sich anderweitig auf Grund vorbestehender unfallunabhängiger Beschwerden entwickelt haben könnte. Der Sachverständige A hat im Senatstermin überzeugend ausgeführt, daß die von K genannten unfallunabhängigen Faktoren, nämlich Diabetes mellitus, Hypertonie und Schlafstörungen keine besonderen Risikofaktoren für die hier festgestellte posttraumatische Belastungsstörung darstellen.

Nach alledem hat der Senat keinen Zweifel daran, daß der jetzige Krankheitszustand, der auch zur Frühpensionierung des Klägers geführt hat, auf den Unfall vom 15.12.1994 zurückzuführen ist. Es kommt nicht darauf an, daß auch die besondere Schadensanfälligkeit des Klägers, nämlich seine durch die vorangegangenen Unfälle immer weiter gesteigerte psychische Vulnerabilität hierfür mitursächlich geworden ist. Der Schädiger, der einen gesundheitlich geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre; ihm ist – auch im Falle psychischer Schäden – die besondere Schadensanfälligkeit des Verletzten zuzurechnen (vgl. BGHZ 132, 341 = NJW 96, 2425 = r+s 96, 303 = VersR 96, 990; vgl. auch die eingehende Besprechung von v. Gerlach, DAR 97, 217).

Es bestehen keine Gründe, die ausnahmsweise dazu führen müßten, daß trotz psychisch vermittelter Kausalität der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang ausnahmsweise verneint werden müßte:

Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger den Unfall in dem neurotischen Bestreben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlaß genommen hätte, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen, und daß er eine Renten- oder Begehrensneurose entwickelt hat; er hing vielmehr an seinem Beruf, in dem er sich bewährt hatte und der ihm Freude machte.

Auch sonst ist die Zurechnung nicht eingeschränkt. Sie kann zwar in Extremfällen – insbesondere bei psychisch bedingten Schäden – dann ausgeschlossen sein, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig (eine Bagatelle) war und nicht gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten getroffen hat und wenn deshalb die psychische Reaktion im konkreten Fall, weil in einem groben Mißverhältnis zum Anlaß stehend, nicht mehr verständlich ist. Hier war schon der Zusammenstoß der vom Beklagten geführten Lok mit dem LKW keineswegs eine Bagatelle. Im übrigen kann selbst ein Bagatellereignis als Schadensauslöser ausnahmsweise dann zur Haftung führen, wenn es gerade eine spezielle Schadensanlage des Geschädigten trifft (vgl. BGH a.a.O.; BGHZ 137, 142 = NJW 98, 810 = r+s 98, 20 = VersR 98, 201; vgl. hierzu auch die Besprechung von v. Gerlach, DAR 98, 213; Müller, VersR 98, 129). Hier hatte der Unfall für den Kläger gerade deswegen so verheerende Folgen, weil die vorangegangenen Unfälle ihn in besonderem Maße verletzbar gemacht hatten, so daß der erneute Unfall – noch dazu an einer Stelle, an der bereits einmal ein Mensch unter seiner Beteiligung, wenn auch ohne sein Verschulden, zu Tode gekommen war – gewissermaßen „das Faß zum Überlaufen“ gebracht hat.

Letztlich entfällt die Zurechnung auch nicht etwa deshalb, weil über kurz oder lang die vom Kläger aufgebaute Bewältigungsstrategie ohnehin, d.h. auch ohne den Unfall vom 15.12.1994 zusammengebrochen wäre. Der Sachverständige A hat dazu überzeugend ausgeführt, daß keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Schäden aus den früheren Unfällen sich selbständig weiterentwickelt haben; es bedurfte vielmehr durchaus eines massiven Ereignisses aus dem selben Gefahrenbereich heraus, um den Zusammenbruch herbeizuführen. Ein anderes Ereignis – etwa im Straßenverkehr – hätte nicht ausgereicht.

3.

Die Höhe der geltend gemachten materiellen Schäden ist nicht im Streit, und das dem Kläger zuerkannte Schmerzensgeld ist angesichts seines erheblichen Leidenszustandes nicht übersetzt.

4.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 I, 708 Nr. 10, 713, 546 ZPO.


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